Studie der Böckler-Stiftung: Armut gefährdet die Demokratie

In den vergangenen Jahren nahm der Abstand zwischen Arm und Reich in Deutschland zu, so die Böckler-Siftung. Das setze die Gesellschaft unter Druck.

Eine Geldbörse mit wenigen Cent-Stücken drin

Nur Kleingeld im Portmonee: Die Armut in Deutschland nahm zuletzt wieder zu Foto: Ralf Homburg/imago

BERLIN taz | Die Armut in Deutschland hat seit 2019 zugenommen, ist jüngst aber auch wieder etwas gesunken. Diese Befunde zur sozialen Entwicklung stehen im neuen Verteilungsbericht, den die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung am Donnerstag veröffentlichte. „Die Gesellschaft steht unter Druck“, sagte Bettina Kohlrausch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI), das zur Stiftung gehört.

Die Untersuchung betrifft die Jahre der Corona-Pandemie und des russischen Krieges gegen die Ukraine. Während 2019 noch 15,9 Prozent der Bürgerinnen und Bürger arm waren, stieg ihr Anteil an der Bevölkerung bis 2021 auf 16,9 Prozent. 2022 sank er jedoch auf 16,7 Prozent. Als arm gelten dabei Personen, deren „bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt“. In einem Single-Haushalt liegt diese Grenze um die 1.100 Euro monatlich.

Der Gini-Koeffizient zeigt ein ähnliches Bild. Je höher die Zahl steigt, desto größer ist der Einkommensunterschied zwischen den ärmsten und reichsten Bevölkerungsgruppen. Zwischen 2010 und 2019 betrug der Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen 0,29. Ab 2020 ist er dann auf 0,3 gewachsen.

Allerdings beruhen diese Angaben auf Daten des Mikrozensus, die für 2022 erst vorläufig sind. Außerdem gab es zwischen 2019 und 2020 einen Wechsel der Erhebungsmethode, der die Vergleichbarkeit einschränkt. Verteilungsexperte Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung bestätigte diese Tendenz.

Große Ungleichheit mache Demokratie „porös“

Dass während der Corona-Zeit die Armut zunahm, dürfte mit Einkommensverlusten zusammenhängen, die viele Beschäftigte und Selbstständige beispielsweise durch Geschäftsschließungen erlitten. Positiv machten sich dagegen etwa die staatlichen Zuschüsse zu den Energiekosten für ärmere Familien bemerkbar, die der Bundestag 2022 beschloss. Diese könnten dazu beigetragen haben, die Armutsquote 2022 zu senken, vermutete WSI-Studienautorin Dorothee Spannagel.

Auch für die möglichen Folgen dieser Entwicklung interessiert sich die Stiftung. So sind im Verteilungsbericht Grafiken zu finden, die das tägliche Leben beschreiben. Beispielsweise haben gut 24 Prozent der dauerhaft armen Personen den Eindruck, man blicke auf sie herab. Und etwa die Hälfte der armen Bürgerinnen und Bürger hat kein Vertrauen in Bundestag, Politiker und Parteien. Große und zunehmende Ungerechtigkeit und Ungleichheit können also dazu führen, die Demokratie „porös“ zu machen und das Potenzial für Extremismus zu erhöhen, schlussfolgerte Kohlrausch.

Sozialpolitik als Mittel gegen Populisten

Um diesen Prozess zu verlangsamen, anzuhalten, oder im besten Fall umzukehren, fordert die Stiftung bessere staatliche Leistungen unter anderem für Beziehende der Grundsicherung. Außerdem solle die Politik mehr Maßnahmen dafür ergreifen, dass Beschäftigte von ihrer Arbeit vernünftig leben können. Hier kann beispielsweise eine Rolle spielen, dass Privatunternehmen, die staatliche Aufträge erledigen, Tariflöhne zahlen. Dies ließe sich in wirksamen Tariftreuegesetzen regeln, die es bisher nicht in allen Bundesländern gibt.

Schließlich müssten Reiche mehr Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften zahlen. Kohlrausch: „Das wären wesentliche Ansätze, um die Gesellschaft zusammen- und funktionsfähig zu halten, gerade in Zeiten großer Veränderungen und der Herausforderung durch Populisten.“

Bis 2019 erlebte Deutschland allerdings eine Phase, in der die Ungleichheit nicht mehr weiter zunahm. Der Gini-Koeefizient bewegte sich damals kaum, und auch die Armut nahm ab 2015 nicht wesentlich zu. Das lag unter anderem an wirksamer staatlicher Intervention: So wurde der gesetzliche Mindestlohn eingeführt, von dem Millionen Beschäftigte mit niedrigen Verdiensten profitierten. Außerdem war die Wirtschaftslage gut, und die Zahl der Arbeitsplätze stieg permanent an, was ebenfalls zu höheren Löhnen führte.

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