Meinungsforscher über Umfrageergebnisse: „Scholz löst keine Ängste aus“
Der steile Anstieg der SPD in Umfragen ist ungewöhnlich. Ein neues Phänomen ist es aber nicht, sagt Thomas Petersen vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach.
taz: Herr Petersen, wie ungewöhnlich ist der steile Aufstieg der SPD in den Umfragen?
Thomas Petersen: Ungewöhnlich, aber nicht neu. Es gab auch 2002 einen rapiden Umschwung. Da lag die Union bis kurz vor der Wahl scheinbar uneinholbar vorne. Am Ende gewann Rot-Grün. Das lag an Schröders Flut-Auftritt, dem Irakkrieg und Edmund Stoibers missglücktem TV-Duell. Auch 1961 gab es extreme Ausschläge vor der Wahl, vor allem wegen des Mauerbaus.
Also gibt es rasante Stimmungswechsel – aber nur als Folge zentraler Ereignisse?
Nicht ganz. 1965 lagen kurz vor der Wahl SPD und Union gleichauf. Die Wahl gewann die Union haushoch, ohne ein Schlüsselereignis.
52, ist Meinungsforscher und arbeitet als Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach.
Eine Deutung für die unerwartete SPD-Hausse ist: Stimmungen schlagen mehr durch, weil es weniger Stammwähler und daher mehr Volatilität gibt. Ist das einleuchtend?
Jein. Die Bindung an Parteien ist schwächer geworden ist. Der Anteil der Wähler, die nur eine Partei wählen, geht laut unseren Umfragen seit den 70er Jahren zurück. Das ist kein Wunder. Die Milieus der Volksparteien – die Industriearbeiterschaft bei der SPD, die katholische Provinz bei der Union – sind geschrumpft. Aber rapide Stimmungsumschwünge gab es auch schon, als es noch weit mehr Stammwähler gab.
Laut Allensbach hat die SPD 27 Prozent …
Das ist viel mehr als im Juli, liegt aber noch im Spektrum der SPD in den letzten zehn Jahren. Bei der Wahl 2013 hatte die SPD knapp 26 Prozent. Wir sehen weniger eine extreme Konjunktur der SPD als ein Abflauen bei Grünen und Union. Auffällig schwach sind die 25 Prozent der Union.
Forsa hat die Union im gleichen Zeitraum wie Allensbach bei 19 Prozent gemessen. Diese 6 Prozent Unterschied übersteigt die Schwankungsbreite von 2,5 Prozent. Können Sie das erklären?
Nein. Meist liegen die Institute nahe beieinander. Hier nicht.
Was ist das Besondere dieser Wahl?
Es ist die erste Wahl seit 1949 ohne Amtsinhaber. Also ohne Amtsbonus oder Abwahlstimmung. Zweitens: Normalerweise ist drei Wochen vorher absehbar, wer stärkste Partei wird, wer verlieren, wer gewinnen wird. Diese Konturen sind derzeit schwerer zu erkennen. Wir wissen nicht, wie die Wahl ausgeht.
Gibt es systematische Gründe für diese diffuse Situation? Oder eine Häufung solcher Situationen?
Nein, ich arbeite seit 30 Jahren bei Allensbach. So etwas passiert immer mal wieder. Der Wahlausgang ist auch deshalb schwer zu prognostizieren, weil 46 Prozent jener, die wählen wollen, noch unentschieden sind. Das sind so viele wie 2017. Aber deutlich mehr als bei den Wahlen zuvor.
Gibt es wahlentscheidende Themen?
Laut unseren Daten: Einwanderung und Klima, in dieser Reihenfolge. Wobei auffällt, dass Letzteres weit mehr mediale Aufmerksamkeit hat.
Gibt es eine Wechselstimmung?
Ja – und nein. „Soll die Regierung wechseln?“, ist eine unserer Standardfragen. Derzeit messen wir einen sehr ausgeprägten Wechselwillen. Allerdings tritt die Regierung ja nicht mehr an. Daher ist diese Zahl nur bedingt aussagekräftig.
Wie sieht es bei Veränderung versus Stabilität aus? Wollen die WählerInnen Reformen oder dass alles bleibt, wie es ist?
Interessanterweise beides. Es gibt Mehrheiten, die in manchen politischen Bereichen einen Neustart wollen. Gleichzeitig sind weite Teil der Bevölkerung getrieben von der Angst vor Veränderung. Eine Chiffre dafür ist die Skepsis gegenüber Einwanderung. Das ist meiner Ansicht nach keine Ausländerfeindlichkeit, sondern geboren aus der Furcht, dass die Welt, die man kennt, aus den Fugen gerät. Bei der Frage „Freiheit oder Sicherheit“ entscheidet sich die Mehrheit für Sicherheit.
Das ist nicht immer so?
Nein, das schwankt. Wir sehen da aber einen langfristigen Trend. In einer alternden Wohlstandsgesellschaft wird Sicherheit immer wichtiger. Die Älteren haben ein ausgeprägteres Sicherheitsbedürfnis. Sie wollen weniger Risiken eingehen und sind eher zufrieden, wenn es bleibt, wie es ist.
Kann es sein, dass Olaf Scholz diesem Sicherheitsbedürfnis eher entspricht als Armin Laschet?
Scholz ist jedenfalls niemand, der Ängste auslöst.
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