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Eine Strategie für eine „megakomplexe Welt“

Sicher in die Zukunft - und zwar auf allen Feldern: Nach monatelangem Ringen hat sich die Bundesregierung auf eine Nationale Sicherheitsstrategie geeinigt. Wie das Ganze finanziert werden soll, ist allerdings offen

Sicherheit auch auf dem Gehweg: Bundeskanzler und Minister gehen am Mittwoch zur Bundespressekonferenz Foto: Markus Schreiber/ap

Von Tanja Tricarico und Sven Hansen

Es kommt nicht oft vor, dass ein Papier so lange ein Geheimnis bleibt. Und noch nie gab es solch ein Aufgebot mit Kanzler und Mi­nis­te­r:in­nen in der Bundespressekonferenz, zumindest seit 1978 dort Statistik geführt wird. Monatelang wurde um die Nationale Sicherheitsstrategie gerungen, am Mittwoch präsentierten Kanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock und Finanzminister Christian Lindner gemeinsam das rund 70 Seiten starke Papier. Zur Unterstützung sind Verteidigungsminister Boris Pistorius und Bundesinnenministerin Nancy Faeser dazugeladen worden.

Wehrhaft, resilient und nachhaltig soll das Land werden. „Es bleibt die zentrale Aufgabe des Staates, für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen“, sagt Scholz. Die Strategie umfasst die ganze Palette, um gegen Bedrohungen von außen und von innen gewappnet zu sein: militärische Verteidigung, Katastrophenschutz, die Aufrechterhaltung der Versorgungslage und der Schutz kritischer Infrastruktur. Erwähnt werden die globale Gesundheit, der Klimawandel und die Entwicklungszusammenarbeit. Und dass Angriffe aus dem Cyberraum genauso wie Desinformationen besser abgewehrt werden sollen. Sogar Bedrohungen im und aus dem All werden in dem Strategiepapier ein paar Absätze gewidmet. Außenpolitisch möchte die Bundesregierung eine Haltung zu den „Wertepartnern“ wie den USA zu finden, sagt Finanzminister Lindner. Oder zu Russland und China auf der anderen Seite. Zusammengefasst also ein sogenannter integrierter Sicherheitsbegriff.

Im Koalitionsvertrag war bereits verankert, dass es erstmals eine solche Nationale Sicherheitsstrategie geben soll. Bisher hatte man sich auf ein Weißbuch und vor allem die Verteidigungspolitik beschränkt. Mit dem brutalen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022, hätte man begreifen müssen, dass Frieden und Freiheit nicht selbstverständlich sind, sagt Außenministerin Baerbock. Und: Sicherheit sei mehr als Militär und Diplomatie. Sie spricht davon, dass die Bevölkerung vor der Manipulation russischer Bots geschützt werden müsse oder davor, dass China die Menschen beim Chatten ausspioniert. Auch müsse gewährleistet sein, dass die Menschen in Deutschland mit sauberem Wasser duschen können. Die Beispiele folgen in einer Reihe mit ausreichend gefüllten Gasspeichern und einem Lob an ihren Partei- und Kabinettskollegen Wirtschaftsminister Robert Habeck, der es in kürzester Zeit geschafft hätte, Deutschland unabhängiger von russischem Gas zu machen. Die Welt ist eben „mega­komplex“, wie Baerbock die vielen Aspekte der Sicherheitsstrategie zusammenfasst.

Unabhängigkeit ist auch eines der Stichworte, wenn es um die außenpolitische Haltung zu China geht. Zwar findet das Papier klare Worte, doch bleibt offen, was daraus folgt. Wiederholt wird der mantraartige Dreiklang, dass China „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ sei. Doch hätten die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in den vergangenen Jahren zugenommen. China versuche die internationale Ordnung umzugestalten und handele dabei „immer wieder im Widerspruch zu unseren Interessen und Werten“. Peking setze die internationale Stabilität und Sicherheit „zunehmend unter Druck“, missachte Menschenrechte und nutze seine Wirtschaftskraft, um politische Ziele zu erreichen. Scholz verweist stolz darauf, dass der fortgesetzte Dialog mit Peking geholfen habe, dass China sich beim G20-Gipfel in Bali deutlich gegen Moskaus Atomwaffendrohungen im Ukrainekonflikt ausgesprochen hat. Auch sei die von Berlin verfolgte Strategie des Risikoabbaus (Derisking) statt einer Abkopplung (Decoupling) heute Konsens der EU- und der G7-Staaten. Ansonsten wird darauf verwiesen, dass die Bundesregierung in Scholz’ Worten „bald“ ihre China-Strategie vorlegen wolle, die Baerbock wegen der Uneinigkeit zwischen den beteiligten Ministerien süffisant als „kleinen Cliffhanger“ bezeichnet.

Eigentlich hätte die Sicherheitsstrategie bereits zur Münchner Sicherheitskonferenz im Februar präsentiert werden sollen, dann war rund um Ostern der angepeilte Termin, jetzt ist es Juni geworden. Offenbar hat die ressortübergreifende Formulierung, noch dazu erstmals in dieser Koalition, gedauert. Zäh war anscheinend auch die Diskussion um einen ständigen Nationalen Sicherheitsrat oder wenigstens ein koordinierendes Gremium. Den wird es nun nicht geben, da insbesondere wohl das Außenministerium nicht hinnehmen wollte, dass eine solche Institution dann im Kanzleramt angesiedelt worden wäre. Was ebenfalls nicht geklappt hat, ist, den Katastrophenschutz stärker auf die Bundesebene zu ziehen. Oder Ausgaben für die Verteidigung an Ausgaben für die Entwicklungszusammen­arbeit zu koppeln.

Aber von Frust in der Koalition keine Spur. Statt Konflikt propagiert die Ampel lieber traute Einigkeit und eine gemeinsame Außenpolitik aus einem Guss, an der es keinen Zweifel geben soll. Ein gutes Gefühl in unsicheren Zeiten zu vermitteln scheint die Aufgabe. Vielleicht liegt es auch am Geburtstag des Kanzlers, der sich mit der Sicherheitsstrategie wohl selbst ein Geschenk gemacht hat. „Wir haben klasse Arbeit geleistet, und deswegen sind wir jetzt fertig“, sagt Scholz. Im Februar waren wir es wohl noch nicht, schiebt er trocken hinterher.

„Wir haben klasse Arbeit geleistet, und deswegen sind wir jetzt fertig“

Olaf Scholz, Bundeskanzler

Deutschland ist derzeit zweitgrößter Waffenlieferant an die Ukraine – nach den USA. In Europa will die Bundesregierung in der Sicherheitspolitik eine zentrale Rolle einnehmen. Um bei diesem Vorhaben glaubwürdig zu bleiben, gibt es ein starkes Bekenntnis, zukünftig tatsächlich 2 Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigungsausgaben vorzusehen. Und das bereits ab dem kommenden Jahr, sagt Finanzminister Lindner. Auch Scholz und Baerbock betonen, dass die Bundeswehr auf dem Zwei-Prozent-Ziel ihre ­Planung aufbauen kann und soll. Man will damit für den Fall vorbereitet sein, dass das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Investitionen in die Bundeswehr irgendwann erschöpft sein könnte. „Wir haben über lange Zeit von einer Friedensdividende gelebt“, sagt Lindner. Die Propor­tionen des Haushalts hätten sich verändert. Übersetzt heißt das nichts anderes, als: Mit der Finanzierung aller Sicherheitsmaßnahmen wird es schwierig. Außer womöglich bei den Ausgaben für Rüstungsgüter und für die Ausstattung der Bundeswehr.

Vor allem Entwicklungsorganisationen sehen diesen Fokus enorm kritisch. Vergeblich suche man nach einem Bekenntnis zu dem internationalen Versprechen, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren, sagt Stephan Exo-Kreischer, Direktor und Geschäftsführer der Entwicklungsorganisation ONE Deutschland. „Klimawandel, Staatsverschuldung und Hunger beeinträchtigen die Stabilität vieler Länder im Globalen Süden. Die Klimakatastrophe wütet in den Ländern Afrikas mit bereits jetzt verheerenden Folgen für tausende Menschen. Gleichzeitig wird eine nachhaltige menschliche Sicherheit wie Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung vernachlässigt.“ So könne man weder diese komplexen Probleme angehen oder gar lösen noch die notwendige Stabilität herstellen.

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