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Therapeutin über Messie-Syndrom„Pathologische Horter schämen sich“

Viele Menschen hängen an ihren Sachen, aber einigen fällt das Loslassen besonders schwer. Warum ist das so? Ein Gespräch mit Messie-Expertin Veronika Schröter.

Zwiegespräch mit Container – Dinge gehen zu lassen, kann eine große Herausforderung sein Illustration: Yvonne Kuschel
Interview von Franziska Seyboldt

taz: Frau Schröter, horten, also Dinge sammeln und aufbewahren, das machen wir ja irgendwie alle. Sonst hätten Aufräumexpertinnen wie Marie Kondo und Co nicht so einen großen Erfolg – aber wann wird es pathologisch?

Veronika Schröter: Jeder kennt die Problematik, sich von Dingen zu trennen. Aber nicht jeder wird an dieser Aufgabe scheitern. Wenn es nicht pathologisch ist, komme ich zum Beispiel wunderbar mit einem Aufräumcoach zurecht. Ich kann seine Tipps und Ratschläge sehr gut annehmen und umsetzen, fühle mich entlastet und atme durch. Weil es nicht andockt an etwas, das ich noch nicht verarbeitet habe.

Das heißt, je größer der Widerstand gegen das Ausmisten, desto größer das Problem?

Genau. Wenn ich meinen Klienten jemanden mitbringe, der mit Tipps ankommt, empfinden sie das als übergriffig – weil Pathologisches Horten eben keine Aufräumproblematik ist. Das musste auch ich als Messie-Expertin erst lernen.

Erzählen Sie!

Früher hat mich das Jugendamt regelmäßig zu betroffenen Familien nach Hause geschickt. Dort war es so voll, dass manchmal Schlafplätze nicht mehr klar definiert waren. Also haben mein Team und ich uns ans Aufräumen gemacht. Wir dachten: Um der Familie zu helfen, müssen mindestens drei Viertel der Sachen raus.

Aber das war nicht der Fall?

Obwohl die Eltern wussten, dass wir die Kinder aus der Familie nehmen müssen, wenn es so weitergeht, gab es bei dieser Thematik keine Bewegung. Die Mütter und Väter haben zwar vor lauter Angst mit uns aufgeräumt, solange wir da waren. Aber sobald wir weg waren, haben sie die leeren Stellen doppelt und dreifach wieder befüllt. Gleichzeitig hat es gegenüber den Kindern nur selten an emotionaler Zuwendung gefehlt. Da bin ich dann stutzig geworden. Denn wenn etwas direkt wiederkommt, das man versucht hat freizugeben, heißt das immer: Hinter der Welt der Dinge sind Themen verborgen.

Wenn Pathologisches Horten kein Aufräumproblem ist – was ist es dann?

Ich habe festgestellt, dass dem Pathologischen Horten eine sogenannte Wertbeimessungsstörung zugrunde liegt. Das bedeutet, die Betroffenen können gar nicht erst unterscheiden: Ist dieses Ding wichtig, wertvoll, nützlich, schön – oder nicht?

Im Interview: Veronika Schröter

ist Messie-Expertin und -Therapeutin. Im von ihr gegründeten Messie-Kompetenzzentrum in Stuttgart bildet sie Fachkräfte aus und fort. Ihr neuestes Buch „Messie-­Syndrom und Pathologisches Horten – das Praxisbuch“ ist 2022 bei Klett-Cotta erschienen.

Also das Mantra von Marie Kondo: Does it spark joy?

Das können sie nicht beantworten, deshalb scheitern sie schon im Ansatz. Da können fünfzig Kulis nicht mehr funktionieren, Hauptsache, sie sind da.

Ich kenne einige Leute, die jetzt behaupten würden, sie hätten eben eine ausgeprägte Sammelleidenschaft.

Da gibt es einen ganz klaren Unterschied. Sammler sind stolz wie Harry. Die zeigen ihre Sachen gerne und sagen: Schau mal, was wir alles aus dem Ausland mitgebracht haben! Ein pathologischer Horter ist nicht stolz, der schämt sich.

Das heißt, pathologischen Hortern ist durchaus bewusst, was andere über ihre Wohnsituation denken.

Ja. Und das ist ihnen sehr, sehr peinlich. Die meisten beginnen eine Therapie, weil sie endlich wieder Menschen einladen wollen. Pathologische Horter leben wie in zwei Welten. So, wie sie in der Öffentlichkeit auftreten, würde kein Mensch glauben, dass ihre Wohnung – oder eins ihrer Zimmer – überfüllt ist. In der Regel gehören sie zur Mittel- und Oberschicht …

… was ja nicht gerade das gängige Messie-Klischee bestätigt. Woran liegt das?

In der Kindheit von pathologischen Hortern wurde oft mehr Wert auf Bildung gelegt als auf ihre emotionale Versorgung. Dementsprechend arbeiten sie später auch häufig in guten Positio­nen und erfüllen die Erwartungen, die die Gesellschaft an sie hat. In der Außenwelt können sie übrigens auch hervorragend aufräumen. Sie sollten mal sehen, wie der Raum nach der Gruppentherapie aussieht – der ist wie aus dem Ei gepellt.

Wenn Kuscheltiere das Wohnzimmer bevölkern – bei Leidensdruck ein Problem Illustration: Yvonne Kuschel

Warum fällt es den Betroffenen so schwer, ihre eigenen Sachen objektiv zu bewerten und sich gegebenenfalls davon zu trennen?

Weil ihre Dinge für pathologische Horter nicht einfach nur Dinge sind, sondern Platzhalter, die verschiedene Funktionen erfüllen. Sie können etwa Beziehungsstellvertreter sein, die ihnen Halt, Geborgenheit und Trost geben. Im Gegensatz zu Menschen laufen Dinge nicht davon, die verlassen einen nicht. Andere Gegenstände wiederum, mit denen sich pathologische Horter umgeben, fungieren als Identitätsbezeugung. Durch sie spüren sie: Das bin ich, das interessiert mich, und ich kann alles jederzeit sehen.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich arbeite mit Klienten, die haben fünf Ausbildungen angefangen oder Stu­dien­gänge nie abgeschlossen. Die aufgehobenen Unterlagen zeigen ihnen: Das war mal deine Vision, da wolltest du hin. Und solange sie noch hier in Reichweite sind, klappt es vielleicht doch noch irgendwann.

Pathologische Horter können sich also nicht von ihren Dingen trennen, weil so gefühlt auch die damit verbundenen Träume und Ziele endgültig verloren gehen?

Richtig. Und, ganz wesentlich: Die Berge und Türme im Wohnraum können helfen, die Traumaschmerzen, die dahinterstehen, nicht fühlen zu müssen.

Was für Traumaschmerzen sind das?

Die Ursachen für Pathologisches Horten haben meiner Erfahrung nach vorwiegend mit Bindungserlebnissen in der Kindheit zu tun. Wovon drei Viertel meiner Klienten berichten, ist ein frühes Gezwungenwordensein. Die große Wunde im Leben dieser Menschen ist, dass sie nicht einfach sein durften. Sie mussten von klein auf den Erwartungen entsprechen, die die Eltern an sie hatten – welches Musikinstrument erlernt wird, welcher Beruf der richtige ist – und sind bis heute in einem heillosen Funktionsmodus. Sie haben zwar unglaublich vielseitige Interessen, aber konnten sie nie ausleben. Und das wird jetzt alles im Wohnraum geparkt.

Hört sich an wie eine späte Pubertät.

Ja, da gibt es eine ganz große Wutkraft, da die Rebellion gegen die Eltern in der Regel gar nicht möglich war. Als Erwachsene zeigen sie dann am intimsten Ort, dem eigenen Wohnraum, dass sie sich wehren. Und sagen unbewusst: Ihr habt mir so viel Müssen und Sollen und Enge übergestülpt, so, jetzt lasse ich alles stehen und liegen. Ein Symptom, an dem man pathologische Horter erkennt, ist übrigens das Aufschieben, da jede Aufgabe sofort mit Zwang gleichgesetzt wird. Das ist natürlich ein gewaltiges Missverständnis, da muss dann erst mal gedanklich aufgeräumt werden.

Drei Viertel berichten von einem frühen Gezwungenwordensein. Was sind die Ursachen beim restlichen Viertel?

Einige wurden überbehütet und durften nie lernen, wie man selbstständig lebt. Diese Menschen nimmt man am besten an die Hand und sagt: Heute gucken wir mal, wie man Wäsche so aufhängen kann, dass sie weniger Falten bekommt. Andere wiederum wurden in der Kindheit emotional im Stich gelassen. Eine Klientin bekam mit 13 noch einen Bruder, der war krank und hatte die volle Aufmerksamkeit der Eltern – und sie fühlte sich plötzlich, als ob es sie nicht mehr gab. Sie hebt bis heute alle Zeitungen des Vaters auf, um die Anbindung an ihn zu suchen, da sie ihn nicht wirklich gefühlt und erlebt hat.

Die Pathologie

Messie-Syndrom

ist der Oberbegriff für drei verschiedene Krankheitsbilder – Pathologisches Horten, Vermüllungssyndrom und Verwahrlosungssyndrom. Obwohl auch Mischformen auftreten können, sind sie eigenständige Krankheitsbilder und erfordern verschiedene Vorgehensweisen.

Pathologisches Horten

wurde in der 11. Ausgabe der internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO (ICD) erstmals als eigenständige Diagnose aufgenommen. Die ICD-11 trat am 1. Januar 2022 in Kraft.

Ist das Thema Loslassen eigentlich auch eine Generationenfrage? Es gibt ja diesen typischen Großelternspruch: „Nicht wegschmeißen, das kann man irgendwann noch mal gebrauchen!“

Ja, das ist typisch für Menschen aus der Kriegsgeneration – übrigens ebenfalls eine Ursache für Pathologisches Horten. Viele Überlebende haben nie eine Therapie bekommen, sie leben wie vereist in sich selbst und unterdrücken ihren Schmerz. Sie haben Besitztümer verloren, sie haben Menschen verloren. Und wenn sie die Welt der Dinge wiedererrungen haben, dann darf da bitte gar nichts gehen, denn jeder Verlust erinnert daran, dass der Bruder getötet wurde. Ihr Alibi ist oft: Das kann man ja alles noch gebrauchen. Aber eigentlich verhindern sie durch die Dinge um sie herum, den Schmerz fühlen zu müssen, der darunter liegt.

Wie so eine warme, kuschelige Daunen­jacke?

Ganz genau, das ist ein schönes Bild. Und deshalb kann man da unmöglich einfach mal schnell die Wohnung ausräumen. Außerdem: Ein Mensch darf so leben. Wenn es krabbelt, wenn es stinkt, wenn Nachbarn sich melden, dann muss man das natürlich differenzieren. Aber jeder hat ein Recht auf sein Eigentum.

In meinem Umfeld können die meisten Menschen sehr gut ausmisten – aber wehe, es geht ans Bücherregal. Eine Freundin sagte einmal, ihre Bücher hätten sie zu der Person gemacht, die sie heute ist. Würde sie sich von ihnen trennen, käme ihr das vor, als würde ein Teil von ihr verschwinden.

Da blutet einem das Herz – manche Objekte fungieren bei pathologischen Horte­r:in­nen als Platzhalter Illustration: Yvonne Kuschel

Das ist der klassische Gedanke, der auch einer Wertbeimessungsstörung zugrunde liegt – die Identifizierung mit den Dingen bis hin zum Gefühl: Wenn ich das jetzt weggebe, komme ich gar nicht mehr richtig vor. Aber wenn Bücher aus mir die Person gemacht haben, die ich bin, dann kann mir das kein Mensch nehmen. Und es wird auch kein Buch je bezeugen, dass ich dadurch zu dieser Person wurde.

Wie schafft man es, sich von diesem Gefühl zu entkoppeln?

Entscheidend ist, dass man versteht, welche Platzhalterfunktion die Dinge haben. Manche können sich zum Beispiel nicht von ihren alten Kleidungsstücken trennen, weil es damals eine Jugendliebe gab und sie den Falschen geheiratet haben. Darüber spreche ich dann mit den Menschen, die ich als Messie-Expertin zu Hause besuche.

Angenommen, ich habe den Verdacht, dass jemand in meiner Familie betroffen ist, aber die Person weigert sich, Hilfe zu suchen. Was kann ich tun?

Da gibt es eine ganz klare Regel: Angehörige sind die schlechtesten Ratgeber. Sobald sie meinen, helfen zu müssen, kommt es auf der emotionalen Ebene zu hierarchischen Verschiebungen. Bei den Betroffenen kommt nur an: Ich bin nicht gut genug, ich war es noch nie – und jetzt willst du mir auch noch meine Welt aufräumen! Deshalb ist es ratsam, auf der Beziehungsebene zu bleiben. Es geht darum, dem Menschen zu begegnen, nicht seinem Symptom. Und ihn in seinem Selbstwert zu stärken.

taz am wochenende

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Darf man das Thema denn trotzdem ansprechen?

Wenn es die Beziehung erlaubt, kann man durchaus fragen: Fühlst du dich wohl? Mir ist so wichtig, dass es dir gut geht, und ich frage mich, warum du uns gar nicht mehr einlädst.

Und wenn es sich um den Partner oder die Partnerin handelt?

Wenn sich bei mir jemand meldet, der fragt, wie er seinen Partner zur Therapie bringen kann, sage ich immer: Haben Sie schon mal gehört, dass zu einer Problematik in einer Beziehung beide Parteien gehören? Suchen Sie sich zu zweit Unterstützung, Sie haben schließlich beide damit eine Not. Sie sagen: Ich halte es mit der Person nicht mehr aus. Die sagt: Ich halte es auch nicht mehr aus, weil der andere mir ständig Druck macht. Aber beide wollen gesehen und gehört werden.

Kann der Gedanke an diejenigen, die sich irgendwann mit all den Hinterlassenschaften beschäftigen müssen, beim Loslassen helfen?

Zu mir kamen schon Klienten, die sagten: Ich möchte nicht, dass meine Kinder später meine ganzen Sachen ausmisten müssen. Dann sage ich: Gut, damit fangen wir an, das ist Ihre Motivation. Und vielleicht landen wir dann sogar noch im Hier und Heute, sodass Sie selbst auch etwas davon haben – weniger Ballast und mehr Lebensfreude.

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18 Kommentare

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  • Das ist mal ein gutes, feinfühliges Interview zu einer Thematik, mit der sonst gerne Empörungs- und Belustigungsreaktionen bedient werden.

    Was ich gerne noch ergänzen würde:



    Ein weiterer Grund für eine Hortungsstörung liegt meiner Erfahrung nach oft in sozialen Störungen und / oder Einsamkeit. Solange das gesamte Haus zugestellt ist, und es keinen Platz zum Sitzen, Gehen, Stehen gibt, kann ich auch niemanden einladen, bzw. Gäste nicht hineinbitten. Selbst wenn es überhaupt keine angemeldeten Gäste gibt.



    In einem freien, aufgeräumten, stillen Haus zu sitzen, zu dem einfach keine Gäste (mehr) kommen, oder das den Tod / die Trennung des Partners noch greifbarer macht, ist schmerzhafter und schlechter auszuhalten als türmeweise Platzhalter zu stapeln oder anzuhäufen.

  • Ich bin doch kein Messi, ich hab nur nicht genug Platz!!! :-)

  • Bücher nicht wegewerfen zu können, hat eine enorm geschichtliche Einbindung und hat oft weniger mit der Persönlichkeit zu tu, als mit den Werten einer Gesellschaft. Wir leben in DEutschland in einem Land das sich im 2. Weltkrieg mit Bücherverbrennung Schuld auf sich geladen hat. Wir leben in einer Gesellschaft die sich viel auf ihre gebildete und weise Gesellschaft einbildet. Sie können noch so gut fachlich sein, bevor sie nicht ein Buch herausgebracht haben, lädt sie neimand in eine Talkshow ein, oder zitiert sie in anerkannten Fachzeitungen. Diese sich auf Bücher, diese fast elitäre ausgerichtete gesellschaftliche Arroganz ist es die es uns im Grunde schwer macht von Büchern zu trennen, oder warum sie bei Online Coachings und Sitzungen, studierte Leute gerne vor immens langen udn hohen Bücherregalen sitzen sehen. Natürlich wirft man sowas nicht einfach weg...das wäre als würde man sich selbst den Doktortitel aberkennen. Ich bin sicher einer verstaubten Popmusiksammlung gegenüber wäre die Mehrheit weniger kritisch.

    • @pilzkonfekt:

      Man muss Bücher nicht wegwerfen oder verbrennen um sich vom materiellen Besitz zu befreien. Ich verkaufe meine nach dem ich sie gelesen habe als gebrauchte Bücher, kaufe viele auch so.



      Das spart Platz und Geld, schont die Umwelt. Mit dem Energieverbrauch für zwei Din-A4 Blätter kann man eine Tasse Kaffee kochen.



      Ich habe sogar schon welche wieder gekauft, nachdem ich sie verkauft hatte. Kostet dann nur 1,95€ Porto.

  • Ich wünschte der Menschheit, das dem Messie-Syndrom in der Finanzwirtschaft auch diese Aufmerksamkeit in den Medien geschenkt würde, wie für Dinge. Dinge oder Sachen zu horten richten einen Bruchteil von gesellschaftlichem Schaden an, wie die Gier nach Geld in der Finanzwirtschaft.

  • Die Worte mögen therapeutisch sein, die Dame hat aber nicht Unrecht.



    Ich bin weit davon entfernt, ein Minimalist zu sein und finde Marie Kondo furchtbar. Dennoch merke ich mehr, dass Besitz belastet und trenne mich regelmäßig (gerne karitativ) von Dingen, die nur noch Staub fangen oder den Schrank blockieren. Und daß heisst nicht, dass ich mein altes Sofa jetzt ersetzen muss. Aber wenn 12 alte Teller nur im Schrank stehen und die Nachbarin fürs Gartenfest sucht, darf z. B. sowas gerne weiterziehen.

  • "Wertbeimessungsstörung". Bei dem Wort schwillt mir der Kamm. "Wert" ist doch nicht nur der materielle Wert. Wer legt eigentlich fest, was etwas "wert" ist?



    Würde meine Wohnung brennen, würde ich nicht das iPad retten, sondern mein abgewetztes und geflicktes Plüschpferd, das ich schon seit 55 Jahren und 14 Umzügen mit mir rumschleppe, eine Erinnerung an die 5 Jahre meines Lebens, in denen ich glücklich war, und danach nie wieder.

    Warum ist jemand "gestört", der/die Dingen einen anderen Wert beimisst als vom Konsumismus vorgegeben?

    Warum ist jemand "krank", der/die es nicht übers Herz bringt, sich von ans Herz gewachsenen Gegenständen zu trennen, oder wert(!)volle Ressourcen zu vergeuden, nur weil "man" es so verlangt?

    Ich bin die Erzfeindin aller Kapitalisten: vieles von dem, was ish benutze, ist 40-70 Jahre alt, Plastikbehältnisse werden mehrfach benutzt, meine neuesten Klamotten sind auch schon 10 Jahre alt. Ich besitze 3 Paar Schuhe, aber hunderte Bücher, die man mir aus der kalten starren Hand winden müsste, um sie zu entsorgen.

    Ich lebe lieber in einer vollgestopften Wohnung, die meinem ICH entspricht, als in einem sterilen Vorführraum aus dem Möbelkatalog. Übrigens sind die modernen Möbel sowas von potthässlich, da gefallen mir meine von 1954 besser.

    • @Schnetzelschwester:

      "gestört" und "krank" ist (und fühlt sich) derjenige nicht wegen einer individuellen Entscheidung, Dingen einen anderen Wert beizumessen als andere. Sondern wenn er/sie die Wohnung nicht mehr nutzen kann und das als Problem empfindet.

    • @Schnetzelschwester:

      Bei der "Wertbeimessungsstörung" geht es nicht vordergründig um materiellen Wert vs. Herzenswert, sondern darum, daß bei Dingen überhaupt keine Unterscheidung nach jeglichen Werten erfolgt, sondern tatsächlich wertlosen Dingen wie beispielsweise alten Prospekten, Flyern, Kassenzetteln, Pizzakartons, Verpackungen, Müll, zerlumpten Kleidungsstücken, die seit 20 Jahren nicht mehr getragen wurden und auch gar nicht mehr passen,... ein emotionaler Wert angeheftet wird, der es für die Betroffenen unmöglich macht, diese Dinge "einfach" (oder überhaupt) wegzuwerfen.

      Wenn Sie einmal bei einer Entrümplungsaktion mitgemacht haben, und Ihnen der Betroffene zum dritten Mal ein unlesbares, von Katzenurin verklebtes, verschimmeltes Buch aus der Hand gerissen und in eine "BEHALTEN!"-Kiste geworfen hat, und Sie angestarrt und angeschrien hat, als hätte Sie sich mit dem Hochzeitskleid seiner Mutter den Allerwertesten abgewischt, verstehen Sie, was ich meine.

    • @Schnetzelschwester:

      der bericht ist nicht an sie persönlich gerichtet, sondern an menschen, die niemanden mehr einladen, sich selber isolieren, schämen udn unwohl fühlen. all das ist bei ihnen offenbar nicht der fall, weshalb also fühlen sie sich hier so angegriffen?gönnen sie den menschen die es betrifft, dass sie hier eine chance haben, ihr verhalten zu spiegeln und ideen zu finden, damit umzugehen. si können ja nicht erwarten dass sich die ganze welt IHREM empfinden von wertbeimessung anpassen! stattdessen sollten sie an ihrer etwas selsbtbezogenen überempfindlichkeit arbeiten. sie dürfen doch alles behalten, was ihnen freude macht und guttut, ich sehe hier niemanden der ihnen das nehmen will?

    • @Schnetzelschwester:

      Als Beispiel wurden u.a. die Bücher angegeben. Da ging es nicht um finaziellen Wert sondern darum, dass die Freundin meinte, dass ohne diese Bücher sie nicht mehr die Person wäre zu dem die Bücher sie gemacht haben. Was ja Quatsch ist, auch ohne die Bücher ist sie die selbe Person. Aber sie hat den Büchern so einen Wert beigemessen.

      Oder die Person die alte Zeitungen vom Vater aufhebt weil für sie das die einzige Bindung zum Vater ist die sie je hatte.

      Und es wurde auch gesagt, dass so lange es nicht anfängt zu stinken und zu krabbeln und die Nachbarn stört, jeder sich so zumüllen kann wie er möchte.

      Also mal ruhig Blut.

      (...)

      Der Kommentar wurde bearbeitet. Unsere Netiquette können Sie hier nachlesen: taz.de/netiquette

      Die Moderation

    • @Schnetzelschwester:

      Es geht gar nicht so um materiellen Wert. Das Plüschpferdchen ist ein Herzenswert. Die 1500ste Zeitung, die sich im Wohnzimmer stapelt weil man könnte ja evt. mal noch was nachlesen wollen, aber es nie tut ist was anderes. Vor allem wenn das Wohnzimmer so voll ist, daß niemand mehr rein paßt und selbst wenn man was nachlesen wollte es unmöglich wäre die Zeitung in dem Berg zu finden (und dann letztlich doch online nachschlägt weil das einfacher ist).

      "Pathologisch" bedeutet Leid. Scham, soziale Isolation, gesundheitliche Gefährdung, völlige Überforderung. Messies sind nicht glücklich mit ihrer vollgestopften Wohnung, ist ist eine Belastung. Das heißt nicht, daß Messies zu Minimalisten werden müssen, es sei denn sie wollen das. Es geht darum, frei zu werden von den Zwängen, die das Gerümpel mit sich bringt. Sich entscheiden können, selbstwirksam zu werden, sich selbst ein schönes Leben zu schaffen statt von dem Berg von Zeug dominiert zu werden. Wenn das schöne Leben voller Dinge ist, die sie gern haben/benutzen kein Problem.

      Wenig Kleidung besitzen, bei Fast Fashion nicht mitmachen, Sachen ausbessern, super. Wenn man die löcherigen, labberigen Unterhosen nicht wegwerfen kann weil das emotional unerträglich wäre ist eine andere Geschichte. Da kann man schon fragen ob die wirklich einen "Wert" haben, außer vielleicht als Putzlappen. Da hängt emotional was fest, das mit löcherigen Unterhosen wahrscheinlich gar nichts zu tun hat. Die sind nur ein Symptom.

    • @Schnetzelschwester:

      "Bei dem Wort schwillt mir der Kamm. "Wert" ist doch nicht nur der materielle Wert."



      Steht auch nirgendwo im Text, dass es um den materiellen Wert geht.

    • @Schnetzelschwester:

      Das eine hat doch aber mit dem anderen nichts zu tun. Ich habe auch viele alte Dinge, an denen ich aber hänge und sie auch nutze. Im Gegensatz dazu habe ich neulich mit einem Freund die Wohnung seiner verstorbenen Mutter beräumt, da waren Vermögen an Porzellan und Glas noch unbenutzt im Originalkarton und ein Raum vollgestapelt mit Zeug, was nie benutzt wurde. Und ich meine so voll, dass außenrum nur noch ein Gang war.

  • 》Gleichzeitig hat es gegenüber den Kindern nur selten an emotionaler Zuwendung gefehlt《

    Eine Marie-Kondo-Wohnung hingegen stelle ich mir eher als die ideale Voraussetzung für die Prägung zum späteren Messie vor: nichts, womit wan wirklich spielen könnte, u.U. müssen Kinder da sogar sehr brav aufpassen, dass sie nicht selbst zu "was" werden, das weg kann bzw. 'muss'

    Und raus- und wieder reingezoomt: wenn alle das so wegschmeißen, wie es sich auf diesem Aufräumlevel gehört, dürfen es dann solche "Babies" hier is.gd/dTLlvb ausbaden:

    》Tiny turtle pooed ‘pure plastic’ for six days after rescue from Sydney beach《

    Oder diese Menschenkinder hier: is.gd/UbRcJa 》"Sodom und Gomorrha"nennen Einheimische den Schrottplatz Agbogbloshieim Zentrum von Accra. Dort stehen Kinder in sengender Sonne auf einer Halde, aus der 300 Grad heiße Dämpfe wabern. Sie weiden Computer und andere Elektrogeräte aus, die aus Europa und aus anderen Regionen nach Ghana exportiert wurden. In Afrika lassen sich Teile der Geräte verkaufen. Dafür zertrümmern die Kinder die Gegenstände - dann legen sie Feuer, in denen alles außer den wertvollen Metallen schmilzt《

    Jede*r wird doch permanent angeschrien¹, er*sie solle dies und dann noch jenes kaufen, um wer zu sein - und die, die da aussteigen, das Zeug behalten, sind dann die pathologischen Fälle?

    ¹"Nach eigenen Angaben lässt Rewe derzeit noch rund 25 Millionen Werbeprospekte verteilen. Durch den Verzicht auf die Handzettel könne die Supermarktkette nun 73.000 Tonnen Papier, 1,1 Millionen Tonnen Wasser, 70.000 Tonnen CO2und 380 Millionen Kilowattstunden Energie im Jahr einsparen" is.gd/JEvAn7 (und nebenbei bemerkt, wenn wan die als Pappe bei der gegenwärtig oft als besonders nachhaltig angepriesenen (z.B. hier is.gd/sFBBd7 ) No-Dig-Methode verwendet, ist das ein ziemlich sicherer Weg, auch den eigenen Garten dauerhaft zu verseuchen is.gd/nX3F4Q )

    Kondo hat übrigens inzwischen auch einen Shop.

  • Bei Büchern sehe ich das ehrlich gesagt anders. Ich habe schon oft Bücher weggegeben und nach einem Jahr oder später neu gekauft, weil ich sie doch noch mal lesen wollte. Viele Bücher liest man immer wieder, in kurzen oder langen Abständen, und es gibt immer wieder Passagen, an die man sich nicht hundertprozentig erinnern konnte oder die man immer wieder anders interpretieren kann.

    • @BlauerMond:

      Es kommt drauf an, warum man die Bücher nicht weggeben will.



      Auch Kronkorken zu sammeln kann eine gesunde Sammelleidenschaft sein.



      Solange Sie sich nicht selbst von der Anwesenheit der Dinge abhängig machen.

  • Bei Büchern sehe ich das ehrlich gesagt anders. Ich habe schon oft Bücher weggegeben und nach einem Jahr oder später neu gekauft, weil ich sie doch noch mal lesen wollte. Viele Bücher liest man immer wieder, in kurzen oder langen Abständen, und es gibt immer wieder Passagen, an die man sich nicht hundertprozentig erinnern konnte oder die man immer wieder anders interpretieren kann.