EU-Abgeordneter über Asylrecht: „Ich will eine bessere Asylpolitik“

Der Grüne Erik Marquardt kämpft für eine humane Asylpolitik. Ein Gespräch über die drohende Verschärfung des Asylrechts und grüne Kompromisse.

Personen vor dem Gebäude des Bundestags halten einen Regenschirm mit der Aufschrift "R.I.P. ASYL"

Protest gegen die europäische Asylrechtsreform Anfang Juni vor dem Bundestag in Berlin Foto: Stefan Boness/Ipon

Erik Marquardt ist müde. Er habe in den vergangenen Wochen wenig geschlafen, sagt er am Telefon. Marquardt sitzt für die Grünen im Europaparlament, seine Schwerpunkte sind Flucht, Migration und Menschenrechte, er war selbst als Seenotretter aktiv. Den Beschluss zur europäischen Asylpolitik, den SPD-Innenministerin Nancy Faeser als „historisch“ bezeichnet und die grüne Außenministerin Annalena Baerbock mit abgesegnet hat, hält er für „einen Fehler“: „Es gab einen Durchmarsch rechter Positionen“, schrieb er auf Twitter und kritisierte die Vereinbarung scharf. Marquardt hofft, dass die Asylrechtsverschärfung noch im weiteren Prozess verhindert werden kann. Trotzdem hat er auf dem kleinen Parteitag der Grünen, dem Länderrat, einen Kompromiss mitgetragen, der die Asylrechtsverschärfung zwar kritisiert, aber die grünen Minister nicht auf eine Ablehnung festlegt.

wochentaz: Herr Marquardt, Sie halten die Zustimmung der Bundesregierung zur Einigung beim gemeinsamen europäischen Asylrecht, kurz GEAS, für einen Fehler. Aber als es beim kleinen Parteitag der Grünen, dem Länderrat, um Konsequenzen ging, haben Sie einem wachsweichen Papier zugestimmt. Was ist passiert?

Erik Marquardt: Es ging auf dem Länderrat nicht darum, Personen nach Canossa zu schicken. Sondern zu schauen, wie wir verhindern können, dass die EU sich auf eine Reform einigt, die noch mehr Chaos und Leid erzeugt. Ich würde deswegen nicht sagen, dass dieses Papier wachsweich ist.

geboren 1987 in Neubrandenburg, war Seenotretter im Mittelmeer und sitzt seit 2019 für die Grünen im Europäischen Parlament

Sondern?

Es gibt keine Aufweichung der grünen Positionierung. Wir haben festgehalten, dass wir die Asylrechtsverschärfungen falsch finden und dass wir als Grüne bei dieser Reform statt verpflichtender Grenzverfahren mehr Verbindlichkeit bei einer fairen Verteilung wollen. Einige öffentlich sehr unterbeleuchtete Punkte haben wir kritisch benannt, zum Beispiel, dass nicht nur Menschen mit geringen Anerkennungsquoten in Grenzverfahren kommen können. Sichere Drittstaatskonzepte sollen ja massiv ausgeweitet werden, das kann dazu führen, dass ein Großteil der Schutzsuchenden kaum noch Zugang zu Schutz in Europa hat. Man würde die Asylanträge nicht mehr inhaltlich prüfen, sondern als unzulässig ablehnen, weil die Menschen über einen sicheren Drittstaat nach Europa gekommen sind. Das trifft dann auch Menschen aus Syrien oder Afghanistan – unabhängig von der Anerkennungsquote. In der öffentlichen Diskussion wurde so getan, als würde sie das gar nicht treffen. Sie wären aber die Hauptbetroffenen.

Die Position der Partei hat die grüne Spitze nicht davon abgehalten, der Einigung auf EU-Ebene zuzustimmen. Und der Beschluss des Länderrats zieht keine roten Linien für die nächste Abstimmung ein. Wenn Sie die Asylrechtsverschärfung verhindern wollen, hätte es dann nicht roter Linien bedurft?

Wir haben sehr lange um diesen Text gerungen und ja, es stimmt: Eine Checkliste oder ähnliches gibt es nicht. Das ist vielleicht schwer nachvollziehbar, aber die Voraussetzung für richtige Entscheidungen ist auch, dass wir zum Beispiel stärker hinterfragen, warum die Postfaschistin Meloni dem Kompromiss zugestimmt hat – und nicht so sehr, welche drei Punkte wir auf jeden Fall ändern wollen. Mit roten Linien hätten wir denjenigen einen Gefallen getan, die sagen wollten, dass die Führung Rückhalt verloren hat und dass die Grünen naiv sind und sich pragmatischen Lösungen verweigern. Aber die Reform, die der Rat will, macht nichts besser, sondern verschlimmert die Lage, das ist auch einhellige ­Meinung in der Migrationswissenschaft. Mir war wichtig, dass wir über diese Inhalte reden und nicht über Personen.

Annalena Baerbock hat in ihrer Rede die Einigung verteidigt und gesagt, dass es aus ihrer Sicht mehr Argumente dafür als dagegen gibt – 51 zu 49 Prozent. Warum sollte das bei der nächsten Abstimmung anders sein?

Das Thema ist für die Partei identitär. Die Hälfte der Mitglieder ist seit 2016 beigetreten, viele von ihnen, weil sie für eine funktionierende, humane Asylpolitik kämpfen. Das Vertrauen in die Führung ist weiterhin da, obwohl es Kritik an der Entscheidung gibt. Aber viele erwarten jetzt, dass in Zukunft bessere Entscheidungen getroffen werden. Und bei der EU-Asylreform müssen noch viele Entscheidungen getroffen werden.

Viele, die sich für eine menschenwürdige Asyl- und Geflüchtetenpolitik einsetzen, sind entsetzt. Ihre Deutung: Die Grünen legalisieren Lager an den Außengrenzen und unterstützen eine Ausweitung des Drittstaatensystems. Pro Asyl hat beim Länderrat vor der Tür demonstriert. Viele dieser Ak­ti­vis­t*in­nen haben große Hoffnungen in Politiker wie Sie gesetzt. „Ich habe an diesen Mann geglaubt. Seht euch das an“, hat die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız mit einem Verweis auf Ihre Rede auf dem Länderrat getwittert. Und jemand von der See­notrettung schreibt: „Ihr habt die Menschen verraten.“ Was sagen Sie dazu?

Ich verstehe das Bedürfnis, uns zu kritisieren. Meine Rede war aber an diejenigen in der Partei und außerhalb gerichtet, die uns dafür kritisiert haben, dass wir die Entscheidung und die Argumente dafür hinterfragen. Dass ich die Entscheidung ablehne, wusste jeder im Raum. Wenn man Entscheidungen kritisiert, gibt es den Reflex, nicht nach den inhaltlichen Argumenten zu fragen, sondern darauf zu verweisen, dass man Regierungsentscheidungen nicht öffentlich zu kritisieren hat. Ich habe gesagt, dass wir den Mut zum Zweifel brauchen. Ich meinte nicht den Mut, die Menschenrechte anzuzweifeln, sondern solche Entscheidungen.

Für viele wirkten Sie so, als habe die Grünen-Spitze Sie auf Linie gebracht.

Und andere sehen es so, dass wir die Befürworter der Entscheidung überzeugt haben.

Auf die bin ich noch nicht getroffen. In Ihren ersten Tweets nach der Ratsentscheidung hörten Sie sich nicht so kompromissbereit an. Da haben Sie sogar geschrieben, dass Sie über ­persönliche Konsequenzen nachdenken.

Wir werden sehen, wer Recht hat. Bei dem Tweet ging es nicht darum, ob ich von meinen Posten zurücktrete oder aus der Partei austrete – ich mein’, wo soll ich denn hin? Ich will eine bessere Asylpolitik, die bekomme ich ja nicht, wenn ich mich mit einem Aperol in den Garten setze. Wir müssen geschlossen und auch über Parteigrenzen hinweg weiter kämpfen. Natürlich habe ich sehr damit gerungen, wie ich mich auf dem Länderrat verhalte. Aber zu behaupten, Annalena Baerbock ist doof – das ist nicht meine Meinung und das führt ja nicht dazu, dass wir das Leid an den Außengrenzen beenden.

Aber die Debatte ist doch nicht, ob Annalena Baerbock doof ist. Die Kritik von denen, die eigentlich Ihre Verbündeten sind, ist, dass die Grünen die Menschenrechte von Geflüchteten verraten.

„Wir müssen um diese Mehrheiten kämpfen. Das schaffen wir nicht mit einer entzweiten Partei“

Ja, wir haben in dieser Debatte viel Glaubwürdigkeit verloren. Viele Menschen, die sich für Geflüchtetenrechte einsetzen und vor Ort engagieren, haben das Gefühl, dass sie keine politische Heimat mehr haben. Das ist ein politischer Schaden, den man nur schwer wiedergutmachen kann. Aber das ist jetzt unsere Aufgabe.

Was heißt das für Sie, dass Sie mitmachen?

Ich mache nicht mit. Ich kämpfe gegen diese Verschärfungen. Aber natürlich wäre es für mich einfacher, wenn ich bei einer NGO mit der Dampfwalze sagen könnte, wie schlimm die Grünen sind. Aber ich habe auch Verantwortung dafür, wie die Grünen sind. Was nützen Minderheitenrechte, wenn wir sie am Ende nicht gegen die Mehrheit verteidigen können? Wir müssen um diese Mehrheiten kämpfen. Und das schaffen wir nicht mit einer entzweiten Partei.

Und deshalb winken Sie letztlich etwas durch, was gegen Ihre Überzeugung ist?

Der Beschluss des Länderrats ist nicht gegen meine Überzeugung.

Niemand geht davon aus, dass am Ende des Trilogverfahrens, also der weiteren Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Parlament, eine grundsätzlich bessere Lösung steht.

Wenn das das Ergebnis ist, muss man es ablehnen. Die Positionen von Rat und EU-Parlament unterscheiden sich aber stark. Außerdem wird die spanische Ratspräsidentschaft im nächsten halben Jahr gelähmt sein durch die Neuwahlen. Dann folgen schon fast Ungarn und Polen. Wahrscheinlich gibt es keine Einigung vor der nächsten Bundestagswahl. Wenn man es ernst meint mit Verbesserungen, ist ohnehin die einzige Chance, das Gesamtpaket aufzuschnüren und kleine, sinnvolle Schritte zu gehen, statt diesen Großangriff auf das Asylrecht nur etwas weniger schlimm zu machen.

Haben Sie sich in den vergangenen Wochen manchmal gewünscht, dass die Grünen nicht in der Regierung wären? Dann wäre Pro Asyl an Ihrer Seite und nicht als Demo vor der Tür.

Na klar ist es leichter, nicht zu regieren und mit sich im Reinen zu sein. Aber wir machen ja Politik, um was zu verändern. Es gibt so viele Ideen, wie eine bessere Asylpolitik möglich wäre. Aber in dieser aufgeheizten Debatte gibt es gar keinen Raum mehr, darüber zu diskutieren. Irgendwelche populistischen Scheinlösungen werden als pragmatisch verkauft, obwohl sie seit Jahren umgesetzt werden und scheitern. Ich wünsche mir nicht, dass wir nicht in der Regierung sind. Sondern, dass wir dieses Thema stärker priorisieren und gemeinsam mit dem Spitzenpersonal mehr Menschen überzeugen. Diese Überzeugungsarbeit ist in den letzten Jahren zu kurz gekommen, weil wir Angst vor dem Thema Asylpolitik hatten. Das müssen wir abschütteln, wenn wir den Rechten nicht das Thema überlassen wollen.

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