Deutschland trägt Mitschuld: Der hingenommene Genozid

Das armenische Bergkarabach wird von der Welt abgeschnitten, die Bevölkerung ausgehungert. Das gasreiche Aserbaidschan ist dem Westen wichtiger.

Ein Krankenwagen steht vor einem Haus.

Stepanakert, Aserbaidschan: Das Rote Kreuz steht bereit Foto: dpa

Es ist ein Déjà-vu: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht das armenische Volk an der Schwelle zur Vernichtung. 1,5 Millionen Menschen werden 1915/16 aus dem Osmanischen Reich deportiert, ausgehungert und ermordet, weil sie Christen, weil sie ethnische Ar­me­nie­r:in­nen sind. Es ist eine geplante und systematisch durchgeführte Aktion des nationalistischen Regimes der in Europa sogenannten Jungtürken – ein Völkermord.

Heute stehen wieder Ar­me­nie­r:in­nen vor dem Hungertod, rund 120.000 Be­woh­ne­r:in­nen von Bergkarabach/Arzach. Mit der Absicht, sie in letzter Konsequenz auszulöschen, sind sie auf Betreiben Aserbaidschans seit Monaten von der Außenwelt und damit auch von Armenien abgeschnitten. Diese völkermörderische Situation konnte entstehen, weil die internationale Gemeinschaft – wie auch schon im Ersten Weltkrieg – nicht hinsieht. Auch die Bundesregierung trägt, wie 1915/16 das Deutsche Reich, Mitverantwortung.

Im Herbst 2020 greift Aserbaidschan im Zweiten Karabach-Krieg völkerrechtswidrig die Region Bergkarabach an. Josef Stalin hatte sie im Juli 1921 auf Drängen Bakus hin an Sowjetaserbaidschan abgetreten, das anderenfalls mit Konterrevolution drohte. Beim Zerfall der UdSSR 70 Jahre später spaltet sich das bis dahin autonome Gebiet von Sowjetaserbaidschan ab.

Im Ersten Karabach-Krieg versucht Aserbaidschan erfolglos, dieses mehrheitlich von Ar­me­nie­r:in­nen bewohnte Gebiet wieder unter Kontrolle zu bringen. Dieses bleibt de facto fast 30 Jahre eine unabhängige Minirepublik, die international nicht anerkannt ist. Der 44-tägige „Herbstkrieg“ von 2020, in dem sich die Türkei an der Seite Bakus positioniert und Aserbaidschan mit Bayraktar-Drohnen versorgt, endet mit einem von Russland vermittelten Waffenstillstand. Die Vereinbarung sieht unter anderem vor, dass die einzige Landverbindung zwischen Arzach und Armenien, der Latschin-Korridor, von russischen Friedenstruppen gesichert wird.

Von seinem Teilsieg will nicht nur Aserbaidschan, sondern auch die Europäische Union profitieren. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fliegt 2022 nach Baku, um eine Absichtserklärung mit Aserbaidschan zu unterzeichnen. Damit will die EU wegen der Energiekrise den südlichen Gaskorridor erweitern.

Seit acht Monaten blockiert Baku nun den Latschin-Korridor mit dem Ziel, die Karabach-Armenier:innen dazu zu zwingen, sich bedingungslos zu unterwerfen, auszuwandern oder eben zu verhungern.

Rhetorisch

So als ob es diese sich anbahnende Katastrophe nicht gäbe, empfängt Olaf Scholz Aserbaidschans autokratischen Staatspräsidenten Ilham Alijew im März 2023 in Berlin. Das Fazit des Kanzlers: Aserbaidschan sei für Deutschland und die EU ein Partner von wachsender Bedeutung. Das Land habe das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Diversifizierung der deutschen und europäischen Energieversorgung zu leisten. Na bitte, passt doch. Wiegen für die Bundesregierung wirtschaftliche Interessen schwerer als ein zweiter Genozid an ethischen Armenier:innen? Die Frage ist rhetorisch.

Rückschau: Die Eisenbahn von Berlin nach Bagdad soll den deutschen Traum vom Orient verwirklichen und den Weg zur Weltmacht ebnen. Armenische Männer müssen auf den Baustellen der Bagdad-Bahn bis zur totalen Erschöpfung schuften. Wer sich widersetzt, wird erschossen. Später dient die in Zwangsarbeit errichtete Bahnstrecke dazu, die verbliebene armenische Bevölkerung aus ihren angestammten Siedlungsgebieten in die syrischen Wüsten zu deportieren. Dort geht sie jämmerlich zugrunde.

Deutsche Missionare und Diplomaten wollen die Vernichtung der Ar­me­nie­r:in­nen stoppen und fordern Reichskanzler Bethmann Hollweg auf, der jungtürkischen Regierung mit Sanktionen zu drohen. Unter dem Beifall der Militärs lehnt Hollweg eine deutsche Intervention kategorisch ab. Je länger der Krieg dauere, so sein Argument, desto mehr werde man die Türken brauchen, „auch wenn darüber Armenier zugrunde gehen“.

Freigeben!

Heute sind es zahlreiche Menschenrechts­organisationen sowie Organisationen von Genozidforscher:innen, die Alarm schlagen. Bereits zweimal hat der Internationale Gerichtshof angeordnet, Aserbaidschan müsse den Korridor umgehend freigeben. Auch Luis Moreno Ocampo, Ex-Chefankläger des Internationalen Straf­gerichtshofs, sieht die Kriterien eines ­Genozids erfüllt. Ohne sofortige und tiefgreifende Veränderungen würden die Ar­me­nie­r:in­nen in Berg­karabach binnen weniger Wochen sterben. Auch das Lemkin-Institut verweist auf die Mitverantwortung der internationalen Staatengemeinschaft.

Nimmt die Bundesregierung wirklich einen Genozid an Ar­me­nie­r:in­nen in Kauf? Die Journalistin Jenny Günther hakt auf der Bundespressekonferenz in der vergangenen Woche nach. In seiner Antwort benutzt Regierungssprecher Steffen Hebestreit die Begriffe „Kampfbegriff“ und „Propaganda“. Es ist dieselbe aggressive Rhetorik wie die Aserbaidschans.

Erst 2016 erkennt der Deutsche Bundestag den Völkermord an den Ar­me­nie­r:in­nen im Osmanischen Reich als solchen nebst der deutschen Mitverantwortung an. Nur zwei Monate später versucht Berlin die aufgebrachte Türkei mit dem Hinweis zu beruhigen, die entsprechende Resolution sei nicht „rechtsverbindlich“.

Ein Blick auf die nackten Zahlen: Tausende von deutschen Abgeordneten in Dutzenden Legislaturperioden haben immer wieder weggeschaut, weil Ankara geliefert hat. Auch Baku ist nicht untätig gewesen: Dollar-Summen in horrender Höhe sind schon in den Taschen deutscher Lob­by­is­t:in­nen und korrupter Po­li­ti­ke­r:in­nen gelandet und tun es noch. Jetzt wird Gas aus Baku nach Europa strömen – Genozid hin oder her. Willkommen in der Realpolitik.

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Jahrgang 1984. Er hat in Jerewan, Mainz und Berlin Orientalistik; Geschichts- und Kulturwissenschaften studiert und in Berlin über Integration, Migration und Medienwahrnehmung promoviert. Er schreibt vor allem für die taz, ZEIT-ONLINE und für das Journal von Amnesty International. Er ist als Reporter in Osteuropa unterwegs und leitet die Osteuropa-Projekte der taz Panter Stiftung. Herausgeber des Buches "Krieg und Frieden. Ein Tagebuch" (September 2022).

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