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Ertrunkene Flüchtlinge vor ItalienDie EU ist mitschuldig

Michael Braun
Kommentar von Michael Braun

Wieder sind Menschen auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken. Aus Brüssel und Rom sind nur scheinheilige Trauer-Floskeln zu hören.

Die Hilfe kommt zu spät: Rettungskräfte suchen am Montag vor der süditalienischen Küste nach Vermissten Foto: Valeria Ferraro/ap/dpa

N ur hundert Meter entfernt war die Insel Lampedusa – und doch starben, am 3. Oktober 2013, 368 Menschen, als ihr Boot kenterte. Entsetzen äußerten damals nicht nur die italienischen, sondern auch zahlreiche europäische Politiker*innen, sprachen davon, dass eine solche Tragödie „sich nie wiederholen“ dürfe.

Am Sonntagmorgen hat sie sich fast deckungsgleich wiederholt. Wieder war, im süditalienischen Kalabrien, die Küste zum Greifen nah, wieder aber ertranken mehr als 60 Menschen in den Fluten. Und wieder vernehmen wir Äußerungen, aus Rom ebenso wie aus Brüssel, in denen von „tiefem Schmerz“ die Rede ist und davon, dass Europa „entschlossen“ antworten müsse.

Wie es um diese Entschlossenheit in Italien bestellt ist, hat die Rechtsregierung unter Giorgia Meloni zuletzt hinreichend demonstriert. Ginge es nach ihr, so würden die NGOs ihre Rettungsmaßnahmen im Mittelmeer ersatzlos einstellen, und mit gezielten Schikanen arbeitet sie auf diese Lösung hin. Und „Europa“ ist für Meloni nur die ­Chiffre, um ein gemeinsames Vorgehen bei der rabiaten Flüchtlingsabwehr einzufordern.

Jenes Europa allerdings macht es auch nicht besser. Legale Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge bleiben eine Schimäre, und Gezerre gibt es allein um die Frage, ob auch die Länder im Norden und Osten Europas einen Teil der übers Mittelmeer kommenden Flüchtlinge übernehmen sollen. Nicht einmal zu gemeinsamen Rettungsmissionen im Mittelmeer wie noch nach der Katastrophe vor Lampedusa zeigt sich die EU willens und in der Lage.

Viel leichter dagegen ist es, sich – wie auch jetzt wieder – über „kriminelle Schleuser“ aufzuregen. Deren Geschäftsmodell allerdings beruht darauf, dass es andere, legale Möglichkeiten, um als Flüchtling nach Europa zu gelangen, schlicht nicht gibt. Die Abschottungspolitik der EU sorgt für zweierlei: für die ebenso sicheren wie konstanten Einnahmen der Schlepper ebenso wie für Katastrophen, wie sie jetzt wieder vor Kalabrien zu beklagen sind: Mehr als 26.000 Menschen ertranken in den vergangenen Jahren im Mittelmeer.

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Michael Braun
Auslandskorrespondent Italien
Promovierter Politologe, 1985-1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Unis Duisburg und Essen, seit 1996 als Journalist in Rom, seit 2000 taz-Korrespondent, daneben tätig für deutsche Rundfunkanstalten, das italienische Wochenmagazin „Internazionale“ und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Büro Rom der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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12 Kommentare

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  • Der Artikel zeigt richtig auf, dass die EU einen großen Teil der Verantwortung für die Toten trägt. Nach meiner Einschätzung handelt es sich hier um ein anhaltendes Massaker durch ganz bewusstes Wegschauen und Unterlassen, sowie durch systematische Erschwernis, Menschen zu retten, ohne sie Milizen in Libyen auszuliefern. Dass dieses anhaltende Töten einfach fortdauert, begründet zudem Zweifel an den Rechtsinstitutionen in der EU. Solange aber Medien und Gesellschaft letztlich den Anspruch der EU und (der Mehrheit) ihrer Länder, quasi Vertreter:innen der Menschenrechte zu sein, akzeptieren und immer wieder in die Welt schreien, obwohl das Töten fortdauert, solange wird sich nichts ändern. Irgendetwas läuft falsch, wenn jeden Tag Menschen in den Fluten sterben und wenn Leichen an den EU-Stränden angespült werden und dennoch nahezu alle gesellschaftlichen Institutionen, Organisationen und auch die Medien als vierte Gewalt nach jeder Leiche wieder zur Tagesordnung übergehen.

    • @PolitDiscussion:

      Massaker durch unterlassen. So was habe ich auch noch nie gelesen.



      Meinen sie nicht, dass zuallererst mal die Schlepper am "Massaker" schuld sind, weil sie viel zu viele Menschen aus reiner Profitgier auf völlig ungeeigneten überfüllten Boote in den Tod schickt?

      • @Rudi Hamm:

        Die Schlepper schrieben also die Gesetze die dafür sorgen, dass die Menschen sich nur auf diese Art und Weise Asyl bekommen können?

        Die Schlepper sind auch Schuld daran, dass vor Ort meist überhaupt nur ungeeignete Boote erworben werden können weil die irregulöre Migration bekämpft werden soll?

        Ich will nicht behaupten die Schlepper seinen unschuldig.

        Aber hätten die Menschen eine Chance auf ein Asyl ohne eine lebensgefährliche Überfahrt, gäbe es keine Schlepper!

        Sie sind nicht die Ursache für das Elend sondern nur ein Symptom.

        So wie die Mafia und der Drogen verkauft, giben die Schlepper ein Angebot für eine Nachfrage, bei der es keine legale Alternative gibt.

        Bei Drogen ist die Lösung eine entkriminalisierung und Regulierung und das gleiche gilt auch hier.

    • @PolitDiscussion:

      Sie haben sich eingeschossen auf ominöse "Milizen" im meuternden Maghreb. Mit Verlaub, aber eine gefällige Formulierung mit unüberhörbaren kolonialistischen Untertönen, finde ich.

      Nichts für ungut, aber wie hätten Sie es den gerne? Sie sehen Mörder und Massaker auf allen Seiten des Mittelmeers -- wie sähe denn eine Lösung aus in ihren Augen?

      • @Frieder auf Erden:

        In Libyen herrschen Milizen unter dem Deckmantel "staatlicher Sicherheitsdienst". Auch die Küstenwache besteht aus Milizen und agiert nach dem Schema einer kriminellen Organisation.Eine (von der Bevölkerung durch Wahlen) legitime staatliche Autorität gibt es in Libyen nicht. Nach dem Sturz Gaddafis gab es keine einheitliche Regierung mehr, sondern mehrere konkurrierende Machtblöcke. Die Anerkennung durch die EU einer der stets 2-3 verfeindeten "Regierungen" (mit der man in der "Migrationspolitik" kooperiert) macht noch lange keinen Staat. Einig sind sich die zerstrittenen und sich gegenseitig bekämpfenden Milizen aus denen die Machtblöcke bestehen in Libyen aber darin, dass Gefängnisse ein lukratives Geschäftsmodell sind. Auch libysche Staatsangehörige werden willkürlich entführt und inhaftiert und mit Folter zur Bezahlung von Lösegeld motiviert. Alle geflüchteten Menschen, die libyschen Boden betreten, werden prinzipiell infhaftiert ohne jede legale Grundlage. (Kein Haftbefehl, keine Anklage, keine gerichtliche Einspruchsmöglichkeit) sie dient einzig und allein dem Geschäftsmodell der Milizen, die mit unmenschlichen Haft- Bedingungen, systematischer und brutaler Folter Geld erpressen. Gefangene deren Familien schon tot sind werden gezwungen Herkunftsgemeinschaften (Dorf- oder städtische Communities) anzurufen während der Folter, ihre Schreie sollen dann die Herkunftsgemeinschaft "motivieren" Geld (über das über Kontinente verbreitete Bargeldüberweisungssystem) zu zahlen. Diese "staatlichen" Gefängnisse werden durch die EU-Finanzierung und Kooperation mit der libyschen Küstenwache doppelt gefüllt, denn alle von der Küstenwache "geretteten" Menschen landen direkt wieder im Gefängnis. Wieder Folter, Gelderpressung oder als Arbeitssklaven ausgebeutet werden bis sie sterben und Platz für neue "Ware" machen. Hier finden Sie den offiziellen UN-Bericht zur Thematik:



        www.ohchr.org/en/d...ding-mission-libya

  • Beihilfe zum institutionellen Mord nennt sich so etwas.



    Wer macht die Gesetze, wer lässt diese anwenden, und wer verändert nichts seit Jahrzehnten? Die EU-Staaten.



    Das sind klare Verstösse gegen Menschenrechte - welch Heuchelei, zu den offiziellen Statements der Regierungen.

  • Der Titel ist aus meiner Sicht nicht ganz korrekt.

    Die EU ist nicht "mitschuldig" sonder "hauptverantwortlich".

    Wie der Artkel korrekt feststellt:

    1: Die Toten sind eine logische Konsequenz der Politik und dies ist den Politikern auch bewusst.

    2: NGOs werden aktiv an der Arbeit gehindert, auch von Deutschland unter der Groko.

    Wer außer der EU politisch etwas ändern?

    Genau... niemand. Und daher trägt die EU auch ganz allein die politische Verantwortung.

    Gesetze werden nicht von Schleppern geschrieben.

    • @sociajizzm:

      Hauptverantwortlich sind zuallererst die verbrecherischen Diktatoren, die dafür sorgen, dass sich Menschen aus Ländern wie Afghanistan oder Syrien überhaupt von ihrer Heimat abwenden. Also die Taliban, der Assad-Clan und seine russischen Helfer, in manchen Teilen Syriens herrscht weiterhin der IS.

      ALLE Syrer und Afghanen haben gute Gründe, zu fliehen. Das ist überhaupt keine Frage.

      Welche Anzahl Syrer und Afghanen in Europa aufgenommen werden können, kann man gerne diskutieren. Solange die Regime vor Ort so weitermachen wie bisher wird aber nichts nachhaltig besser werden und Menschen werden in Boote steigen, denn legale Aufnahmemöglichkeiten für ALLE Syrer und Afghanen wird es nicht geben. Dafür sind es schlicht zu viele. Diejenigen, denen es wirklich schlecht geht, haben noch nicht mal die Mittel, um ihr Land zu verlassen und sich auf die beschwerliche Reise zu machen und Schlepper zu bezahlen. Über die wird aber kaum berichtet, weil sie arm, krank und alt in Syrien und Afghanistan zurückbleiben während die wenigen Leistungsträger fliehen und die letzten Devisen mitnehmen.

      • @Winnetaz:

        Absolut korrekt. Die Menschen denen es wirklich dreckig geht können das Land in den vielen Fällen nicht verlassen.

        Die meisten Menschen leben trotz allem Elend jedoch lieber weiter in Ihrer Heimat, soweit dies möglich ist.

        Die Vorstellung das so viele Menschen das Land verlassen wollen ist ein rassistisch konnotiertes Vorurteil.

        Wenn wir legale Asylwege schaffen könnten wir schwere Traumatisierung auf der Flucht und eine Finanziereung von Warlords verhindern.

        Wir könnten sogar entscheiden wer kommen darf und wer nicht. Klingt unmenschlich, wäre trozdem besser als es aktuell der Fall ist.

        Transferleistungen machen bereits jetzt einen großteil der Zahlungen aus dem Norden in den Süden aus.

        Mit dem zusätzlichen Geld welches die Asylbewerber aus Europa nach Syrien und co. überweisen könnten, wäre es für die zurück gebliebenen Familienmitglieder, bereits mittelfristig möglich, die Situation auch dort zu verbessern.

  • Der Text weckt den Eindruck Europa hätte nichts gelernt und würde nichts unternehmen.

    "Keine gemeinsame Rettungsaktion" usw.

    Das ist jedoch blanker Unsinn.

    Europa unternimmt etwas gemeinsam und jedes Jahr steigen die Ausgaben dafür.

    Die Zusammenarbeit läuft wir geschmiert.

    Zahlungen an die Türkei? Zahlungen an Agypten? Kooperation mit Lybien wird nun sogar offen diskutiert. Italien schiebt ab in die Türkei, die Türkei schiebt ab nach Afghanistan. Die Zusammenarbeit funktioniert doch bestens!

    Wenn die EU sagt: "Wir müssen etwas tun, damit sich das nicht wirderholt" dann meint man damit : "wir müssen alle Mittel einsetzen zu verhindern, das die Menschen das Mittelmeer erreichen damit es nicht so viele Bilder von ertrunkenen Menschen gibt. "

    Die Mittel sind egal.

    Meloni spricht doch nur laut aus was in der Praxis längst umgesetzt wird.

    Mich kotzt am meisten die Heuchelei an ...

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Die EU ist ein Zusammenschluss von Ländern die unterschiedliche Interessen haben. Und ungesteuerte Wirtschaftsmigration will nur noch ein Land in der EU.

  • Die EU? Letzte Patrone, sage ich da nur.

    Sie wird weiterhin die Länder an der Grenze Dublinieren, bis alle eine völkisch-rechte Partei à la Meloni haben und genussvoll die Drecksarbeit leisten.

    Was war die Ersteaktion unserer "christlichen" Politiker auf den russischen Einmarsch in die Ukraine? "2015 darf sich nicht wiederholen". Was ist die EU-Reaktion auf das furchtbare Erdbeben in Syrien und der Türkei? "Greece fortifies border to block refugees from Turkish-Syrian earthquakes" [1].

    Entschuldigt mich kurz: mir ist gerade übel.

    [1] www.theguardian.co...syrian-earthquakes