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Truppenabzug aus AfghanistanTür auf für die Taliban

Thomas Ruttig
Kommentar von Thomas Ruttig

Mit der Ankündigung, alle Truppen abzuziehen, überlassen die USA und ihre Verbündeten Afghanistan bewaffneten Fraktionen – bedingungslos.

Demnächst auf dem Rückzug: US-Soldaten in Afghanistan während eines Besuchs von Trump 2019 Foto: Tom Brenner/reuters

I n Afghanistan beginnt nach fast 20 Jahren das Endspiel der gescheiterten US-Intervention nach den islamistischen Anschlägen des 11. September. Mit der Ankündigung, alle Truppen bedingungslos abzuziehen, (wenn auch nicht wie ursprünglich mit den Taliban vereinbart zum 1. Mai), schließen die USA dieses Kapitel für sich und ihre Verbündeten ab. Afghanistan überlassen sie sich selbst, oder genauer gesagt, den bewaffneten Fraktionen, von denen die Taliban nur eine sind.

Aber das Endspiel ist nicht gleichbedeutend mit dem Ende. In einem neuen Kapitel werden die Karten, das heißt die Macht, neu verteilt. Nur, dass die USA und der Westen insgesamt darauf nicht mehr viel Einfluss haben werden. Auch eine Verhandlungslösung ist damit nicht vom Tisch.

Die Taliban haben zwar ihre Teilnahme an der von den USA angeregten Afghanistan-Friedenskonferenz Ende des Monats in Istanbul abgesagt. Sie geben damit aber lediglich zu verstehen, dass ein Friedensschluss und eine Machtteilung nur noch zu ihren Bedingungen und nach ihrem Zeitplan stattfinden werden. Kalt spielen sie ihre militärische Kontrolle über die Hälfte des Landes aus sowie ihre politisch-diplomatische Position, in die sie das bilaterale Abkommen mit den USA vom Februar 2020 und nun auch die Ankündigung des bedingungslosen Truppenrückzugs gebracht haben. Wer etwas anderes erwartet hatte, folgte einer Illusion.

Es ist nicht zu vermuten, dass die Taliban nach dem Abzug im September einen militärischen Durchmarsch nach Kabul versuchen werden. Das würde sie sofort interna­tio­nal isolieren. Das auch nach 20 Jahren westlichen Engagements immer noch extrem arme Land wird auch mit ihnen an der Macht, allein oder (zunächst?) in einer Art Koalition, von externen Zuschüssen abhängig sein. Zudem verfügt die derzeitige Regierung noch über 300.000 Soldaten und Polizisten. Scheitert aber eine innerafghanische Regelung, dann könnten Teile dieser Truppen zum vermeintlichen Sieger überlaufen, ein neuer Fraktionskrieg könnte ausbrechen.

Was häufig übersehen wird: Auch die amtierende afghanische Regierung besteht zu großen Teilen aus Islamisten, die sich ­ideologisch nicht sehr von den Taliban unterscheiden, besonders in Bezug auf Frauenrechte, aber auch auf demokratische Rechte und Menschenrechte insgesamt. Um sich an der Macht zu halten, könnten zumindest ­einige von ihnen zu den Taliban umschwenken.

Da die USA und ihre westlichen Verbündeten nicht unschuldig an der verfahrenen Lage in Afghanistan sind, ist der Truppenabzug als Türöffner für die Taliban zumindest selbstvergessen. Gegenüber der afghanischen Zivilbevölkerung aber, die allein die Konsequenzen tragen muss, ist er nichts als arrogant. Mit der Hand am Geldhahn kann der Westen vielleicht noch einige der schlimmsten Folgen auffangen.

Mehr aber auch nicht.

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Thomas Ruttig
Autor:in
Mitbegründer des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network Kabul/Berlin (https://www.afghanistan-analysts.org/en/). Abschluss als Diplom-Afghanist, Humboldt-Univ. Berlin 1985. Erster Afghanistan-Aufenthalt 1983/84, lebte und arbeitete seither insgesamt mehr als 13 Jahre dort, u.a. als Mitarbeiter der DDR-, der deutschen Botschaft, der UNO und als stellv. EU-Sondergesandter. Seit 2006 freischaffend. Bloggt auf: https://thruttig.wordpress.com zu Afghanistan und Asylfragen. Dort auch oft längere Fassungen der taz-Beiträge.
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17 Kommentare

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  • Erinnert sich noch jemand daran, wie es vor dem Einmarsch von Nato und USA in Afghanistan aussah? Dass damals Taliban an der Macht waren? Vor denen kurz zuvor Russland kapituliert hatte? Was haben 20 Jahre "Krieg gegen den Terror" gebracht?



    Dass die Sache so ausgeht, wie sie jetzt ausgeht, war absehbar.

  • Die Amerikaner waren wegen 9/11 in Afghanistan, nicht wegen der Menschenrechte. Diese Rechte waren aber in Deutschland immer ein öffentliches Motiv des Engagements. Daher stellt sich die Frage, ob es nicht eine Koalition der Ehrlichen gibt, die dort bleiben wollen, um die Menschenrechte weiterhin zu schützen.

    • @Wolfdieter Hötzendorfer:

      "Auch die amtierende afghanische Regierung besteht zu großen Teilen aus Islamisten, die sich ­ideologisch nicht sehr von den Taliban unterscheiden, besonders in Bezug auf Frauenrechte, aber auch auf demokratische Rechte und Menschenrechte insgesamt."

      Also welche Menschenrechte?

      Die Menschenrechte waren immer nur ein Vorwand. Und sie sind in einem Land, in dem dauerhaft Krieg herrscht auch nicht zu gewährleisten.

  • 9G
    97287 (Profil gelöscht)

    Die Soldaten hätten schon früher abziehen sollen. Die Afghanen werden die Machtfrage intern klären. Natürlich werden dann die verschiedenen Ethnien versuchen jeweils die Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die vor Ort tätigen NGO sind die am meisten geschädigten, da keine Unterstützung aus dem Westen mehr erfolgt, die auch nicht nötig ist, und auch nicht nötig war. Wie im Iran, Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Algerien, Marokko werden die Menschen eben die Form des Zusammenlebens selbst finden. Wir sollten aufhören unsere westliche Lebensweise und Werte den Völkern im Nahen Osten und in Nordafrika aufzuzwingen. Es braucht halt noch ein paar Jahrzehnte aber sie werden es regeln, auf ihre Weise.

  • "Gegenüber der afghanischen Zivilbevölkerung aber, die allein die Konsequenzen tragen muss..."

    Der Krieg ist seit über 10 Jahren verloren und die Zivilbevölkerung zahlt täglich den Preis dafür, dass die NATO ihre Niederlage nicht zugeben will. Es wird mehr als Zeit, endlich die Realitäten anzuerkennen.

    Unverständlich ist, warum man nicht einfach vertragsgemäß zum 1. Mai abgezogen ist. Müssen wirklich Menschen sterben, um ein "schöneres" Datum zu haben???

  • „Afghanistan überlassen sie sich selbst, oder genauer gesagt, den bewaffneten Fraktionen, von denen die Taliban nur eine sind“



    Erinnert sich noch jemand an die Zeit, als von den USA der „sofortige Abzug“ aus der Region gefordert wurde? Heute haben dieselben Leute Bedenken!



    Natürlich werden danach die „bewaffneten Fraktionen“ die Regierung wegfegen (die nur mit US-Unterstützung existierte) und selbst die Macht übernehmen. Mädchen werden aus der Schule geworfen. Singen auf Hochzeitsfeiern wird mit dem Tode bestraft.



    Frieden wird es allerdings nicht geben, denn wenn der gemeinsame Feind fehlt, wird sich jede der „Fraktionen“ selbst zum Sieger erklären und gegen die anderen ins Feld ziehen.



    All das hätten die Afghanen auch schon viel früher haben können, wenn die US-Truppen nur früher abgezogen wären!

  • Am Ende lassen die USA ihre Verbündeten vor Ort immer im Stich. Unter Trump die Kurden und unter Bieden dann doch noch die Afghanen.

  • 0G
    04369 (Profil gelöscht)

    Ja zunächst einmal danke an die vielen Stoppelhoppser von der Trachtengruppe, die die letzten Jahre ihren Kopf hingehalten und unter äußerst "bescheidenen" Bedingungen, für viele Afghanis, einen guten Job gemacht haben. Und ja2, um die Worte von Wolf Dieter aufzunehmen, es wird nicht nur diejenigen gehen, die kooperierten, sondern um alle, die keine Lust auf ein mörderisches Regime haben. Es wäre fatal, den gleichen Fehler wie Anno 1979 im Iran zu machen und wegezuschauen wenn Andersdenkende eingeknastet und oder abgeschlachtet werden.

    • @04369 (Profil gelöscht):

      Wieso erst Anno 1979? Unter Mohammad Reza Pahlavi war es auch nicht besser. Der hatte mit seiner brutalen Diktatur der islamischen Revolution den Weg bereitet.

  • Ja, natürlich bedingungslos. Das ist wenigstens ehrlich. Bedingungen, die sowieso nicht eingehalten werden, dienen nur der eigenen Gesichtswahrung. Die Taliban werden wohl erstarken und sie werden die Bevölkerung unterdrücken, aber das haben sie auch schon seit Jahren in weiten Gebieten des Landes getan. Die Präsenz der Amerikaner und auch der Deutschen war nur eine Lüge auf Zeit, jetzt packt man zusammen weil es sinnlos ist und immer war und weil man jetzt keine Lust mehr hat sich beim sich belügen zusehen zu lassen.

  • Alle Afghanen, die mit den deutschen Soldaten kooperiert haben, dürften ein Anrecht darauf haben, als politisch Verfolgte in Deutschland Asyl zu beantragen, wenn die Bundeswehr abzieht. Vielleicht sollte das vor Ort ermöglicht werden, um ihnen den langen Marsch hierher zu ersparen.

    • @Wolfdieter Hötzendorfer:

      Weshalb Asyl?

      Sie haben für Deutschland gearbeitet und sollten hier nicht als Bittsteller auftreten müssen.

      Sie sollten eine befristete Aufenthaltserlaubnis mit Gestattung der Arbeitsaufnahme bekommen, und Bundeswehr sollte Ihnen ein dreimonatiges Übergangsgeld zahlen.

      So viel Fairness müsste drin sein.

    • @Wolfdieter Hötzendorfer:

      Frauen sind mindestens genauso gefährdet, wenn die Soldaten abziehen. Also müssten auch alle Frauen, die das wollen, Asyl gewährt werden. Mir tun alle Frauen dort leid, aber besonders diejenigen, die in den letzten Jahren etwas mehr an Freiheiten leben konnten.

      • @resto:

        "Auch die amtierende afghanische Regierung besteht zu großen Teilen aus Islamisten, die sich ­ideologisch nicht sehr von den Taliban unterscheiden, besonders in Bezug auf Frauenrechte, aber auch auf demokratische Rechte und Menschenrechte insgesamt."

        Das Märchen von den Rechten, die die NATO verteidigt, hält der Realität nicht stand.

    • @Wolfdieter Hötzendorfer:

      Viele von ihnen sind bereits gekommen und warten z.T. seit Jahren auf einen positiven Asylbescheid. Darunter sind auch medizinische und logistische Fachkräfte, die in Afghanistan lange für die Bundeswehr gearbeitet haben.

      Nun hagelt es von der BAMF massenhaft Negativbescheide und es wird bei den jetzt nur noch Geduldeten munter abgeschoben; die Leute hier sind zu Recht von Deutschland/der EU enttäuscht und frustriert, denn sie wurden in Afghanistan von Bundeswehrsoldaten regelrecht dazu motiviert, nach Deutschland zu kommen, es wurde vollmundig versprochen, dort werde dann alles ganz easy laufen, aber nichts davon bewahrheitete sich, obwohl diese Afghanen inzwischen längst deutsch sprechen und Qualifikationen besitzen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt gefragt sind.

      • @Khaled Chaabouté:

        Die schon Gekommenen haben vermutlich das Scheitern vorhergesehen. Der oft gehörte Vorwurf, dass die einen hingehen, um für die dortige Freiheit zu kämpfen und die, für die gekämpft wird, sich hier in Sicherheit bringen, ist nicht gerecht, da es der Führung der Intervention nicht um Freiheit sondern um die eigene Sicherheit ging.

  • 0G
    02854 (Profil gelöscht)

    "Das würde sie sofort interna­tio­nal isolieren."

    Das interessiert Extremisten leider wenig, siehe Nordkorea!