Furcht vor Altersarmut: Hartz-IV-Niveau wäre Fortschritt
Statt über die Grundrente zu streiten, sollte man lieber Antragsformulare an alle bedürftigen Rentner schicken. So hätten sie Grundsicherung.
K ein Thema bewegt die Deutschen so sehr wie die Altersarmut: 79 Prozent der Bundesbürger halten es für das wichtigste politische Ziel, die Not der bedürftigen Rentner zu lindern. Das Thema Zuwanderung hingegen landet nur auf Platz 13 der vordringlichen Sorgen. Es führt also in die Irre, den öffentlichen Diskurs für die Realität zu halten: In den Medien dominiert das Thema Flüchtlinge, als gäbe es keine größeren Probleme.
Neu ist es zwar keineswegs, dass die Deutschen die zunehmende Altersarmut fürchten. Doch politisch tut sich nichts. Erneut klafft eine seltsame Lücke zwischen Realität und Diskurs. Zwar wird in der Großen Koalition langatmig über eine neue und komplizierte Grundrente gestritten – doch gleichzeitig werden einfachste Sofortmaßnahmen, die den bedürftigen Alten schon morgen helfen würden, bewusst vermieden.
Wie arm viele Rentner sind, zeigt eine erschütternde Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): 62 Prozent der alten Armen nehmen die öffentliche Hilfe nicht in Anspruch, die ihnen zustehen würde. Im Schnitt liegt ihr Einkommen 220 Euro niedriger als die Summe, die Hartz-IV-Empfänger erhalten – trotzdem gehen sie nicht zum Sozialamt.
Dafür gibt es verschiedene Gründe: Die Alten schämen sich, dass sie arm sind, sie fürchten die Bürokratie, oder sie verstehen das komplexe Sozialsystem nicht. Zudem unterliegen viele Alte dem Irrtum, ihre Kinder müssten zahlen, wenn sie Grundsicherung beantragten. 625.000 Rentnerhaushalte darben auf unterstem Niveau, weil sie sich nicht zum Sozialamt trauen.
Abhilfe wäre gar nicht schwer. Das DIW schlägt beispielsweise vor, Haushalten mit sehr niedrigen Renteneinkünften einfach ein Antragsformular zuzuschicken, das schon weitgehend ausgefüllt ist. Natürlich würde es Geld kosten, die verdeckte Altersarmut zu bekämpfen. Bisher spart der Staat jährlich zwei Milliarden Euro, weil die armen Alten ihre Rechte nicht wahrnehmen.
Zwei Milliarden Euro – das ist mehr, als SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil für seine neue Grundrente ausgeben will, die nur 1,4 Milliarden Euro im Jahr kosten soll. Heils Grundrente würde nämlich nur jenen zustehen, die mindestens 33 Jahre in die Rentenkassen eingezahlt haben. Viele arme Rentner dürften diese Voraussetzung gar nicht erfüllen.
Daher ein Vorschlag: Statt über eine Grundrente zu debattieren, sollten Union und SPD lieber Antragsformulare an alle bedürftigen Rentner schicken. Dann hätten sie wenigstens Hartz IV. So tragisch es ist: Das wäre ein Fortschritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“