piwik no script img

Streit über russische DeserteureZivilisatorisches Versagen

Pascal Beucker
Kommentar von Pascal Beucker

Wer nicht kämpft, kann nicht töten – nicht nur deshalb sollte jeder, der nicht für Russlands Präsident Putin sterben will, überall aufgenommen werden.

Grenzübergang von Russland nach Georgien im September 2022 Foto: Valery Sharifulin/Itar-Tass/imago

O b die jungen Männer, die seit Wladimir Putins Verkündung der Teilmobilmachung Ende September ihre sieben Sachen packen, um Russland zu verlassen, wohl je etwas von Boris Vian gehört haben? Gut möglich, schließlich wurde sein „Le Déserteur“ in Dutzende Sprachen übersetzt, auch ins Russische. Jedenfalls kommt einem bei den Nachrichten über die Zehntausende Russen, die versuchen, sich der Zwangsrekrutierung für den Ukraine­krieg zu entziehen, das legendäre Chanson des französischen Schriftstellers aus dem Jahr 1954 in den Sinn: „Bevor die Hähne kräh’n / Verrammel ich die Türen / Ich will mein Leben spüren / Und mach’ mich auf den Weg“, wie Wolf Biermann Vian ins Deutsche übersetzt hat. „Mon­sieur le President / Ihr seid für’s Blutvergießen? / Allez! Lasst Eures fließen / Das wär ’ne gute Tat!“

Wer nicht in der Ukraine kämpft, der kann nicht in der Ukraine töten. Allein schon deshalb sollte jeder, der sich nicht von Putin verheizen lassen will und durch Flucht die Kampfkraft und -moral der russischen Truppen schwächt, überall mit offenen Armen aufgenommen werden. Zahlreiche europäische Staaten haben jedoch stattdessen ihre Grenzen für russische Kriegsverweigerer geschlossen. Was für ein zivilisatorisches Versagen!

Solch inhumanes wie unvernünftiges Vorgehen wünscht sich der neue ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev auch von der Bundesrepublik. Es wäre „falsch von Deutschland, russische Deserteure aufzunehmen“, hat er verkündet. Schließlich wollten die sich bloß „vor dem Militärdienst drücken“ und „nur nicht im Krieg sterben“. Damit liegt Makeiev ganz auf der Linie seines Vorgängers Andrij Melnyk, der bekundet hat, er hielte es für eine „katastrophale Entscheidung“, wenn russischen Männern Asyl in der Bundesrepublik gewährt würde, „NUR weil sie (…) keinen Bock auf ihre eigene Ruhestätte in der Ukraine haben“.

Im Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Doch nach der international gängigen Rechtsauffassung gibt das leider den wehrfähigen Menschen noch nicht das Recht, sich zum Schutz ihres Lebens einem Krieg durch Flucht zu entziehen. Selbst wenn sie sich dem militärischen Wahn eines verbrecherischen Regimes verweigern wollen, reicht das als Asylgrund alleine nicht aus. „Selbstverständlich ist jemand kein Flüchtling, nur weil er aus Furcht, kämpfen zu müssen, oder aus Abneigung gegen den Militärdienst desertiert ist oder den Dienst erst gar nicht angetreten hat“, ist dazu im Handbuch des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlings­eigenschaft zu lesen. So unmenschlich es ist: Die Furcht vor Strafverfolgung und vor Bestrafung wegen Desertation oder der Weigerung, einer Einberufung Folge zu leisten, stellen keinen Grund dar, um Anrecht auf Asyl zu haben.

Kriegsverweigerung ist ein Menschenrecht. Auch wenn sie als solches nicht allgemein anerkannt wird. Aber warum nicht? Weil Desertation in der ganzen Welt als strafbare Handlung geahndet wird – nicht nur in autoritären Regimen. Fahnenflüchtlinge will man nirgendwo haben. Weshalb auch Boris Vians grandioses „Le Déserteur“ mehrere Jahre – und zwar während des Algerien­krieges – in Frankreich verboten war. „Der Deserteur ist in allen Armeen der schlimmste Feind, schlimmer als der Feindsoldat, denn er widersteht dem Befehl zum Töten und nimmt lieber den eigenen Tod in Kauf“, schrieb einst der Schriftsteller Gerhard Zwerenz, der einzige Deserteur, der je dem Bundestag angehörte. Dabei ist selbst ein „gerechter“ Krieg immer noch ein Krieg, niemand sollte dazu gezwungen werden, gegen seinen Willen in ihn zu ziehen. Das gilt übrigens auch für jene Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren, die seit Kriegsbeginn ihr Land nicht mehr verlassen dürfen, um für die Verteidigung herangezogen werden zu können. Kein Staat hat das Recht, Menschen zum Töten anderer Menschen zu zwingen.

Kriegsverweigerung ist ein Menschenrecht. Auch wenn sie als solches nicht allgemein anerkannt wird

Gleichwohl ist die Diskussion über die russischen Kriegsverweigerer eine besonders aberwitzige. Denn sie ist nicht nur zynisch, sondern steht auch im Widerspruch zur Rechtsauffassung des UNHCR. Danach gibt es für Deserteure und Militärdienstflüchtlinge durchaus einen Flüchtlingsschutz, wenn sich „die Art der militärischen Aktion, mit der sich der Betreffende nicht identifizieren möchte, von der Völkergemeinschaft als den Grundregeln menschlichen Verhaltens widersprechend verurteilt wird“.

Deutschland steht in einer besonderen historischen Verantwortung, nicht nur den russischen Deserteuren und Militärdienstverweigerern Schutz zu gewähren. Denn es sollte nie vergessen werden, wie unfassbar lange es gedauert hat, bis dieser Staat jene nicht mehr als Aussätzige betrachtet hat, die einst nicht für Hitlers Wehrmacht kämpfen wollten. Über 30.000 sogenannte Fahnenflüchtige, „Wehrkraftzersetzer“ oder „Kriegsverräter“ hat die Nazi-Militärjustiz zum Tode verurteilt, mehr als 20.000 wurden hingerichtet, Tausende kamen in Konzentrationslagern und Strafbataillonen ums Leben. Weniger als 4.000 deutsche Deserteure überlebten den Zweiten Weltkrieg. Und die Überlebenden mussten sich in der Bundesrepublik als „Feiglinge“, „Verräter“ und „Volksschädlinge“ beschimpfen lassen. Erst 1998 hob der Bundestag einen Teil der Unrechtsurteile auf. Es dauerte weitere vier Jahre, bis das deutsche Parlament die Deserteure rehabilitierte. Schließlich wurden 2009 pauschal die Urteile wegen „Kriegsverrats“ aufgehoben.

2018 starb mit 96 Jahren Ludwig Baumann, der letzte Wehrmachtsdeserteur. Von den Nazis zum Tode verurteilt, hatte er Jahrzehnte für seine Rehabilitierung kämpfen müssen. Zu seiner Motivation, als 20-jähriger Marinegefreiter zu desertieren, sagte Baumann einmal: „Die Wahrheit ist: Ich wollte nicht töten. Und ich wollte leben.“ Das reicht als Grund. Das muss reichen. Auch heute.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Pascal Beucker
Inlandsredakteur
Jahrgang 1966. Arbeitet seit 2014 als Redakteur im Inlandsressort und gehört dem Parlamentsbüro der taz an. Zuvor fünfzehn Jahre taz-Korrespondent in Nordrhein-Westfalen. Seit 2018 im Vorstand der taz-Genossenschaft. Sein neues Buch "Pazifismus - ein Irrweg?" ist gerade im Kohlhammer Verlag erschienen.
Mehr zum Thema

15 Kommentare

 / 
  • Guter Kommentar.



    Kein Mensch - egal ob Russe oder Ukrainer - darf daran gehindert werden sich dem Töten oder Getötetwerden durch Flucht zu entziehen.

    Wenn den Kriegsherren die unfreiwilligen Kämpfer weglaufen könnten, wäre so mancher Krieg schneller beendet.

  • 4G
    49732 (Profil gelöscht)

    Das Problem ist doch, das mit der Aufnahme möglicherweise tausende von überzeugten Putinisten in den Westen kommen.

    Außerdem dürfte es für die ukrainischen Flüchtlinge schwer zu ertragen sein das man mit den ehemaligen Unterstützern des Angriffskrieges jetzt im gleichen Zimmer schlafen muss.

    • @49732 (Profil gelöscht):

      Währen sie überzeugte Putinisten würden sie bleiben. Und warum sollte jemand aus der Ukraine mit einem Russen Probleme haben der den Scheiß nicht mitmacht und abhaut?

      • @Andreas J:

        Vielleicht weil nicht jeder Fahnenflüchtige ein überzeugter Pazifist und Gegner Putins ist. Putin führt schon eine ganze Weile Kriege und stand damit bis vor Kurzem ziemlich gut in der Gunst der russischen Bevölkerung da.

        Vielleicht wird gemutmaßt dass unter den Fahnenflüchtlingen nicht wenige sind, die mit Putins Außenpolitik sehr gut leben konnten, solange dafür andere Leute in den Krieg gezogen sind.

        Ob Putin durch die Aufnahme der Fahnenflüchtigen geschwächt wird sei auch mal dahingestellt. Einerseits ist die Debatte ohnehin witzlos, weil das Asylrecht kein Werkzeug ist um bestimmte politische Interessen durchzusetzen - ob Asyl gewährt wird hat der Sachverhalt zu entscheiden und nicht die Frage ob uns das nützt oder genehm ist. Andererseits aber auch, weil ich mir vorstellen kann dass es Putins Rückhalt in der Bevölkerung nachhaltig schaden kann wenn er den Druck auf Kriegsunwillige drastisch erhöht um sie an die Waffe zu pressen. Ich kann mir ohnehin nicht vorstellen dass eine Einheit derartig "an die Front gepresster Soldaten" irgendeinen militärischen Wert hat.

  • Vielen Dank an Pascal Beucker für diesen gelungenen Kommentar, wichtigen Hinweis.



    Ich hoffe das in naher Zukunft die marginalisierten, meist männlichen Desateure weltweit die Anerkennung erhalten die sie Verdienen und somit der Desateur weltweit im Mainstream ankommt. Auch im technisierten 21.Jahrhundert gilt die Binsenweisheit, dass ohne Soldaten kein Krieg zu machen ist.

    • @niko:

      Bravo, sehe ich genau so.

  • Für mich ist das sehr entlarvend. Wenn jemand entsetzt ist über das. was in der Ukraine passiert, der wird Deserteure aufnehmen. Wer sie nicht aufnehmen will, für den scheint eher Russenhass der Grund zu sein.

    • @Kartöfellchen:

      Sie käuen hier fleissig das russische Narrativ der Russenhasses wieder, als hätte nicht Russland eines völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieg begonnen. Aber da Sie ja auch die Meinung vertreten, Russland könne sich die Krim einfach mal kaufen, ist ihre Intention mehr als deutlich. Was für einen Preis halten Sie bei einem von Russland entführten und zur Adoption freigegebenen Kind als Schadensersatz für die Eltern so für angemessen?

    • @Kartöfellchen:

      Demnach wäre die Ukraine also nicht entsetzt über den russischen Überfall, sondern ist lediglich durch Russenhass getrieben... Woher kommt diese These, vielleicht von Frau Wagenknecht?

  • Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht. Wer dieses Recht in Deutschland in Anspruch nimmt, braucht nicht desertieren. Ein hohes Gut!



    Aber wenn die massenhafte Inanspruchnahme dieses Rechtes die Verteidigungsfähigkeit unseres Staates beschädigen würde, wäre (z.B. bei Annexion durch Russland) bald Schluss mit diesem Recht.



    Wobei das noch harmlos wäre gegen die drohenden Zerstörungen, Folterungen, Morde, Vergewaltigungen, Deportationen.



    Die meisten "Verweigerer" aus Russland verweigern ja nicht den Kriegsdienst, sondern wollen einfach nicht getötet werden. Ihr gutes und unbestrittenes Recht.



    Aber ich bezweifle, dass viele verweigern würden, wenn Russland in der Ukraine die Chance auf einen grandiosen Sieg bei minimalen Verlusten hätte und die Aussicht auf ein Imperium, in dem Milch und Honig in Strömen fließen.

    • 0G
      08786 (Profil gelöscht)
      @Siegfried Bogdanski:

      'Aber ich bezweifle, dass viele verweigern würden....'

      Das sind doch nur Spekulationen. Sehen sie es doch mal so: Hüben wie drüben werden Menschen manipuliert, um begeistert in den Krieg zu ziehen. Jeder sollte das Recht haben, seine Meinung zu ändern. Es ist ja außerdem nicht so, dass die russischen Deserteure nichts auf sich nehmen. Ihren Angehörigen droht Repression und ihnen selbst eine Anklage, sollten sie je zurückkehren. Alleine schon der Aufbruch in ein fremdes Land mit komplett unklaren Zukunftsaussichten ist schon ein harter Schritt. Für mich sind alle willkommen, die nicht in den Krieg ziehen wollen. Denn: Stell' Dir vor, es ist Krieg und niemand geht hin! Das passiert natürlich nie. Aber geil wär's.

    • @Siegfried Bogdanski:

      Muss man ein perfekter Mensch sein, um das Recht zu haben, nicht getötet zu werden? M.E. nein. Keine Gewissensprüfungen für Nicht-Getötet-Werden-Wollen.

  • Kriegsverweigerung und Desertation sind zwei verschiedene Sachverhalte. Bitte nicht beliebig vermischen. Im Endergebnis stimme ich dem taz-Autor aber völlig zu und bin sehr bestürzt darüber, dass der ukrainische Botschafter nicht wahrhaben will, dass eine kräftige Unterstützung für russische Verweigerer ja auch der Ukraine nutzt. Vielleicht setzt er darauf, dass die Kampfmoral in den russischen Reihen durch die vielen eigentlich Unwilligen sogar noch stärker leidet. Mag sein, ist aber zynisch gedacht.

    Außerdem sei hier nochmal auf die Diskriminierung von Männern hingewiesen. Das Gender-Gap beim Thema Kriegsdienst liegt bei 100% (außer in Israel). Da sind wir von Gleichstellung sehr weit entfernt.

  • Das Problem, das so ein Staat an der Stelle hat, ist, dass die Anerkennung eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung (und damit einhergehendem Asyl für Menschen, die desertiert sind oder sich der Einziehung entziehen) dazu führt, dass die eigene Bevölkerung im Kriegsfall (oder generell, es gibt ja immer noch Staaten mit Wehrpflicht) auch auf dumme Ideen wie die Weigerung, sich im Namen von Volk und Vaterland (wobei man heute ja lieber Demokratie und Menschenrechte sagt, aber Ersteres oft mitgemeint ist) massakrieren (oder falls es nur um den Grundwehrdienst geht: zurichten) zu lassen.

  • Alle Staaten haben Angst davor, dass sich ihre Soldaten und Wehrpflichtigen dem organisierten militärischen Morden entziehen. Das war übrigends auch während des Vietnam-Krieges so, da flüchteten viele US-Boys etwa nach Kanada, auch US-Deserteure in Deutschland hatten damals keinen Schutz. Der Krieg braucht Kanonenfutter - und was würden die ach so gewaltfreien Grünen Minister wohl tun, käme es bei uns zum 'Ernstfall'.....