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Hamburger Antisemitismus-StudieRückzug aus der Öffentlichkeit

Wie sie Antisemitismus erleben, fragte eine Studie Hamburger Jüdinnen und Juden. Beruhigen kann das Ergebnis niemanden.

Müssen seit Oktober verstärkt mit Anfeindungen rechnen: In Hamburg zeigen jüdische Menschen immer seltener, dass sie welche sind Foto: Christian Charisius/dpa

Hamburg taz | Zahlen seien das Eine – es gehe aber um reale Menschen: Die Anmerkung des Hamburger Antisemitismusbeauftragten Stefan Hensel, den Blick nach draußen gerichtet, wo Kinder aus dem jüdischen Joseph-Carlebach-Bildungshaus spielten, hätte den ganzen Pressetermin am Montagmittag überschreiben können.

Im nüchternen Konferenzraum der Jüdischen Gemeinde sollte die Studie „Jüdisches Leben und Alltag in Hamburg“ vorgestellt werden. Die entsprechenden Daten seien „deutschlandweit erstmalig“ erhoben worden, attestierte die Hamburger Behörde für Wissenschaft und Gleichstellung der Studie, die sie Mitte 2023 in Auftrag gegeben hatte. Das Neuartige daran: Die (online erhältliche) Erhebung stützt sich auf diejenigen, die von Antisemitismus betroffen sind, also: dessen Opfer werden.

„Jüdische Perspektiven“

„Wir fokussieren jüdische Perspektiven“, so formulierte es am Montag Joachim Häfele von der Polizeiakademie Niedersachsen, der zusammen mit Eva Groß von der Polizeiakademie das Projekt leitet. Zur Präsentation von dessen „Kernpunkten“ traten beide vor die Presse, dazu Gleichstellungssenatorin und Zweite Bürger­meisterin Katharina Fegebank (Grüne), Polizeipräsident Falk Schnabel, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Philipp Stricharz, und, eben, der Antisemitismusbeauftragte Hensel.

Erfassen wollte man, was die jährliche Kriminalstatistik nicht abbildet: antisemitische Vorfälle also, die nicht die Schwelle zur Strafbarkeit überschreiten, oder solche, die das durchaus täten, aber nicht zur Anzeige gebracht werden; das Vertrauen der Befragten in diverse Institutionen, auch in die Polizei, war eines der Themen.

Auf Papier und online befragt wurden alle Mitglieder der Jüdischen Gemeinde über 16 Jahren, die ausdrücklich jüdische Nichtmitglieder auf die Möglichkeit der Teilnahme hinweisen durften. Von den 548 anonymen Teil­neh­me­r:in­nen deklarierten sich 84,5 Prozent als Gemeindemitglieder, und es nahmen etwas mehr Frauen als Männer teil. Zur besseren Einordnung: Die Zahl der über 16-jährigen Mitglieder gibt die Gemeinde selbst mit rund 1.200 an; insgesamt hat sie etwa 2.500 Mitglieder. Die Zahl der jüdischen Menschen in der Stadt insgesamt wird auf bis zu 10.000 geschätzt.

Drei Viertel berichten von Vorfällen

Mehr als drei Viertel der Befragten, 77 Prozent, gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten antisemitische Vorfälle erlebt zu haben. Mehr als je­de:r Zweite, 55 Prozent, berichten von „strafrechtlich relevanten antisemitischen Betroffenheiten“. Verbale und psychologische Angriffe inner- wie außerhalb des Internets werden dabei mit rund 55 Prozent angegeben, körperliche Übergriffe, Belästigung oder Verfolgung mit etwa 13 Prozent. Nur zwei Prozent sagten, sie fühlten sich heute sicherer als vor einem Jahr – aber 64 Prozent, dass sie sich weniger wohl fühlen.

Kaum überraschend: Wer Opfer solcher Vorfälle geworden ist, tut sich schwerer mit der Aussage, Judentum lasse sich in Hamburg frei ausüben. Das sagen 49 Prozent dieser Menschen; unter denjenigen, die „keine antisemitische Viktimisierung berichten“, sind es dagegen 89 Prozent. Die Stu­di­en­her­aus­ge­be­r:in­nen sprachen ausdrücklich von „identitätsbezogenem Vermeideverhalten“ als Folge antisemitischer Vorfälle: Die Menschen unterließen es dann etwa, sichtbar religiöse Symbole zu tragen oder ihr Judentum gegenüber anderen offenzulegen.

Grundrechte verletzt

Das gehe an die Grundrechte der Betroffenen, sagte der Gemeindevorsitzende Stricharz. Die Studie stelle auf stabilere Füße, was die Leitung der Gemeinde bereits unsystematisch gewusst habe: Zumal seit dem 7. Oktober führe antiisraelische Hetze zu einem Rückzug jüdischer Menschen.

Betroffenheit bekundete Senatorin Fegebank: Wenn Jüdinnen und Juden sich nicht mehr sicher fühlten und ihre „Identität aus Angst verstecken, dann sind wir als Staat und auch als Gesellschaft gefordert“. Wie genau? Senat und Bürgerschaft haben eine „Antisemitismusstrategie“ angekündigt, die demnächst vorgestellt werden soll.

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8 Kommentare

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  • Jede*r kann sich persönlich zu Offenheit und Demokratie positionieren!

    Dazu reicht weder innere Selbsttäuschung noch das Lesen der taz oder wohlfeiler Kommentare im Netz.

    Als Trans-Mensch kenne ich seit über einem Jahrzehnt Ausgrenzung, Diskriminierung und staatliche Gewalt.

    Hilfe leistet niemand. Trotz aller Sprüche, Regenbogenflaggen und CSD-Feiern.

    Dennoch trage ich offen den Davidstern.

    Jede*r könnte sich durch (zeitweises) Zeigen derartiger Symbole solidarisch zeigen.

    Danke.

  • Von wem kommen die meisten Angriffe?

    Dazu jemand, der es wissen muss, Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen und "Chefredakteur des Jahres 2023" in einem Interview:

    "Beim Alltagsjudenhass aber muss man, ohne zu generalisieren, feststellen: Es sind Islamisten, säkulare Muslime und Linksextreme, die uns massiv bedrohen, die uns das Leben zur Hölle machen."

    www.welt.de/politi...Hoelle-machen.html

    • @shantivanille:

      Das überrascht mich nicht.



      Antisemitismus ist in rechten Kreisen hinter Anti-Moslem-Stimmung zurückgetreten. Man inszeniert sich gerne als Beschützer der Juden, obwohl man unterschwellig noch genauso antisemitisch denkt und handelt, wie schon zu Adolfs Zeiten.



      Die Inszenierung reicht aber, um im Alltag weniger gefährlich zu erscheinen.



      Das soll natürlich keine Entschuldigung für die anderen sein. Menschen zu bedrohen, egal aus welchen Gründen, gehört nicht in eine freie Gesellschaft.

  • Jüdinnen und Juden müssen sich in Deutschland unsichtbar machen, wollen sie nicht Gefahr laufen, beleidigt, bedroht oder gar tätlich angegriffen zu werden.

    Das ist der Stand der Dinge 2024 in diesem Land.

    Immer mal wieder gibt es Umfragen und Studien, die das dann bestätigen.

    Gibt es einen Aufschrei? Nein, gibt es nicht. Auch das ist der Stand der Dinge und die bittere Wahrheit für jüdische Menschen.

    Die Kulturschickeria, sonst bei jedem gesellschaftlichen Missstand lautstark am Start, ist in tiefer Sorge über die Meinungsfreiheit der Feinde Israels und tut diese Sorge immer und immer wieder mit denselben Textbausteinen kund.

    Solidarität mit Juden? Fehlanzeige.

    Und der Rest? Schweigt.

    Was bleibt sind CDU, FDP, Grüne und, na ja, die SPD in halbwegs großen Teilen.

    Die Linke, Partei und sonst, steht auf der falschen Seite. Wie so oft.

    • @Jim Hawkins:

      Na ja, ist nur ein Teil der sog. Kunstszene. Der Teil, den man sonst vernachlässigen kann.

      Wie meinte schon Sartre?



      "Der Antisemitismus bildet eine Elite der Mittelmässigkeit, «l’élite des médiocres»."

      Und ein äußerst empfehlenswerter Artikel in der taz:

      "Vom Pogrom zur „Poetic Justice“

      taz.de/Abwege-des-...er-Kunst/!5971023/

  • "Zumal seit dem 7. Oktober führe antiisraelische Hetze zu einem Rückzug jüdischer Menschen."

    Was ja auch gewollt ist. Von wegen "Israelkritik ".

    „Der moderne Antisemit schlüpft in das Gewand des Antizionisten und stellt sich dumm.“



    Georg Hafner

    • @BrendanB:

      Der moderne Antisemit ist genauso dumm wie der alte Antisemit.

      Vielleicht noch dümmer.

      Moderne Antisemiten haben mehr Möglichkeiten ihren Antisemitismus zu reflektieren, sind aber scheinbar völlig lernunfähig.

      Sie brauchen ihre Projektionen.

      Wie meinte schon Sartre?

      «Si le juif n’existait pas, l’antisémite l’inventerait». Wenn es den Juden nicht gäbe, würde ihn der Antisemit erfinden.

      Der Antisemitismus ist also praktisch, weil er komplexe Probleme auf einen einfachen Nenner bringt. Dabei ist sich der Antisemit durchaus seiner eigenen Haltung bewusst, so Sartre. Der Antisemitismus bildet eine Elite der Mittelmässigkeit, «l’élite des médiocres».

      Da fällt mir doch gleich ein gewisser Teil der Kunst- oder auch Wissenschaftsszene ein.

      Und:



      "So lange ein Jude irgendwo auf der Welt um sein Leben fürchten muss, ist auch kein Europäer sicher."

      Danke, Herr Sartre.

      Kurzer, knapper, sehr guter Link:

      www.srf.ch/kultur/...ber-antisemitismus

      • @shantivanille:

        "So lange ein Jude irgendwo auf der Welt um sein Leben fürchten muss, ist auch kein Europäer sicher."



        Die Bedeutung solcher Sätze entsteht erst im Denken der LeserInnen. Spätestens seit Netanjahu Israel regiert, kann man denselben Satz auch als Drohung verstehen.