Junge Menschen und Arbeit: Freizeit statt Bullshit
Fleißig genannt zu werden ist oft ein Synonym für Überstundenmachen. Unsere Autorin hat keine Lust mehr darauf. Wertvoll ist für sie vor allem Zeit.
M anchmal frage ich mich, woran man merkt, dass man alt ist. Für meine Kinder bin ich jetzt schon steinalt. Für manche berufliche Chancen, für viele Stipendien etwa, bin ich zu alt mit meinen 37 Jahren. Für viele Stipendien, für die ich nicht zu alt bin, bin ich zu Mutter.
Ich fühle mich gar nicht mehr so jung. Könnte mit diesem Elternsein zu tun haben. Viele Leute sagen trotzdem „junge Frau“ zu mir. Letztens wurde ich sogar nach meinem Ausweis gefragt, als ich eine Flasche Wein kaufen wollte.
Per Definition bin ich Millennial. Und ob ich mich jung fühle oder nicht, ich bin auch Teil dieser „jungen“ Menschen, die „nicht mehr arbeiten wollen“. Sofern arbeiten heißt, in – oft unterbezahlten – (Bullshit-)Jobs 40 Stunden abzusitzen, neben irgendwelchen grenzüberschreitenden Arbeitskolleg*innen, die es nie geschafft haben, sich eine Persönlichkeit außerhalb ihres Berufes zuzulegen.
Finanzieller Aufstieg fast unmöglich
Sofern es heißt, über die Arbeitszeit hinaus die obligatorischen, aber unbezahlten und oft vermeidbaren Überstunden zu leisten, damit einen jemand nach ordnungsdeutscher Art „fleißig“ und „engagiert“ nennt, wenn eigentlich gemeint ist, dass man hervorragend auszubeuten ist, weil man nie gelernt hat, seine Grenzen zu wahren, in einer Gesellschaft, in der Persönlichkeit mehr über den Beruf definiert wird als über den Charakter.
Es ist nicht so, dass ich mich nie habe ausbeuten lassen. Ich hatte nie Geld, deshalb viele schlechte Jobs und ein paar gute. Die guten waren alle schlecht bezahlt und auslaugend, am Ende also auch schlecht. Auf Dauer leidet die Gesundheit. Wenn nicht sofort, dann, wenn man in der Altersarmut hängt, weil man sein Leben lang unbezahlt „fleißig“ war und „engagiert“.
Ich glaube, viele Leute haben verstanden, dass es kaum noch möglich ist, finanziell aufzusteigen. Dass viel Geld zu haben, wenn man stirbt, auch keinen Sinn ergibt, wenn man selbst nie gelebt hat. Und dass die letzten Gedanken auf dem Sterbebett eher nicht sein werden: „Hätte ich bloß mehr Wochenstunden im Büro verbracht.“
Kopf schütteln
Ich musste erst lernen, dass meine Zeit wertvoll ist. Kinder führen die eigene Vergänglichkeit eindrücklich vor Augen. Ich musste lernen, dass ich mit Leuten, die erben werden, und ihrer Gratisarbeit nie mithalten werde können. Dass für mich Freizeit einen höheren Stellenwert haben muss, um zufrieden sein zu können mit den Beziehungen, die ich führe.
Ich gratuliere allen, die all das schon ab dem Berufseinstieg wissen. Die Ausdauer und finanzielle Mittel haben, das durchzuziehen. Ich kann nicht garantieren, dass ich nie wieder nach Feierabend „engagiert“ sein muss. Ich hab Rechnungen zu bezahlen. Aber ich versuche es.
Ich hoffe, meine Kinder werden irgendwann über die Messung von beruflichem Engagement in stündlicher Anwesenheit so sehr den Kopf schütteln wie wir heute darüber, dass man früher in Krankenhäusern geraucht hat.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen