Neue RBB-Literatursendung „Longreads“: Einfach mal locker bleiben
Jugendliche gucken statt Literatursendungen lieber Tiktoks über Bücher und alteingesessene Kritiker*innen sind sauer. Kann „Longreads“ vermitteln?
Sophie Passmann spaziert über ein Dach und spricht über Menschen, die Bücher in riesigen Regalen horten, nur damit auf Partys jemand zu ihnen sagt, dass sie genau dieses oder jenes Buch auch bald lesen werden – und natürlich hat niemand von ihnen jemals irgendwas gelesen.
„Longreads“, 3 Folgen abrufbar ab 26.3. in der ARD Mediathek
Diese Polemik ist im März 2023 der Beginn der Literatursendung „Studio Orange“, produziert vom RBB. Passman, Autorin von populären Sachbüchern über Feminismus, ist die Moderatorin. Sie begrüßt nach ihrem Monolog die beiden Gäste, die Schriftstellerin Helene Hegemann und den Schauspieler Dimitrij Schaad. Wein steht auf dem Tisch, sie reißt Witze.
Dann sagt sie einen Satz, den ihr viele übel nehmen werden: „Ich habe hier zwei Flaschen Wein – wenn einer von uns das Wort Intertextualität sagt, trinken wir die aus und gehen nach Hause […], weil dann haben wir alles nicht geschafft, was wir schaffen wollen, nämlich über Bücher reden, als wären wir normale Leute.“
Literaturkritik muss Literatur schon ernstnehmen
Normale Leute? Spielen die etwa mit Playmobil-Figuren Plots von Büchern nach, wie es im Laufe der Sendung passiert? „Studio Orange“ scheiterte auch deswegen, weil Passmann bei all dem Trara, bloß nicht elitär zu werden, vergaß, worum es eigentlich ging: Literatur. Eine Literatursendung, die Literatur nicht ernst nimmt, braucht es nun wirklich nicht. Nach drei Folgen war Schluss und es stellte sich die Frage: Ist ein junges öffentlich-rechtliches Literaturformat überhaupt möglich?
Es gibt ja schon „Druckfrisch“ (ARD) mit Denis Scheck und das „Literarische Quartett“ (ZDF) mit Thea Dorn, die beiden großen Dinosaurier im deutschen Fernsehen. Trotz der Onkelig- beziehungsweise Tantigkeit des Personals aus dem das Bürgertum nur so trieft, sind es doch hochwertig produzierte und immer wieder anregende Formate, die ihren Gegenstand würdigen anstatt sich in ironische Distanz zu ihm zu begeben.
Nur die Auswahl der besprochenen Bücher ist oft an die Lesegewohnheiten einer älteren Zielgruppe angepasst. Auch die Hybris von Literaturkritiker*innen im Fernsehen oder Radio kann sehr anstrengend sein.
Gerade erschien bei Deutschlandfunk Kultur ein Kommentar der Kritikerin Sigrid Löffler mit dem Titel „Warum die Literaturkritik in der Krise steckt“. Die Literaturkritik habe, sagt sie, an Autorität eingebüßt und unerwünschte Konkurrenz „in Form des allgegenwärtigen elektronischen Geschnatters“ bekommen. Löffler stört, dass „Amateure – Blogger, Influencer, selbstermächtigte Hobby-Kritiker –, die Welt mit ihren subjektiven Geschmacksurteilen über Bücher behelligen“.
Von oben herab
Das ist sie wahrscheinlich, die Von-oben-herab-Haltung, die Passmann aufregte. Löffler vergisst, dass es gerade im öffentlich-rechtlichen Radio täglich unzählige Buchrezensionen auf hohem Niveau gibt, aber keine Vermittlungsversuche für ein jüngeres Publikum. Das geht lieber zu Tiktok.
Dass es durch BookTok gerade einen neuen Literaturhype unter jungen Erwachsenen und Jugendlichen gibt, an den sich auch Verlage anpassen, sparen diese Kritiker*innen weitestgehend aus. Wahrscheinlich auch deswegen, weil es sich bei Büchern, die durch TikTok populär werden und dort von Leser*innen diskutiert werden, meistens um Genre-Literatur wie Fantasy handelt. Die wird traditionell von der Literaturkritik kaum thematisiert, weil sie als anspruchslos galt. Oft stimmt das vermutlich sogar.
Aber: Durch den neuen Bücher-Hype auf Social Media reifen eben auch Hunderttausende neue Leser*innen heran, von denen einige früher oder später über den Tellerand schauen wollen. Und die galt es, auch im Sinne des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags, abzuholen. Doch sogar das Instagram-Format „Stories“ vom öffentlich-rechtlichen Jugendnetzwerk funk, das den Versuch wagte, Literaturkritik in verknappte Videos zu packen, also einen Mittelweg zwischen Löffler und TikTok ging, wurde 2019 schnell wieder eingestellt. Ist die Situation also ausweglos?
Helene Hegemann steht mit dem Autor und Investigativjournalisten Thilo Mischke in der Buchhandlung seiner Eltern und spricht über das Kinderbuch „Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt“. Es ist eine der ersten Szenen der ersten Folge von „Longreads“, einer neuen, vom RBB produzierten Literatursendung. Hegemann will hier mit jeweils einem Gast über Bücher sprechen, „ganz egal, was für welche, Hauptsache, sie sind gut und handeln von einem Thema, das uns irgendwie beschäftigt“, wie sie es formuliert.
Sprechposition nicht überhöhen
Die erste Folge lebt dabei von der Unmittelbarkeit der Dialoge und Szenen und ihrer dynamischen Ortswechsel. Die Aufmachung erinnert an Artes legendäre „Durch die Nacht mit …“-Serie. Der Sound ist durchdacht, das Setting entschleunigt, was auch daran liegt, dass Hegemann sich nicht zu sehr in den Vordergrund drängt. Sie hält die Gespräche am Laufen und fungiert als Stichwortgeberin, wie auch die besprochenen Bücher selbst.
Die große Leistung bei „Longreads“ ist es, Literatur ernst zu nehmen, aber die eigene Sprechposition dabei nicht zu überhöhen und dadurch nie ins didaktische abzudriften. Die Sendung lässt Raum für große Themen, vom Gespräch über das Erstarken der AFD in Ostdeutschland mit Mischke bis hin zum Holocaust mit Samira El Ouassil, dem Gast der zweiten Folge, die die Graphic Novel „Maus“ mitbrachte. Darin wird die Lebensgeschichte des polnischen Juden Wladek Spiegelman verarbeitet.
Natürlich geht es bei „Longreads“ oft auch um Geschmack und um Emotionen. Wenn Thilo Mischke davon erzählt, dass er bei einer Szene von Emmanuel Carrères „V13: Die Terroranschläge in Paris“ fast weinen musste, dann ist das zwar jene Subjektivität, die Sigrid Löffler so stört, aber im Verlauf des Gesprächs wird klar, warum Mischke das Buch tatsächlich mag. Der subjektive Zugang funktioniert hier nur als Einstiegshilfe.
„Longreads“ wiederum könnte eine Einstiegshilfe für junge Menschen sein, die merken, wie spannend Lesen und die anschließende Diskussion über Bücher sein kann. Und dass Begriffe wie Intertextualität in solchen Diskussionen ziemlich hilfreich sein können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“