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Solidarität in KrisenzeitenWas nah geht, was fern bleibt

Die Bilder, wie Menschen in Italien von Balkonen singen, bewegen. Aber wieso blieben die singenden Menschen von Wuhan vor ein paar Wochen unbeachtet?

In China war die Lage schon Anfang Februar sehr ernst, wie hier in Schanghai Foto: Aly Song/reuters

D eutschland macht die Grenzen dicht, und ich muss lachen, irgendwie unpassend. Wie wenn es einen auf der Beerdigung kurz überkommt und man loslacht, obwohl der Anlass Ernsthaftigkeit fordert. Über geschlossene deutsche Grenzen muss ich lachen, weil sie nichts Neues sind. Deutschland hat schon lange geschlossene Grenzen – mal abgesehen von den politischen.

In diesen Zeiten ist Abschottung sinnvoll, im Kleinen wie im Großen. Flatten the curve, den Ansteckungsprozess verlangsamen, Rückzug ins Innere. Und wenn es ein Inneres gibt, dann gibt es auch ein Äußeres und dann gibt es auch Grenzen, an denen man beides vonein­ander trennt, logisch.

Auf Balkonen in Neapel stehen Menschen und singen zusammen gegen die Angst an und gegen die Ohnmacht. Der Akt an sich ist schön und wichtig und er sollte mich rühren. Ich bin aber nicht gerührt, sondern will jemandem ins Gesicht schreien. Leute teilen die italienischen Videos und schreiben „Nur in Neapel (Emojiherz) (italienische Flagge)!“, und ich weiß, mein Herz sollte jetzt warm werden vor Rührung, aber es tut weh.

Nicht weil Menschen in Italien solidarisch sind, sondern weil Menschen in Deutschland mit singenden Menschen in Italien solidarischer sind als mit singenden Menschen in China.

Wer entscheidet, was nah ist?

Ich kenne diese Bilder schon, sie sind mehrere Wochen alt. Da filmten Menschen in Wuhan aus Hochhausfenstern heraus Szenen, in denen gemeinsam gesungen wird, einander Mut gemacht, sich beigestanden. Prinzipiell wie in Italien. Egal wo, der Akt an sich ist gleich schön und gleich wichtig. Dass mich eines berührt, während das andere mich wütend macht, hat nichts mit Ort und Zeit zu tun, sondern mit Wahrnehmung.

Die Leute sagen, das sei nun mal so, so funktioniere der Mensch eben. Italien ist näher dran als China und was nah dran ist, berührt mehr. Ich finde das irgendwie unpassend. Wer entscheidet, was nah ist? Ich fühle mich Wuhan näher als denen, die mir Distanz erklären. Die Leute sagen, wir bräuchten doch gute Geschichten, gerade jetzt. Es sei doch kein Wettbewerb, wer zuerst gesungen oder für die 80-jährige Nachbarin eingekauft hat.

Die Leute sagen, wir brauchen Solidarität, aber sie meinen Solidarität in Grenzen. Ich will wissen, wie Solidarität ihren Namen verdient hat, wenn in Griechenland Ventilatoren Kinder wegblasen, oder ein paar Tage nach Hanau wieder alles wie immer ist, oder wenn sich vor ein paar Wochen fast niemand nach meiner Familie in China erkundigt hat.

Die Leute sagen, das sei Whataboutism, ich nenne es Ignoranz. „Wir können eben nicht alle retten“, ist oft eine runtergespulte Ausrede. Wahrscheinlich können wir nicht. Aber es macht einen Unterschied, ob wir es versuchen. Sonst bleiben Menschen mit anderer Nähe und Distanz auch hier immer irgendwie unpassend. Sonst bleiben deutsche Grenzen dicht – mal abgesehen von den politischen.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag.
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15 Kommentare

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  • Liebe Frau Hierse.

    Die Bild hatte am 30.01.10 dieses Video ( „Diese Bilder aus Wuhan sorgen für Gänsehaut“)



    auf youtube veröffentlicht:

    www.youtube.com/watch?v=60fhp-ZB9jw

    954.158 Aufrufe im deutschsprachigen Raum.



    Das von Ihnen verlinkte Video („Wuhan residents chant ‘Keep it up, Wuhan’ out of their windows to boost morale“) englisch, also mit deutlich höherer Reichweite hat 1.248.602 Aufrufe.

    Die Morgenpost hatte am 30.01.20 diesen Artikel veröffentlicht:



    www.morgenpost.de/...gen-Isolation.html

    Ebenso am 30.01.20 die Westfälische Rundschau:

    www.wr.de/panorama...n-id228285763.html

    Am 29.01.10 Watson aus der Schweiz:

    www.watson.ch/inte...geisterstadt-wuhan

    Könnten Sie denn bitte noch denTaz-Artikel über die singenden Menschen in Wuhan verlinken?



    Den muss es doch sicher gegeben haben, ich finde ihn aber nicht.



    Vielen Dank für Ihre Hilfe.

  • Manchmal denk ich, es ist scheinbar unheimlich schwer, die Empfindungen andere Leute einfach mal so stehen zu lassen, ohne gleich unter Rechtfertigungszwang zu geraten, oder beweisen zu müssen, dass sie Unrecht haben.

  • Ich sah nie Bilder, Videos aus China, wo die Leute auf Balkonen sangen. Ich glaube, vielen Leuten geht's da genauso. Und genauso hätte ich Chinesen dafür bewundert wie Italiener... Ganz klar. Mir kommt das (Artikel) sehr künstlich aufgeladen und konstruiert vor.

  • Die Autorin steckt doch in dem gleichen Ansatz fest, den sie anprangert:

    Bzgl Italien:



    "...und ich weiß, mein Herz sollte jetzt warm werden vor Rührung, aber es tut weh"

    Bzgl China:



    ".. Ich fühle mich Wuhan näher .."

    Ausserdem, in anderen Artikeln wird beklagt, dass Menschen wegen ihres Aussehens oder Herkunft angesprochen werden, auch wenn es freundlich ist. Nun wird es umgedreht, "... vor ein paar Wochen fast niemand nach meiner Familie in China erkundigt... "

    Beklagen ist ja so einfach. Man wird nie die persönliche Sichtweise ignorieren können.

  • In China hat wohl inzwischen jede(r) die Videos der singenden Menschen in Italien gesehen, sie sind durch WeChat rasend schnell verbreitet worden.



    Was Berichte und Berichterstattung angeht, gibt es (immer noch) eine starke Asymmetrie: in China sind die Menschen sehr gut informiert und interessieren sich auch dafür, was in Europa und sonst auf der Welt passiert.



    Von China nach Europa fliessen die Informationen sehr spärlich. Wenn ich (in Beijing) Besucher aus Deutschland bekomme, haben sie meistens noch nicht einmal die Namen der 10+ -Millionenstädte gehört, nicht einmal dann, wenn es eine Städtepartnerschaft gibt.

  • "Nicht, weil Menschen in Italien solidarisch sind, sondern weil Menschen in Deutschland mit singenden Menschen in Italien solidarischer sind als mit singenden Menschen in China."

    Wäre ein Video mit singenden Menschen aus Simbabwe oder den Faröer viral durchs Netz gegangen, hätte es sicher auch dazu Reaktionen gegeben. Wer weiß, vielleicht haben auch Leute im Iran oder in Chile gesungen.

    Die Menschen kommentieren in erster Linie das, was sie unter die Nase gerieben bekommen. Von dem Wuhan Video hör ich gerade das erste Mal.

    So wichtig, wie die Themen Rassismus oder Klimawandel sind, sie zeigen sich nicht an den Klickzahlen für irgendwelche Internetvideos in der Corona-Krise.

    Ums mal vorsichtig mit Worten der Autorin zu schreiben: Ich finde das irgendwie unpassend. Und ich nenn das auch nicht Whataboutism, ich nenn das Egozentrik.

    Kommentar gekürzt. Bitte halten Sie sich an die Netiquette.

    Die Moderation

  • Ich Ignorant habe nichts mitbekommen von den singenden Menschen in Wuhan.



    Kam da was in der TAZ?

  • Vielleicht noch eines: die Ventilatoren werden nicht dazu aufgestellt kleine Kinder wegzublasen. Wer Dinge so verbiegt, so einseitig darstellt und andere Menschen damit so abwertet, macht sich selber schuldig. So wird keine Gesellschaft funktionieren und nichts wird besser.

    Niemand will an dieser Grenze absichtlich irgendwem wehtun. Zuerst mal ist es so, dass Europa viel leistet, weswegen die Menschen unbedingt dorthin wollen.

    Einfach ist das für niemanden. Hilfe ist schwer, weil es mit vielen anderen Dingen verwoben ist - durch wilde Schuldvorwürfe wird niemandem geholfen.

    • @Markus Michaelis:

      "Niemand will an dieser Grenze absichtlich irgendwem wehtun." Echt jetzt? Ist an der Grenze nicht unlängst jemand erschossen worden? Wurde nicht ein Schlauchboot mit Flüchtlingen mit Absicht zum Kentern gebracht? Passiert so etwas, obwohl keiner das will? Und was ist mit dem verbrannten Mädchen in Moria? Weiss man über die Zustände in Moria nichts? Gab es in der Vergangenheit keine Möglichkeit, dieses und andere Kinder (und Erwachsene) aus Moria zu retten? Oder haben wir sie mit Absicht nicht gerettet, wohl wissend um die Möglichkeit ihres Todes.

      Unsere Gleichgültigkeit gegenüber den Bewohner*innen von Moria entlarvt unsere Rührung über die Gesänge in Neapel als Kitsch.

      • @Kolyma:

        @Kolyma Nein, was Sie sagen halte ich für falsch. Der Versuch über diese Art von Anteilnahme die Welt besser zu machen, wurde soweit übertrieben, dass er die Welt jetzt schlechter macht. Die Heftigkeit der eigenen Gefühle ist kein Maßstab für eine bessere Welt.

        Mit derselben Logik wie Ihrer, kann ich mir auf der Seite der Menschen, die gerne migrieren möchten oder die flüchtern müssen, Gewalttaten und Menschenverachtung herauspicken (die meiste Gewalt, zumindest in D, geschieht laut Statistk zwischen Migranten), kann sie mit großen Verbrechen Verknüpfen (solche Verbindungen gibt es) und daraus die Abwertung einer Gruppe, Nation, Ethnie, was immer sie wollen, ableiten.

        Wem ist damit geholfen? Bin ich dann ein besserer Mensch, wenn ich das angeprangert habe?

        • @Markus Michaelis:

          Ihr Vergleich trägt nicht. Die Situation der Geflüchteten in Moria ist Folge europäischer Grenz- und Migrationspolitk, Folge von Beschlüssen und Versäumnissen der von uns allen mehr oder weniger gewählten Regierungen. Sie ist nicht die Folge der Gewalt einzelner Individuen. Die rechtsextremen Auswüchse der letzten Wochen auf Lesbos sind organisiert und werden und wurden von der Polizei dort offenbar nicht unterbunden. Auch das ist nicht vergleichbar mit individuellen Verbrechen von Leuten, die auch mal migriert oder geflüchtet sind.

    • @Markus Michaelis:

      Mit wilden Ausreden und Ihrer Schönfärberei wird nicht nur niemandem geholfen: Sie verleugnen damit Symptome und Ursachen eines brutalen Systems namens Festung Europa.



      Siehe:



      "Kriminalisierung An Europas Außengrenzen werden NGO-Mitarbeiter zur Zielscheibe von Regierungen und Rechtsextremen"

      www.freitag.de/aut...fer-unter-beschuss

  • Damit Sie sich besser fühlen: Ich hab es mir jetzt ganz schnell angeschaut. Schöne Aktion in Wuhan.



    Melodisch liegen die Italiener aber trotzdem vorne. Nur meine Meinung.

  • 1. Die Menschen von Wuhan habe ich auch beim singen "gesehen". War genauso bewegt.



    2. Es liegt in der Natur des Menschen, die Dinge persönlicher zu nehmen je näher eine Person zu einem steht. Wenn ein Verwandter von C befallen ist, betrifft mich das mehr wie mein NAchbar in meiner Straße, der betifft mich mehr wie eine Person in meinem Landkreis, die ich nicht kenne, diese Person betrifft mich aber mehr als ein Fall aus Berlin, Berlin ist näher als Italien und Italien näher als China.



    3. Wenn es die Autorin ernst meint, muss sie jeden Menschen auf der Welt, der in Not ist gleich unterstützen. Das schafft man nicht. Man fängt bei seinen NAchbarn an.

  • Ich verstehe die Autorin so gut. Ich will auch den Leuten so ins Gesicht schreien. Diese starken Gefühle, ich erkenne sie so klar und die Leute ignorieren sie einfach. Das ist schrecklich. Hätten wir alle mehr Gefühl, und Solidarität und Herz und Mitmenschlichkeit. Das Gute ist so klar.

    By the way: könnte die Autorin uns bitte auch ihre Gefühle zu Äqutorialguinea oder Suriname mitteilen? Man hört da fast nie etwas. Doch auch dort leben Menschen, mit Gefühlen und mit Verletzungen. Mit Gefühlen. Und mit Verletzungen. Wann wird diese Welt mal besser?