Gender-Erwartungen an Kinder: Mehr als Herzensbrecher

Sobald Kinder sich freundlich oder fürsorglich verhalten, sagt jemand: „Oh, die müssen verliebt sein!“ Diese Sicht auf Beziehungen ist viel zu eng.

Drei Kekse in herform, zwei sind angebissen

Ein erstrebenswerter Titel? Vielleicht als Keks Foto: Lara Bispinck/Shotshop/imago

Vor einiger Zeit war ich mit dem Einjährigen in einer Spielgruppe. Als ich da so sitze, beobachte ich, wie ein Kind sich einer Mutter nähert, die nicht seine ist. Nennen wir ihn Jonas. Sie sitzt auf einem viel zu kleinen Stuhl an einem viel zu kleinen Tisch. Er stellt ihr Fragen und tritt von einem Bein aufs andere. Er will sie offenbar kennenlernen. Bis ein Erwachsener ruft: „Jonas ist ein Womanizer, da muss man aufpassen.“ Höhöhö.

Gleiche Spielgruppe, anderer Tag. Ein Zweijähriger, nennen wir ihn Amir, hilft einem Kind, das noch gehen lernt. Er reicht ihr die Hand und schirmt sie vor Ecken ab. Er ist vorsichtig und es macht ihm sichtlich Spaß. Einer der Männer sagt lachend: „Ja, Amir hat sich schon letztes Mal in sie verliebt.“ Höhöhö.

Beide Male schnaufe ich, aber sage nichts. Ich bin zu müde. Dennoch überlege ich seither, was ich beim nächsten Mal sagen könnte. Meine beiden Kinder hören auch oft solche Sprüche und ich hasse es. Leute sagen, dass sie mal „Herzensbrecher“ sein werden, als wäre das ein erstrebenswerter Titel. Wenn sie mit Mädchen spielen, fragen Erwachsene, ob da „jemand schon eine Freundin hat“, zwinker-zwinker. Es würden ihnen sicher „die Mädchenherzen nur so zufliegen“. Manchmal sage ich dann: „Oder die Jungsherzen.“ Oder, sofern die Situation es wert scheint: dass ich nicht möchte, dass meine Kinder auf diese Art sexualisiert werden.

Was bringt so viele Leute dazu, beim Anblick von Kindern an Liebesbeziehungen oder an deren zukünftige Sex­part­ne­r*in­nen zu denken? Und damit hier keine Missverständnisse entstehen, ich bin sehr für Aufklärung. Meine Kinder können Geschlechtsteile benennen, und sie wissen, dass es mehr als nur Jungen und Mädchen gibt. Sie wissen auch, dass man das nicht an Äußerem erkennen kann. Sie lernen, wie Babys entstehen, und wissen, dass jede Liebe gut ist, solange sie auf Einverständnis und Augenhöhe beruht. Denn all das hat nichts mit Sexualisierung zu tun. Das ist Bildung.

Freundlichkeit ist anders als „Liebe“

Es ist aber sehr wohl Sexualisierung, wenn Kindern beigebracht wird, dass sie, sobald sie sich fürsorglich verhalten, ja nur verliebt sein können. Wenn man kleine Pärchen aus ihnen macht. Wenn einem Jungen gesagt wird, jede noch so banale Beziehung zu einem Mädchen – und sogar zu einer Frau, die seine Mutter sein könnte – müsse sofort Liebe sein. Ganz abgesehen davon, dass diese Zuschreibung wohl auch für die betroffene Erwachsene reichlich absurd sein dürfte.

Das Einzige, das man wohl erreichen kann, wenn man vor allem vor Jungs ständig Freundlichkeit mit Liebe gleichsetzt, ist, dass sie aufhören, allzu freundlich zu sein, sofern sie nicht verliebt sind. Dass sie Hilfsbereitschaft und Fürsorglichkeit nicht als erstrebenswerte Charaktereigenschaften sehen. Dass Interesse an Frauen nur mit „Interesse“ stattfindet. Und das ist ja durchaus etwas, das einem irgendwie bekannt vorkommt.

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Schreibt über Gesellschaft, Politik, Medien und manchmal über Österreich. Kolumne "Kinderspiel". War 2013 Volontärin der taz panter-Stiftung, dann taz-Redakteurin. Von 2019 bis 2022 Ressortleiterin des Gesellschafts- und Medienressorts taz zwei. Lebt und arbeitet in Wien.

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