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Postkarten zu jeder Stadt, jedem Landkreis und jedem Bundesland informieren über den Klimaschutz vor Ort Illustration: Francesca Morini, Johanna Hartmann, Anna Eschenbacher

taz-Datenprojekt zum KlimaschutzHeiße Grüße aus Deutschland

Wie steht es um den Klimaschutz in Deutschland? In einem Datenprojekt hat die taz alle Landkreise in den Bereichen Energie, Mobilität, Landwirtschaft, Abfall und Gebäude verglichen – mit ernüchternden Ergebnissen.

D ie Biotonne ist eine der besten Klimaschützerinnen Deutschlands. Mit jeder Kartoffelschale, die in der braunen Tonne landet statt im Restmüll, sinken die Emissionen Deutschlands ein wenig. Im schlimmsten Fall würden sich sonst organische Abfälle auf Deponien zu Methan verwandeln, einem Treibhausgas, das kurzfristig viel mehr schadet als CO2, oder sie würden mit Restmüll direkt verbrannt.

„Wenn die Politik sich konkrete Ziele setzt, wird sie auch an denen gemessen“

Karsten Neuhoff, Leiter Klimapolitik am DIW

Durch die braune Tonne landen immer mehr dieser Abfälle in Vergärungsanlagen, wo das Methan eingefangen und zur Energieerzeugung verwendet wird. In der Masse heißt das: Der gesamte Bereich Abfall ist inzwischen klimaneutral.

Doch leider ist der Abfall beim Thema Klimaschutz der kleinste Sektor in Deutschland, er macht nur 1 Prozent aller Emissionen aus. Alle anderen Bereiche sind weit davon entfernt, emissionsfrei zu sein. Dennoch ist die Biotonne ein gutes Beispiel dafür, wie der Klimaschutz der Zukunft wahrscheinlich aussehen wird. Nicht glänzende, komplexe, hochtechnologisierte Einzellösungen werden die Erderhitzung stoppen, sondern Lösungen wie die Biotonne: unspektakulär, vielfältig, geerdet und alltäglich.

Messwerte, die die Auswirkung der Erderhitzung in Deutschland zeigen, gibt es zuhauf. Wetterstationen erfassen genau, wie viel Starkregen beim Hochwasser im Ahrtal pro Quadratmeter gefallen ist und wie viel Zentimeter der Pegelstand des Rheins während des Niedrigwassers in diesem Sommer noch hatte. Es gibt sogar detaillierte Berechungen dazu, wie viel Prozent mehr heiße Tage zum Beispiel dem Landkreis Schmalkalden-Meiningen Mitte des Jahrhunderts bevorstehen, wenn wir so weitermachen. Der Klimawandel und seine Folgen lassen sich also präzise erfassen.

Für ein taz-Datenprojekt wollten wir wissen: Wie ist das beim Thema Klimaschutz? Können wir auch messen, ob wir auf dem richtigen Weg sind, um die Verhältnisse zu verbessern, bevor es zu spät ist? Kennen wir die Pegelstände unseres Fortschritts?

In den vergangenen Monaten hat ein Team von taz-Journalist*innen und Mit­ar­bei­te­r*in­nen der FH Potsdam versucht, in Zahlen zu messen, wie weit Deutschland von einer Klimaschutz-Utopie entfernt ist. Neun Indikatoren aus den fünf Bereichen – Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft, Energie und Abfall – haben wir für jede Stadt, jeden Landkreis und die 16 Bundesländer ausgewertet und geschaut, welche Regionen Deutschlands jeweils Vorreiter sind. Wir nutzen dabei Daten, die öffentlich zugänglich sind.

In einer Onlineanwendung ist nachzulesen, wie es in jedem einzelnen Ort aussieht. Dabei haben selbst die Regionen, die vergleichsweise gut abschneiden, meist noch viel Arbeit vor sich.

Die Klimaschutzfortschritte im Verkehr stecken im Stau

In Deutschland kommen laut Daten des Kraftfahrtbundesamts auf 100 Menschen etwa 58 Autos. Davon haben 2022 nur 3 einen Elektro- oder Hybridantrieb und es werden fast 80 Prozent der gefahrenen Kilometer mit dem Auto zurückgelegt. Dieser Anteil hat sich seit Anfang des Jahrtausends kaum verändert. Die Autodichte ist in Deutschland seit den 1990er Jahren sogar gestiegen.

In Städten ist die Autodichte niedriger als in ländlichen Regionen, das war erwartbar. Relevant ist aber auch das Durchschnittseinkommen, denn je reicher Menschen sind, desto mehr Autos besitzen sie statistisch. In Leipzig kommen nur 38 Autos auf 100 Menschen, während es im Hohenlohekreis in der Region Heilbronn mehr als doppelt so viele sind: 75. In Wolfsburg sind es mit 116 noch mehr, allerdings werden dort auch alle Dienstwagen von VW angemeldet.

Selbst neue Gebäude werden meistens fossil beheizt

Bei den Gebäuden hat sich in den vergangenen zehn Jahren der Energieverbrauch pro Quadratmeter kaum verbessert. Das zeigen Daten des Beratungsportals CO2Online. Wohngebäude in Deutschland verbrauchen rund 128 Kilowattstunden pro Quadratmeter im Jahr, um zu heizen. Nötig wären für effektiven Klimaschutz aber Werte wie die eines Niedrigenergiehauses: weniger als 25 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr. Doch selbst bei Neubauten wurden noch 2021 in 38 Prozent der Wohnungen und Häuser Gasheizungen eingebaut.

Regional gibt es große Unterschiede. Wurden in Flensburg 2020 nur 1,3 Prozent der neuen Wohnungen oder Häuser mit erneuerbaren Energien beheizt, sind es im Eifelkreis Bitburg-Prüm mehr als 85 Prozent. Auffällig ist ein Süd-Nord-Gefälle. Die Landkreise im Süden Deutschlands fallen oft ins beste Drittel, während in Norddeutschland Kreise im schlechtesten Drittel überwiegen.

Die Tierbestände sinken zu langsam

Das Umweltbundesamt schätzt, dass der Fleischkonsum in Deutschland halbiert werden muss. Unsere Ernährung muss klimafreundlicher werden, die Zahl der Nutztiere abnehmen. Das passiert zu wenig. Die Zahl der Tiere – gemessen in sogenannten Großvieheinheiten, die etwa einem Rind, 10 Schafen oder 320 Legehennen entsprechen – sinkt laut Agrarstrukturerhebung nur leicht. Zwischen 2010 und 2020 ist sie von 13 auf 12 Millionen zurückgegangen, zwischendurch aber sogar gestiegen. Würde es so weitergehen, bräuchte es für eine Halbierung der Tierbestände noch sechs Jahrzehnte.

Bei der Qualität der Tierhaltung gibt es sogar Verschlechterungen: Als ökologische Grenze gilt in der Landwirtschaft die Haltung von zwei Großvieheinheiten auf einem Hektar Land. Der Anteil der Tiere, der so gehalten wird, ist seit 2010 gesunken. Bei den Schlusslichtern des Rankings werden die Fleischproduktions-Hochburgen in Deutschland sichtbar, in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, in Bayern und Baden-Württemberg.

Beim Energieverbrauch geht es nur langsam voran

Aus der Energieerzeugung kommen in Deutschland oft Jubelmeldungen – meist ist dabei nur der Bereich der Stromerzeugung gemeint, wo regelmäßig etwa die Hälfte aus erneuerbaren Quellen kommt. Allerdings ist Strom nur ein kleiner Teil der Energie, die wir nutzen. Das Gesamtbild ist deutlich schlechter. Nur etwa 17 Prozent der in Deutschland genutzten Primärenergie machen Erneuerbare aus – immerhin weit mehr als die 1,3 Prozent, die es im Jahr 1990 waren. Bei der Industrie, wo fossile Brennstoffe noch oft direkt verbrannt werden, sieht es schlechter aus: Nur etwa 4 Prozent der Energie stammt aus erneuerbaren Quellen.

Doch ein Blick ins Lokale zeigt, dass es hier große Unterschiede gibt: Vor allem der Landkreis Stendal ragt heraus, wo die Industrie dank eines Biomassekraftwerks rund 73 Prozent ihrer Energie aus erneuerbaren Quellen bezieht. (Lesen Sie hier unsere Reportage aus dem Landkreis Stendal.) Insgesamt liegt der Wert aber nur bei 28 von 401 Landkreisen und Städten bei mehr als 5 Prozent.

Konkrete Ziele erzeugen Handlungsdruck

Zumindest der Blick auf den Bereich Abfall fällt positiver aus. Bei der Biotonne lassen sich die Nachzügler klar benennen. Laut der Deutschen Umwelthilfe bieten 48 Kreise und Städte weiterhin keine Biotonne an. Sie liegen in unserer Auswertung fast alle hinten. Schlusslicht ist der Saale-Holzland-Kreis, er bietet nur ein Bringsystem für Bioabfälle an und sammelte 2020 nur 8 Kilo pro Person. Im gesamtdeutschen Durchschnitt waren es 127 Kilo, und in der Stadt Hof auf Platz 1 des Rankings waren es 365 Kilo.

Das Beispiel Biomüll zeigt, welche Herausforderungen bevorstehen. Die Einführung der Tonne war nicht einfach. Organische Abfälle stinken, ziehen Fliegen an, und am Ende bleibt immer noch ein pampiger Rest in der Tonne zurück – wer will das schon vor der Tür haben? Die Veränderung wurde durch Mülltrennung Einzelner, war aber auch nur durch politische Entscheidungen und wirtschaftliches Handeln möglich. Biotonnen müssen abgeholt werden, Parkabfälle ebenfalls, es müssen Anlagen gebaut und das erzeugte Biogas verbrannt werden.

Um solche komplexen Veränderungsprozesse zu ermöglichen, muss es klare, messbare Ziele geben, die nicht in weiter Zukunft liegen, sagt Karsten Neuhoff vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Neuhoff leitet dort die Abteilung Klimapolitik, ist Professor und berät Regierungen. Er und seine Kol­le­g*in­nen fordern Frühindikatoren für Klimaschutz – also Pegelstände für Fortschritte. Bisher sind die Klimaziele oft sehr allgemein und in zeitlich weiter Ferne.

„Wenn die Politik sich konkrete Ziele für die kommenden Jahre setzt, wird sie auch an denen gemessen. Dadurch entsteht auf Verwaltungsseite ein Handlungsdruck aber auch die politische Rückendeckung für die Umsetzung von notwendigen Maßnahmen.“ Er stellt sich das vor wie bei Unternehmen, die verkünden, was sie erreichen wollen, und sogenannte KPIs definieren, also Werte, anhand derer man Erfolg einschätzen kann. Jedes Jahr 4 bis 5 Prozent der Gebäude energetisch zu sanieren könnte so ein Ziel sein. Gerade sind es knapp 1 Prozent.

Er würde sich davon auch Wettbewerb erhoffen. „Auf der lokalen Ebene wird es spannend, weil ich meinen Ort im Vergleich zu anderen anschauen kann. Wieso sind andere besser?“ So wie in den Hoch-Zeiten der Coronapandemie viele auf die Infektionsraten einzelner Landkreise schauten und herauszufinden versuchten, was anderswo besser klappt, könnten Bür­ge­r*in­nen in Zukunft auf das Ranking ihrer Gegend für autofreien Verkehr oder zu erneuerbarer Energie blicken.

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