Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei: Perspektiven statt Grenzen

Die EU setzt auf den Migrationsdeal mit der Türkei und die Verlagerung des Grenzschutzes. Sinnvoller wäre, Flüchtenden eine Zukunft zu ermöglichen.

Migranten warten vor Sizilien darauf, an Land zu dürfen. Italien hat den Notstand ausgerufen Foto: Salvatore Cavalli/ap

Mit der Ankunft von Millionen Flüchtlingen, die vorwiegend in kleinen Booten über die Ägäis einreisten, brach 2015 das Asylsystem in Europa zusammen. Nur durch zivilgesellschaftliches Engagement gelang die Aufnahme und Integration der Schutzsuchenden. Zugleich ächzten staatliche Institutionen über Jahre unter ihren Aufgaben. Vielfach sollten administrative Tricks und neue Gesetze helfen, den Zugang zu Verfahren und Rechten zu verringern, um so die Belastungen für Verwaltungen zu mindern.

Echte Reformen des europäischen Asylsystems, die den Anforderungen eines demokratischen Kontinents der Zuflucht entsprechen würden, blieben weitgehend aus. Stattdessen ging die EU im Frühjahr 2016 einen Flüchtlingsdeal mit der Türkei ein, bei dem es offiziell um ein Rückführungs- und Aufnahmeprogramm ging. Es funktionierte nie.

Zentral für die Umsetzung war die Bekämpfung von irregulärer Migration, die zunächst in der Verantwortung türkischer Sicherheitsbehörden lag. Wie weit der Rückgang von Ankunftszahlen in Griechenland ab 2016 überhaupt dem Übereinkommen geschuldet ist, bleibt umstritten. Politisch gilt es dennoch als Erfolg und als Vorbild für Migrationsabkommen mit anderen Nachbarstaaten der EU. Doch die EU hat die falschen Schlüsse aus der Zusammenarbeit mit der Türkei gezogen und verrennt sich in eine migrationspolitische Sackgasse.

Die bemerkenswerteste, in Europa aber kaum wahrgenommene Leistung ist die Aufnahme und Versorgung von über 3,5 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei. Möglich war dies nur durch ein differenziertes und innovatives humanitäres Programm mit hoher finanzieller Unterstützung durch die EU. Trotz vieler Schwierigkeiten in der Umsetzung hat es Sy­re­r*in­nen Lebens­perspektiven in ihrer Herkunftsregion und oft eine neue Heimat gegeben.

Abschotten um jeden Preis

Schutz und Zukunftsperspektiven sind die wichtigsten Faktoren, damit Vertriebene ihre Flucht nicht fortsetzen. Die Migrationsabkommen mit Staaten auf Fluchtrouten nach Europa fördern jedoch kaum das eine noch das andere. Im Gegenteil setzen sie auf Grenzschließungen und die gewaltsame Vermeidung von irregulärer Migration. Die Erfahrungen zeigen, dass das keine gute Idee ist.

Die türkische Regierung hat ihre Kontrolle über die gemeinsame Grenze wiederholt als diplomatisches Druckmittel gegen die EU genutzt: Es wäre doch schade, würde irreguläre Migration nach Europa wieder einsetzen, raunte man kaum verhohlen in Richtung EU, wenn ganz andere politische Fragen im Raum standen. Andere Staaten haben längst begonnen, diese migrationspolitische Instrumentalisierung zu kopieren.

Zudem hat sich gezeigt, dass irreguläre Migration durch die Verlagerung des Grenzschutzes in die Türkei nicht langfristig gestoppt wurde. Vielmehr wurde eine brutale und teils illegale Abwehr von Schutzsuchenden betrieben: Flüchtende gerieten unter Beschuss, Boote wurden ins Meer zurückgedrängt, menschenrechtlich bedenkliche Lager errichtet. Die vermeintliche Externalisierung eines gewaltsamen Grenzschutzes ist keine Lösung der Grenzfragen und fällt über kurz oder lang auf die EU zurück.

Asyl für 200.000 pro Jahr ist gut machbar

Die alternativ oft geforderte Gewährleistung von sicheren und regulären Wegen für Flüchtlinge ist aber ebenfalls Illusion. Zum einen sind die Kapazitäten solcher dauerhaften Programme relativ gering und zum anderen sehr selektiv. Sie erreichen nur bedingt jene, die sich in die Boote setzen müssen. Keine Frage, Visa für humanitäre, aber auch Arbeits- und Studienzwecke sind eine wichtige Ergänzung zum Asyl, indes beeinflussen sie die irreguläre Migrationsbewegung kaum.

Eine wichtige Ausnahme sind sehr umfangreiche, internationale Aufnahmeprogramme. Europa könnte über ein gut organisiertes Programm relativ einfach etwa 200.000 Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen. Auf fünf Jahre angelegt, wäre dies eine Entlastung für die Türkei und auch ein wichtiges Signal der geteilten Verantwortung. Die Kombination aus Neuansiedlungen und lokaler Integration ist eine Möglichkeit für den überfälligen Wandel der europäischen Flüchtlingspolitik.

Die Zahl irregulärer Ankünfte in Griechenland würde so zunächst stark sinken. Allerdings würde die irreguläre Migration nicht aufhören. Und das ist in Ordnung. Irreguläre Migration ist rechtlich und normativ gerechtfertigt, wenn sie genutzt wird, um Asyl zu beantragen. Dazu muss der Zugang zum Asylverfahren gewährleistet werden. Grenzschutz und Flüchtlingsschutz sind nicht gegensätzlich, sondern sie gehen Hand in Hand.

Grenzschutz in der EU sieht zurzeit nur die Bekämpfung von irregulärer Migration vor, anstatt das Recht auf Asyl im Schengener Grenzkodex und im Mandat von Frontex festzuschreiben. Es braucht klare Verfahren, sodass Asyl­be­wer­be­r*in­nen in funktionierende Asylverfahren kommen, auch wenn sie irregulär einreisen. Was radikal klingen mag, ist tatsächlich nur realistisch.

Die wichtigsten flüchtlingspolitischen Lehren der letzten Jahre lauten: Der Schutz von Flüchtlingen ist keine Schwäche, sondern eine Stärke demokratischer Migrationspolitik. Mit der Förderung von Rechtssicherheit und Lebensperspektiven in Herkunftsregionen werden weniger Vertriebene auf irregulärem Weg Asyl in Europa suchen. Und: Irreguläre Migration wird es immer geben. Europa kann Asylsuchenden Schutz bieten, selbst wiederholt und in größerem Umfang.

Die EU muss von dem aussichtslosen Vorhaben abkommen, sich mit Gewalt gegen irreguläre Migration abzuschotten, wie sie es im Deal mit der Türkei versucht hat. Denn der Preis dieser Abwehr sind unsere menschenrechtlichen Normen und unsere Rechtsstaatlichkeit. Wir müssen das Flüchtlingsrecht schützen. Ein Neuanfang in der flüchtlingspolitischen Kooperation mit der Türkei kann ein erster Schritt in die Richtung eines demokratischen Flüchtlingsschutzes in Europa sein.

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ist Autor und Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Flucht- und Flüchtlingsforschung und heute Co-Leiter der Fachgruppe „Demokratie, Transfer und Politikberatung“ am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), Berlin.

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