Reaktionen auf Sylt-Video: Was bringt die Aufregung?

Rechtspopulisten und Nazis soll und kann man nicht ignorieren. Aber moralische Dauerempörung führt bei ihnen leider selten zur moralischen Umkehr.

übermaltes Wahlplakat

…war mal ein Wahlplakat der Grünen, machen, was zählt Foto: imago

Es ist sinnlos, darüber zu streiten, ob Schnappatmung über ein paar Naziparolen grölende Deutsche auf der Insel Sylt angemessen ist oder nicht. Sinnvoll ist hingegen, zu klären, was die Aufregung bringt. Und wem sie etwas bringt.

Uns Medien bringt sie auf jeden Fall etwas, denn Aufregung ist unser Geschäftsmodell. Dem Einzelnen kann sie ein geiles Gut-Böse- oder ein deprimiertes „Alles immer schlimmer“-Gefühl geben. Kontraproduktiv wird es, wenn Linksliberale in einem Anfall von antiaufklärerischem Simpeldenken „die Reichen“ als Gruppe stigmatisieren, zu deren Gruppenidentität neben Fahren großer Autos und Tragen geschmackloser Pullover die Neigung zum Faschismus gehöre.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Das „Narrativ“ ist die „sinnstiftende Erzählung“ einer Gesellschaft oder Zeit, also wie wir die Welt wahrnehmen. In den schönen Nachkriegsjahrzehnten der Bundesrepublik war die Story, dass alles immer besser wird (was für sehr viele hier auch stimmte). Nun geraten wir mehr und mehr in ein „Krisennarrativ“ (Armin Nassehi). Angesichts der Entwicklungen naheliegend, doch die Frage ist auch hier, für wen diese Story sinnstiftend ist, dass alles immer schlimmer wird.

Illiberale Kräfte und Krisengefühl

Hilfreich ist sie für illiberale Kräfte, denen daran gelegen ist, Angst, Wut, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten, um die Verteidigungskraft der liberalen Demokratie zu schwächen. Wenn dann noch die Union und die Regierungspartei FDP rumheulen, wie schlimm alles sei („alles“ meint hier die Grünen), dann zahlt auch das für die Stärkung eines allgemeinen Krisengefühls ein.

Nun bringt es andererseits auch nichts, wie es der Zufallskanzler Olaf Scholz gern praktiziert, einfach so zu tun, als laufe doch alles prima, Füße schön auf dem Tisch lassen. Weil es eben doch nicht mehr so einfach weiterläuft, werden noch mehr Leute wütend.

Jetzt sagen manche, man müsse halt mit uns Leuten endlich „wie mit Erwachsenen“ reden, müsse offen sagen, dass es eben nicht mehr so weitergehen könne mit Rente, Bundeswehr und Gasheizungen. Bloß hat der Vizekanzler das ja im letzteren Fall probiert und ist von heterogenen, aber vereint wirkenden Kräften knallhart zurückgeschlagen worden. (Klassisches Wording: „Aber doch nicht sooo.“)

Kurzum: Wir hängen fest. Nach dem unwürdigen „Fortschritts“-Blabla der Ampel braucht es eine Koalitionsperspektive, die die Kraft, Kompetenz und Bereitschaft hat, eine Mehrheit für einen differenzierten Fortschrittsbegriff zu gewinnen, der statt Wegducken einen produktiven Umgang mit den veränderten Realitäten – planetarisch, geopolitisch, wirtschaftlich, militärisch – ermöglicht. Aber diese politische Perspektive gibt es nicht, die eine Mehrheit dazu bringt, vertrauensvoll zu sagen: Okay, so geht es nicht mehr weiter – aber anders!

Eskalierende Gesellschaftsbetrachtung

Diese fehlende Perspektive ist eine Grundlage dafür, dass die Mediengesellschaft sich mit Volldampf der Erweiterung des Krisennarrativs widmet und dieses über Polarisierungsgeschichten vorantreiben wird.

Freund-Feind, wir gegen die. Ich will überhaupt nicht darauf hinaus, dass man Rechtspopulisten und Nazis ignorieren sollte und kann, im Gegenteil, Justitiables muss knallhart bestraft werden. Aber darüber hinaus braucht es eine Methode, die wirklich funktioniert. Es war ja eben gerade auch dauermoralische Entrüstung der Liberalen, auf deren Grundlage Donald Trump Präsident wurde.

Der Spruch „Wer AfD wählt, ist ein Nazi“ und reflexhafte Nazifizierung von Andersdenkenden führt nicht zu deren moralischer Umkehr, sondern ist Brennstoff für eine eskalierende Gesellschaftsbetrachtung in den festen Identitäten Freund und Feind, aus der nichts Liberales, Emanzipatorisches, Friedliches folgen kann. Das Krisennarrativ und das Identitätennarrativ blockieren die Möglichkeit einer ordentlichen Zukunft.

Think about it.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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