„Hartz IV-Rebellin“ zurück in der Linken: „Klassenfrage muss im Fokus stehen“

Inge Hannemann wurde als Hartz IV-Kritikerin bekannt und verließ die Linke, weil die Partei die soziale Frage vernachlässigte. Jetzt ist sie zurück.

Portrait Inge Hannemann

Inge Hannemann, hier auf einer Podiumsdiskussion über das Grundeinkommen 2018 in Flensburg Foto: Willi Schewski/imago

taz: Frau Hannemann, jetzt in die Linke einzutreten, ist, wie ein sinkendes Schiff zu betreten. Warum tun Sie es dennoch?

Inge Hannemann: Ich habe mir das gut überlegt, ich bin nicht die Person für einen Schnellschuss. Ich habe in den letzten drei Jahren im Hintergrund mit der Linken zusammengearbeitet, auch mit der Bundestagsfraktion. Jetzt habe ich mich entschieden, die Linke mit meiner Person in der Öffentlichkeit zu unterstützen. Gerade in Zeiten einer starken Rechten brauchen wir eine starke Linke.

Das klingt, als könnten Sie sich vorstellen, wieder ein Amt zu übernehmen oder als Abgeordnete zu kandidieren.

Das lassen wir alles mal offen. Erst mal bin ich wieder da. Ich werde sehen, welche Aufgaben die Linke, auch der Kreisverband, für mich bereithält.

Sie sind 2020 ausgetreten, weil die Linke die Klassenfrage über die Identitätspolitik vernachlässigt habe. Warum sind Sie nicht ins Bündnis Sahra Wagenknecht eingetreten?

Wagenknecht geht ihren Weg, ich meinen. Linke Politik kann nicht agieren, ohne die Klassenfrage zu stellen. Aber die Frage ist: Wie stelle ich die Klassenfrage. Mit der sozialen Frage zusammen? Das sehe ich bei der Linken, nicht bei Sahra Wagenknecht.

Haben Sie ein Beispiel?

Etwa bei der Klimafrage. Wir müssen Ökologie immer mit dem Sozialen verbinden. Wenn Wohnungen energetisch saniert werden, muss geklärt sein, dass die Kosten nicht auf die Mieter umgewälzt werden. Das bedeutet, die soziale Frage zu stellen. Wenn ich aber nur gegen Wärmepumpen oder energetische Sanierungen wettere, tue ich das nicht.

Haben sich die Gründe für Ihren Austritt im Jahr 2020 denn mittlerweile erledigt?

Nein, ich trete ja auch nicht hoch jubelnd wieder ein, jedoch mit der Überzeugung, für eine starke Linke zu kämpfen. Die Linke ist die einzige Partei, die die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt. Sie könnte das gern noch entschiedener tun.

Legt die Linke Ihrer Ansicht nach den Fokus noch zu stark auf das Gendern oder diskriminierte Minderheiten?

Grundsätzlich ist Identitätspolitik schon wichtig. Wir müssen auch darüber sprechen, die Frage ist nur, wie. Führen wir eine offene Debatte und hören einander zu, ohne uns gegenseitig abzuwerten? Das hat die Linke inzwischen gut verstanden und richtet sich an die, die sich von der Politik nicht gehört fühlen.

Also auf die Personengruppen, derer Anliegen Sie besonders vertreten: Erwerbslose und Geringverdiener*innen?

Ich würde den Fokus nicht nur auf Erwerbslose und Ge­ring­ver­die­ne­r setzen. Unzufriedenheit und Armutsängste gehen bis in die Mittelschicht.

Was deutet für Sie darauf hin, dass die Linke es schafft, diesen Ängsten ein gutes Angebot entgegenzusetzen?

55, hat in Hamburg im Jobcenter gearbeitet, bis sie als Hartz-IV-Kritikerin bekannt wurde. 2015 ging sie als Linken-Abgeordnete in die Bürgerschaft, 2017 legte sie ihr Mandat wegen inhaltlicher Differenzen nieder. Am 26. Oktober 2023 kam sie zurück in die Partei. Mittlerweile wohnt sie in Niedersachsen.

Die Bundestagsfraktion hat viele Anträge und Anfragen zu sozialen Themen gestellt. Dass die in den Medien selten thematisiert werden, ist nicht ihre Schuld, sondern liegt an der Personalie Wagenknecht. Die Partei hat sich aber stark bei Bewegungen engagiert, zum Beispiel bei #Ichbinarmutsbetroffen und „Genug ist genug“. Sie hat inzwischen begriffen, dass warme Worte nicht reichen, und setzt das um.

Was muss die Linke tun, um damit wieder mehr durchzudringen?

Auf jeden Fall immer die Klassenfrage in den Fokus stellen – da bleibe ich stur, sonst wäre ich nicht Inge Hannemann. Man muss immer fragen: Wen wollen wir erreichen? Früher, mit der Agenda 2010, waren das die Erwerbslosen. Das hat sich gewandelt, weil die Gesellschaft sich gewandelt hat. Das Alleinstellungsmerkmal der Linken ist, dass wir als einzige die soziale Gerechtigkeit in den Fokus stellen. Wir müssen alle Menschen ins Boot holen, damit niemand in Armut leben muss – weder in der Rente noch im Sozialleistungsbezug oder im Niedriglohnjob.

Sie wurden ja als Hartz IV-Rebellin bekannt. Jetzt gibt es Hartz IV nicht mehr, sondern Bürgergeld. Hat sich die Lage entspannt?

Nicht wirklich. Die versprochene Entbürokratisierung ist nicht eingetreten. Die Mär, dass Menschen ihre Jobs kündigen, um von Sozialleistungen zu leben, hält sich außerdem hartnäckig. Vor allem die CDU scheint das zu glauben, sie kritisiert die geplante Erhöhung um zwölf Prozent auf 563 Euro für Alleinstehende. Dabei ist das natürlich Quatsch. Selbst wer für Mindestlohn arbeitet, hat mehr Geld zur Verfügung als im Bürgergeldbezug, weil er dann noch Anspruch auf Wohngeld und gegebenenfalls Kinderzuschlag hat. Beim Bürgergeld schließt sich das aus.

Es sind schwierige Zeiten für eine Friedenspartei. Muss die Linke immer gegen Waffenlieferungen sein, oder kann sie situativ anders entscheiden?

Ich bin gegen Waffenlieferungen. Aber die Weltlage ist sehr schwierig. Man muss auch sehen, dass wir mit Putin einen Gegner haben, mit dem man nicht reden kann. Aber die Linke hat in diesem Punkt eine klare Position: Wir fordern Waffenstillstand und ernsthafte Friedensverhandlungen, statt immer mehr Waffen in die Ukraine zu liefern.

Wie kann die Linke es schaffen, dem Höhenflug der AfD etwas entgegensetzen?

Gegen die AfD hilft, sich ganz klar zu positionieren. Also zu sagen, was sie ist, nämlich rechtsextrem. Wir brauchen auch mehr Aufklärung. Wer das AfD-Programm liest, sieht, dass es sich gegen jede soziale Maßnahme richtet und soziale Rechte total einschränkt.

Glauben Sie, die Menschen wählen aus Unwissenheit die AfD?

Ich denke, dass sie das Wahlprogramm nicht lesen. Ich glaube nicht, dass die Menschen nur aus Protest rechts wählen, aber sie fallen auf den billigen Populismus herein. Die AfD kommt mit Halbwahrheiten daher und stellt steile Thesen auf und wiederholt diese wie in der Werbung. Wenn man es oft hört, kauft man das Produkt irgendwann.

Hat es nicht auch damit zu tun, dass viele einfach wirklich gegen Flüchtlinge sind?

Das Flüchtlingsthema spielt eine große Rolle, auch weil es die berechtigte Angst gibt, dass noch mehr Menschen um die wenigen bezahlbaren Wohnungen konkurrieren. Das ist natürlich nicht den Geflüchteten geschuldet, sondern dem Problem, dass wir zu wenig bezahlbaren Wohnraum haben. Auch nehmen Geflüchtete niemandem den Arbeitsplatz weg, weil sie ja erst mal gar nicht arbeiten dürfen, sondern dazu verdonnert sind, von Asylbewerberleistungen zu leben. Aber die AfD schürt diese Ängste. Da muss ebenso mehr Aufklärung her.

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