Personalmangel in Deutschland: Neuland auf dem Arbeitsmarkt
Fachkräfte und Hilfspersonal werden dringend gesucht. Deutschland muss bei Berufsabschlüssen flexibler werden, sagen Experten.
Bei den Sicherheitskontrollen der Fluggäste käme der Einsatz kurzfristig eingereister Kräfte aus dem Ausland wegen der „nötigen Ausbildung und den geltenden Sicherheitsstandards nicht in Betracht“, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am Montag. Auch wer in der Gepäckabfertigung arbeite, müsse aber eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen, betonte der Sprecher. Deutschkenntnisse des Personals scheinen für die Gepäckabfertigung am Flughafen keine Rolle zu spielen.
Das Beispiel an den Flughäfen zeigt, was alles möglich ist, wenn keine hiesigen Arbeitskräfte mehr vorhanden sind, um dringend notwendige Dienstleistungen zu erbringen. Personalmangel findet sich inzwischen fast überall. „Es gibt kaum ein Berufsfeld, wo nicht der Mangel an Kandidaten zu spüren ist“, sagt Martin Heinen, Sprecher des Personaldienstleisters Adecco, der taz, „man kann nicht mehr nur von einem Fachkräftemangel sprechen, es ist ein Arbeitskräftemangel, es betrifft alle Levels“.
Marcus König, Oberbürgermeister von Nürnberg, berichtete kürzlich: „Die Gastronomen erzählen mir: Wir finden keine Servicekräfte mehr. In Hotels in Nürnberg werden 100, 200 Zimmer nicht vergeben, weil sie nicht bewirtschaftet werden können, da die Arbeitskräfte dafür fehlen.“ König sprach in Nürnberg auf einer Veranstaltung des IAB-Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit zum Thema „Deutschland im demografischen Dilemma - woher sollen die Arbeitskräfte kommen?“
Demografie erhöht Personalmangel
Die Expert:innen machten auf der IAB-Veranstaltung mehrere Ursachen für den Personalmangel aus: Zum einen hat man die Auswirkungen der Demografie, der Geburtenrückgänge, vielerorts unterschätzt. Hinzu kommt ein Trend zu höheren Schulabschlüssen, der dem Handwerk Probleme bereitet: Wer im Alter von 17, 18 Jahren lieber das Abitur oder Fachabitur anstrebt, der geht nicht als Azubi ins Handwerk, wo man von Anfang an eine anstrengende Woche mit bis zu 40 Arbeits- und Lernstunden hat. Hinzu kommen die Auswirkungen der Pandemie: Wer in der Gastronomie seinen Job verlor und woanders anfing, kehrt jetzt nicht unbedingt wieder dahin zurück.
Wolfram Linke, Sprecher des Interessenverbands Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ), sagte der taz, dass etwa Beschäftigte, die vorher im Gastronomiebereich tätig waren, während Corona „zur Post, zu Lieferdiensten“ gewechselt seien. Viele studentische Jobber seien während Corona in Verwaltungen gegangen, in Gesundheitsämter, dort wurde Personal gesucht für die Dateneingabe.
Einige fingen in Impfzentren an, berichtet Heinen. Manche blieben dann in Bürojobs etwa bei Trägern im Gesundheitsbereich, „wer vorher jahrelang in der Gastronomie arbeitete, der merkt jetzt, eine Arbeit ohne Wochenendschichten ist auch nicht schlecht“, so Heinen.
Ohne Zuwanderung läuft nichts
Aber woher sollen nun die Arbeitskräfte kommen in den Branchen, die händeringend suchen? Die Zahl der offenen Stellen erreichte im ersten Quartal dieses Jahres mit 1,74 Millionen einen neuen Rekordwert, meldete das IAB.
Nur mit einer jährlichen Nettozuwanderung von 400.000 Personen bliebe das Arbeitskräfteangebot bis zum Jahre 2060 konstant, so das Institut. Diese Zahl wird derzeit längst nicht erreicht. In einer IAB-Studie gingen die Forscher:innen von einer Nettozuwanderung von 100.000 Personen, einer steigenden Erwerbsquote der Frauen und der Älteren aus und kamen dabei immer noch auf einen Rückgang der Erwerbspersonen um etwa ein Fünftel bis zum Jahre 2060.
Frühere Hoffnungen, dass der Personalmangel weitgehend durch Arbeitskräfte aus den EU- Nachbarländern behoben werden könnte, werden von den Experten enttäuscht. „Die Einwanderung aus der EU geht dramatisch zurück“, sagte Herbert Brücker, Migrationsexperte des IAB.
Mehr kürzere Ausbildungen gefragt
Brücker und andere Integrationsexperten werben für eine erleichterte Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen, für mehr berufsbegleitenden Deutschunterricht und für mehr Flexibilität bei der Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland.
Bei den Zugewanderten gebe es relativ hohe Anteile von Menschen, die keine oder keine in Deutschland anerkannte Berufsausbildung haben, sagte Brücker. „Man muss darüber nachdenken, was wir Menschen, die keine abgeschlossene Berufsausbildung im deutschen Sinne haben, für Angebote machen. Es muss nicht immer das Richtige sein, dass wir dort zur Ausbildung führen, es kann das Richtige sein, anzulernen“, so Brücker, der sich für mehr „Teilqualifikationen“ aussprach, „da sind wir im Bereich des Neulands“.
Unter „Teilqualifikationen“ können zum Beispiel mehrmonatige Weiterbildungen zur LKW-Fahrer:in verstanden werden, zur Sozialassistent:in, zur Kassierer:in an Computerkassen, zur Pflegehelfer:in, zur sogenannten Elektrofachkraft für bestimmte Anwendungen.
Wer solche Zertifikate hat, landet dann in der Berufsstatistik dennoch in der Kategorie der „Helfertätigkeiten“, nicht jener der Fachkräfte. „Wir beobachten, dass im Bereich der Helferberufe die Erwerbstätigkeit fast doppelt so stark gewachsen ist wie bei den Fachkräften“ sagte Brücker. Fragt sich, wie die Bezahlung und die Aufstiegschancen in diesen Bereichen dann ausfallen.
Zwei Protokolle von suchenden Chef:innen:
1. Die Personalchefin eines Bäckerbetriebs sucht Fachkräfte über Facebook
Stellenausschreibungen? Die veröffentlichen sie auf allen möglichen Plattformen – sogar auf Facebook, um möglichst viele Menschen zu erreichen, erklärt Katrin Exner. Als Personalchefin ist sie im Bäckereibetrieb Exner für mehr als 240 Mitarbeitende verantwortlich.
Im Moment gibt es zehn freie Stellen in der Firma, sagt Exner und ergänzt: „Wir sind eigentlich immer auf der Suche nach Angestellten.“ Hauptsächlich suche sie nach Fachkräften, aber es gebe Plätze für Quereinsteiger:innen. Der tägliche Betrieb lasse sich trotzdem noch gut bewältigen. Allerdings stocke die Unternehmensentwicklung, weil einfach keine Kapazitäten dafür vorhanden seien, erklärt sie.
Ein großer Teil der Bewerbungen, die sie über Facebook erreichen, seien jedoch schwer zu bearbeiten: Es handele sich oft um Bewerber:innen aus dem außereuropäischen Ausland, die schnell einen Arbeitsvertrag wollten, um legal nach Deutschland einreisen zu können. Den Exners ist das zu unsicher. Würde sich etwas in der arbeitsmigrationsrechtlichen Lage ändern – etwa durch ein Visum für Bewerbungsgespräche oder Probearbeiten –, dann ließen sich auch Arbeitskräfte aus dem außereuropäischen Ausland leichter einstellen, meint Katrin Exner.
Die offenen Stellen beim Bäckereibetrieb Exner sind auch bei der Agentur für Arbeit gelistet. Trotzdem könne sie nur wenige neue Mitarbeiter:innen nach einer Vermittlung durch das Arbeitsamt einstellen, berichtet die Personalchefin: „Entweder die Leute kommen gar nicht erst zum Bewerbungsgespräch, oder sie kommen danach nie wieder.“ Viele Bewerber:innen würden gleich im Vorstellungsgespräch klarstellen, dass sie nur für den benötigten Stempel gekommen seien. Exner versteht nicht, warum das Arbeitsamt da keine bessere Vorarbeit leistet: „Man muss die Menschen doch nicht zwingen, sich bei uns vorzustellen, wenn der Beruf nichts für sie ist.“
Lehrinhalte sind oft veraltet
Eine Ursache für den Arbeitskräftemangel in der Bäckereibranche sieht Exner in der schleppenden Modernisierung der Lehrinhalte. Die Ausbildung hinke Jahre hinter der rasanten Entwicklung des Lebensmittelhandwerks zurück. Es gebe völlig neue IT- und Kassensysteme. Wichtig sei aber auch ein stärkerer Fokus auf nachhaltige Produktionsweisen. Weil solche Themen zu kurz kommen, seien die fertig ausgebildeten Mitarbeiter:innen zum Teil gar nicht auf dem neuesten Wissensstand.
Das schlechte Image der Branche sei ein weiterer Grund für die vielen offenen Stellen. Vor allem der vermeintlich frühe Schichtbeginn schrecke viele potenzielle Mitarbeiter:innen ab. Zu Unrecht: Man müsse gar nicht mehr in jedem Beruf in der Bäckereibranche früh aufstehen, stellt Katrin Exner klar.
2. Ein Elektrotechnikmeister sucht seit anderhalb Jahren Gesell:innen
„Natürlich habe ich etwas zum Arbeitskräftemangel zu sagen. Das ist ein schwieriges Thema“, sagt Elektrotechnikmeister Patrick Michael Lersch der taz. Der selbstständige Unternehmer berichtet, dass er seit anderthalb Jahren zwei Gesell:innen-Stellen in seinem Unternehmen nicht besetzt bekommt. Monteure, insbesondere mit Gesell:innenbrief, seien einfach schwer zu finden.
Wenn sich Menschen bei ihm bewerben, dann oft nur für einen Minijob oder als Hilfsarbeiter:in. Doch ohne Gesell:innen kann er keine Hilfskräfte einstellen. Denn die brauchen Fachkräfte, die sie einarbeiten und bei denen sie mitlaufen können, erklärt Lersch.
Nachdem er mehrere Monate keine geeigneten Bewerbungen auf seine Stellenanzeigen bekommen hatte, wendete er sich ans Arbeitsamt. Das aber vermittelte ihm nur ungeeignete Arbeitskräfte. Lersch erzählt von unausgebildeten und unmotivierten Menschen, die kein Interesse an dem Beruf haben: „Die wollen sich nicht bewerben, die müssen sich bewerben.“
Nach den ernüchternden Erfahrungen mit dem Arbeitsamt kontaktierte der Düsseldorfer Unternehmer kommerzielle Vermittlungsagenturen. Schnell stellte sich aber heraus, dass sich deren Dienste für Lersch nicht lohnten. Deshalb wartet er jetzt wieder darauf, dass sich geeignete Bewerber:innen auf seine Stellenanzeigen melden.
Kunden warten ein halbes Jahr
Bei dem derzeitigen Arbeitskräftemangel ist es normal, dass die Kund:innen des Elektrotechnikmeisters ein halbes Jahr auf den Austausch einer Elektroanlage oder die Installation von „Smart Home“-Anwendungen warten müssen. Mehrmals pro Woche muss Lerschs Firma sogar Aufträge ganz ablehnen.
Kolleg:innen in seinem Bekanntenkreis gehe es ähnlich, erzählt Lersch. Manche von ihnen hätten sogar die Selbstständigkeit aufgegeben und seien zurück in eine Festanstellung gegangen: „Da ist um 16 Uhr Feierabend und man kann ruhig schlafen, anstatt sich mit den sich häufenden Aufträgen herumschlagen zu müssen.“
Wie lässt sich der Arbeitskräftemangel denn beheben? „Irgendwie muss man das ehrliche Interesse an dem Beruf wieder herstellen“, meint Lersch. Finanzielle Anreize seien nicht die Lösung. Schon jetzt verdienten Elektromonteure deutlich mehr als noch vor einigen Jahren. Wenn der Arbeitspreis weiter stiege, könnte die Kundschaft die Auftragskosten irgendwann nicht mehr stemmen und die Aufträge brächen vollständig weg, erklärt er.
Protokolle: Marita Fischer
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