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Ex-Verfassungsrichter über Letzte Generation„Harmlose Sandkastenspiele“

Andreas Voßkuhle sieht bei der Letzten Generation keine extremen Ansätze. Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay bleibt bei seiner Einigung mit den Klimaaktivisten.

War von 2010 bis 2020 Präsident des Bundesverfassungsgerichts: Andreas Voßkuhle (hier 2020) Foto: Uli Deck/dpa

Düsseldorf/Hannover/Washington epd/dpa/afp | Der frühere Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle sieht bei den Klimaaktivisten, die sich auf Straßen festkleben, im historischen Vergleich keine extremen Ansätze. Verglichen mit Aktionen der Anti-Atom-Bewegung oder der Hausbesetzerszene „veranstalten die Straßenkleber heute harmlose Sandkastenspiele“, sagte der Jurist und Hochschullehrer der „Rheinischen Post“ (Samstag).

Die aktuellen Zeiten seien nicht besonders ideologisch geprägt, sagte Voßkuhle. Es gebe eher eine gewisse Orientierungslosigkeit. „Im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung ist alles unübersichtlicher, komplexer und schneller geworden“, erklärte er. „Man muss lauter werden, um sich in dem damit verbundenen Klangbild durchsetzen zu können.“ Voßkuhle war von 2010 bis 2020 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Am Mittwoch waren im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft München und des Bayerischen Landeskriminalamts in sieben Bundesländern Wohnungen und Geschäftsräume von Aktivisten der „Letzten Generation“ durchsucht worden. Der Klimaschutzgruppe, die mit Aktionen wie der Blockade von Straßen für mehr Klimaschutz protestiert, wird die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Das Vorgehen der Justiz ist umstritten.

Im Umgang mit den Klima-Aktivisten der Letzten Generation plädiert Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay weiterhin für Gespräche statt Eskalation. „Wir haben es in Hannover geschafft, eine Brücke zu bauen, und das halte ich nach wie vor für den richtigen Weg“, sagte der Grünen-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. „Die Anliegen der Gruppe sind nicht verfassungsfeindlich und auch nicht staatszersetzend – ganz im Gegenteil.“

Hannovers OB Onay: „Juristischer Aktionismus“

Am Mittwochmorgen waren Ermittler mit einer großangelegten Razzia gegen die Klimaschutzgruppe vorgegangen. Rund 170 Beamte durchsuchten 15 Wohnungen und Geschäftsräume in sieben Bundesländern, wie die Generalstaatsanwaltschaft München und das Bayerische Landeskriminalamt mitteilten. Der Vorwurf lautete Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung.

„Ich muss ehrlich sagen, das wirft bei mir schon Fragen auf“, sagte Onay und verwies auf die beschlagnahmte Internet-Seite der Letzten Generation. „Für mich macht das den Eindruck, man wolle da politischen Aktivismus mit juristischem Aktionismus bekämpfen.“ Die Gruppe weist den Vorwurf zurück.

Onay hatte Ende Februar als erster Oberbürgermeister mit der Letzten Generation ein Ende der Festklebe-Aktionen auf den Straßen seiner Stadt vereinbart. Im Gegenzug schrieb der Rathauschef einen Brief an die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen. Er teile die Einschätzung der Wissenschaft und der Letzten Generation, dass derzeitige Maßnahmen nicht ausreichten, „um die existenzbedrohende Klimakrise abzuwenden“, hieß es in dem Schreiben.

„Die Forderungen der Letzten Generation wie ein Tempolimit und ein 9-Euro-Ticket sind bei weitem nicht radikal“, sagte Onay. „Das ist nichts, was den Verfassungsstaat in Gefahr bringt.“ Durch die Protestaktionen habe es aber „sehr schwierige, polarisierende, konfrontative Situationen im Verkehr“ gegeben, auch strafrechtlich relevante Punkte. „Diese Aktionen haben wir mit dem gemeinsamen Schritt beendet.“

Onay wies erneut den Vorwurf zurück, er habe sich durch die Einigung erpressbar gemacht. Er trage viele Forderungen der Letzten Generation mit, sagte der 42 Jahre alte Grünen-Politiker.

US-Klimaaktivisten nach Protestaktion in U-Haft

In den USA sind zwei Klimaaktivisten wegen einer Protestaktion in einer Kunstausstellung am Freitag in Untersuchungshaft genommen worden. Nach Angaben der US-Staatsanwaltschaft wird ihnen Verschwörung zur Begehung einer Straftat gegen die Vereinigten Staaten und Schädigung eines Museums vorgeworfen. Demnach stellten sich Timothy Martin und Joanna Smith, beide 53 Jahre alt, zuvor den Behörden.

Die beiden wurden beschuldigt, in der National Gallery of Art die Vitrine und den Sockel der Skulptur „Kleine 14-jährige Tänzerin“ des französischen Künstlers Edgar Degas mit Farbe beschmiert zu haben. Durch die Attacke entstand laut Staatsanwaltschaft ein Schaden in Höhe von 2.400 Dollar (2.200 Euro), für dessen Beseitigung das Werk zehn Tage aus der Ausstellung genommen werden musste.

Den beiden Aktivisten drohen bis zu fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe in Höhe von bis zu 250.000 Dollar. Zu der Aktion im April bekannte sich eine Gruppe mit dem Namen „Declare Emergency“ (Notstand ausrufen), die nach Angaben der US-Staatsanwaltschaft auch Straßen im Großraum Washington blockiert hat, um die Aufmerksamkeit auf den Klimawandel zu lenken. Es handelte sich um eine der ersten Protestaktionen dieser Art in Nordamerika. In Europa hatten Klimaaktivisten 2022 unter anderem Gemälde von Vincent van Gogh, Claude Monet und Francisco de Goya attackiert.

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26 Kommentare

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  • Skatelefants , Moderator

    Vielen Dank für Eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion geschlossen.

  • Jede Aktion der letzten Generation sollte mit aller Härte bestraft werden. Es kann nicht sein, dass sowas geduldet wird. Klebt euch doch am Kanzleramt fest und lasst die Autofahrer in Ruhe und beim Grünen OB, kann ich nur den Kopf schütteln.

    • @finanzer Großmann:

      Jede Aktion der letzten Generation sollte be- und geachtet werden.



      Die Leute könnten sich sehr wohl angenehmere Tätigkeiten vorstellen, als sich bei Kälte, Hitze und Regen auf die Straße zu setzen, um das Leben der Erde - selbst wenn es so ignorant argumentiert wie manche hier Kommentierende - zu retten, indem Aufmerksamkeit generiert wird. Gerade das Innehalten könnte sogar bei manchen Autofahrern einen Denkprozess anstoßen.



      Im übrigen hat unsere Regierung einen Auftrag.



      Nicht nur vom Wähler, sondern auch vom Verfassungsgericht.



      Das sind die wirklichen Schädiger, die den Job wollten, ihn aber nicht machen.

      Auch "Die Autofahrer" dürfen eben gerade nicht aus ihrer Verantwortung gelassen werden. Die wirken faktisch eben nicht harmlos, sondern verbrennen die Zukunft des Erdenlebens. Aus (Denk-)Faulheit. Schuldbewußtsein = inexistent, machen ja alle, angeblich. Vermisst wird dringlichst eine der Dringlichkeit der Lage angepaßte Kommunikation der Regierung zum Volk. Anstatt dessen schmieren die Bildzeitungen ihren reaktionären Dreck - ohne nennenswerte Korrekturbemühungen der Regierung. Diese Arbeitsverweigerung wird leider nicht folgenlos bleiben.

    • @finanzer Großmann:

      Jung - “Furchtbare Juristen“ - hettmer schonn! Braucht hück kein 🐽 •

    • @finanzer Großmann:

      ...um die Welt zu verstehen, empfehlen wir - einfach öfters mal die TAZ lesen & versuchen zu verstehen....toi toi toi

  • Das Vorgehen von Hr. Onay — Respekt! Es kann nicht sein, dass Umweltaktivisten, die mit demonstrativen Aktionen —nur verdeutlichen—, dass die jetzigen klimapolitischen Maßnahmen bekanntermaßen nicht ausreichen und die sich große Sorgen um die Zukunft machen, kriminalisiert werden. Onay tut das einzig Richtige, nämlich im Gespräch zu bleiben anstatt zu dämonisieren:



    Deutschland ist das einzige Land ohne Tempolimit in der EU! Die Begründungen dafür — reine Farce.

    Wenn “Demonstrationen ohne Kleben” ausreichen würden, bräuchte es keinen massiven Aktivismus, oder?

  • Bei aller Abneigung gegen die Protestformen der Letzten Generation muss man Voßkuhle, denke ich, dennoch beipflichten. Onay hingegen halte ich an der Stelle für absolut peinlich. Man belohnt Organisationen nicht für Straftaten, sonst macht man sich erpressbar, und guckt spätestens dann aus der Wäsche, wenn sich plötzlich junge Rechte an die Straßen kleben, um zu fordern, man möge doch bitte alle Ausländer aus der Stadt entfernen.

    • @Agarack:

      Die einen setzen sich für das Leben und das Wohlergehen von Menschen ein, die anderen dagegen. Ich gestehe Herrn Onay (oder jedem anderen) schon zu da einen Unterschied bei der Bewertung zu machen.

  • Niemand sagt, dass das ANLIEGEN der Gruppe verfassungsfeindlich ist. Aber die Methoden und das Mindset mit Forderungen/ Erpressungsversuche ist es schon. Auch die RAF wollte "nur" mehr Freiheit und Gerechtigkeit...war bei der Wahl der Methoden aber wenig zimperlich. Niemand würde deren Taten damit verteidigen wollen, dass ihr Anliegen doch sooo toll war.

  • Voßkuhle wurde seinerzeit von der SPD als Verfassungsrichter vorgeschlagen. Das hilft vlt. seine politische Grundhaltung nachzuvollziehen.

    • @Nikolai Nikitin:

      Tja - wie sich klein Fritzchen ein Guthaben auf der Bank vorstellt! Woll.



      ♦️ einfach - sein Metier.

      • @Lowandorder:

        ;-)

  • Zwei Personen mit Realitätssinn.



    Volksverhetzung ausbremsen.

  • ...ich finde gerade den pädagogischen Ansatzt von Ex- Verfassungsrecht Voßkuhle bemerkenswert & beachtenswert - es sollte wirklich nicht unberücksichtigt bleiben in welchem Entwicklungs Zyklus - sich die überwiegenden LG zugehörig fühlenden, befinden..



    Schade, findet scheinbar keine große Berücksichtigung bei unseren " Regierenden " dabei sind doch viele unserer Politiker doch altersmässig noch gar nicht so weit entfernt von der LG...



    Kommunikation ist gefragt und sollte geübt werden

  • Ja! Vossibär ist zwar Lerche-Schüler! Gell.



    Hat aber noch alle Nadeln auffe Tanne!



    Danke Danke Danke

    So geht das ©️ Kurt Vonnegut



    “Wir müssen kontinuierlich von Klippen herunterspringen und auf dem Weg nach unten unsere Flügel wachsen lassen.“

    • @Lowandorder:

      Ergänze mal - Weil den hier grundlegenden Brokdorfbeschluß - “Meinungs&Demonstrationsfreiheit als Unterpfand unserer Demokratie nach dem Grundgesetz“ - der ebenfalls eher konservativ gestrickte exPräsi Karlsruhe & exBundespräsident - Roman Herzog - ein Theodor Maunz-Schüler - (& Lerche ein Roman Herzog-Schüler!)



      Gegen reaktionäre Anwürfe - insonderheit der FAZ - brillant & unmißverständlich - verteidigt hat.*



      Zu recht.

      unterm—- * ua —



      de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Korruhn



      Intime Gespräche



      & Im Wortlaut - der Brokdorf-Beschluss -



      www.uni-trier.de/f...dorf-Beschluss.pdf



      - LESEN LESEN LESEN -



      Allen Haßlampen dieser Republik empfohlen •



      Dank im Voraus! Gellewelle.

      • @Lowandorder:

        Die Begründungen von Entscheidungen sind manchmal interessant, habe ich als Nichtfachmann zur Kenntnis zu nehmen. Die "Zweite-Reihe-Rechtsprechung" des BGH ist hierfür ein Beispiel.



        /



        www.bundesverfassu...07_1bvr038805.html



        /



        Da staunt der Laie - und der Fachmann wundert sich hoffentlich nicht.

  • Die Menschen wollen doch einfach nur in den selbstgemachten Staus stehen. Im Land der freien Fahrt brauchts ja eigentlich keinen Kleber mehr. Steht eh alles still. Und wenn die LG mit ihren Aktionen aufhört, dann wirds wieder ganz ruhig im Land. Das Parlament wird das mit den Klimazielen dann schon richten. In 10 oder 20 oder 50 Jahren. Oder halt nicht.

    • @U. Schmid:

      Land der freien Fahrt ? Sind sind wohl schon längere Zeit nicht mehr auf deutschem Asphalt unterwegs gewesen und meinten wohl eher Kanada oder Australien ?

  • Das wird der LG nicht so gefallen, ihre Aktionen als Sandkastenspiele zu bezeichnen😜



    Als ehemaliger Vorsitzender des BVG ist Andreas Voßkuhle sicher jedweder Sympathie für linke, staatszersetzende oder militante Aktionen unverdächtig. Gut nun, dass er diese Razzien auf Betreiben der bayrischen Staatsanwaltschaft als das bezeichnet, was sie sind: nämlich nichts anderes, als mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.

  • Zutreffende Einschätzung von "Vkoole". 👍

  • Der Unterschied zwischen deutschen "Alltagsrichtern" gegenüber einem (ehemaligen) Verfassungsrichter ! Eklatant, zumindest meinen Erfahrungen nach. Guter Mann mit Überblick !

    • @Zebulon:

      Bei allem Positiven mit dem sich Herr Vosskuhle schon hervorgetan habe, möchte ich Ihren Enthusiasmus doch bremsen.

      Was wir da sehen, scheint mir, ist eher der Unterschied einer Person, die ihre Karriere schon hinter sich hat und derer, die in diesem Schweinesystem der Arschleckerbürokratie noch eine Karriere machen wollen.

      So lange für Inkompetenz und Unehrlichkeit keine Beamten entlassen werden, so lange wird sich Ehrlichkeit und Kompetenz in der Bürokratie auch nicht auszahlen.

      • @nanymouso:

        Nun ... vielleicht kam mein "Enthusiasmus" falsch rüber, Ich hab mich halt darüber gefreut, daß es an der Spitze der Judikative gute Leute gibt oder gab. Mein Enthusiasmus gilt eher der Verdammung eben jener Arschlecker, von denen Sie schreiben.



        Ansonsten bin ich ganz Ihrer Meinung, klar. Und das war ich schon öfter in letzter Zeit.

  • In den USA ist es noch schlimmer als in Bayern, das war erwartbar. Dort wird die LG sicherlich nicht Fuß fassen, dabei wäre es da viel nötiger als in Deutschland. In West Virginia wird mit ganz hartem Widerstand gegen den Ausstieg aus der Steinkohleindustrie (die bekannte Bergsprengmethode MRM, siehe de.wikipedia.org/w...top_Removal_Mining ) gerechnet, war vor einigen Tagen im DLF. Die Aktionen gegen Kunst finde ich persönlich noch "bekloppter" (Zitat Scholz) als die Klebeaktionen auf der Straße, aber die Sanktionen in Bayern und den USA sind auch irgendwie "bekloppt".

    • @Günter Picart:

      Jo, so wie es keine Aktionen GEGEN Kunst sind, sind es auch keine Aktionen FÜR Klimasschutz.



      Es handelt sich um ein Aufmerksamkeitsmedium, das hier genutzt wird.



      GEGEN Kunst, müsste m\w\d die Künstler oder die Kunst vernichten.



      Aktionen für Klimaschutz wäre kein Rindfleisch zu essen, Tempo 100, Öffis kostenlos zu machen, na gut erstmal 9 Euro eben;-)



      Für ein Pfingsten mit mehr FÜRs als GEGENs.



      Bietet sich ja an, möge der Heilige Geist mit den Einsichtigen dieser Welt sein. Erstmal vielleicht mit der FDP!