Attentäter von Halle: Der Geist von Benndorf
Mit seiner Tat wollte Stephan B. weltweit Aufmerksamkeit erzielen. Wo hat er sich radikalisiert? Hatte er Freunde? Wie hat er seine Waffen gebaut?
Denn hier lebte bisweilen der 27-jährige Stefan B., der am vergangenen Mittwoch eine Synagoge zu stürmen versuchte und zwei Menschen tötete. Die Motive waren klar rechtsextremistisch und antisemitisch, wie er am Donnerstagabend in einem mehrstündigen Termin mit einem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes gestand.
Es sind immer noch viele Fragen offen: Was ist der Attentäter von Halle für ein Mann? Hatte er Helfer? Wo hat er die Waffen gebaut? Warum hat ihn niemand dabei beobachtet?
Am Donnerstagnachmittag um halb vier stehen mehrere Autos in Schwarz und Blau vor einem zweistöckigen Neubaublock in Benndorf, einer Gemeinde im Südwesten von Sachsen-Anhalt. Polizisten des Bundeskriminalamts laufen mit gelben Koffern von den Autos zum letzten Eingang des Blocks. Hier hat Stephan B. gewohnt. Die Bewohner von Benndorf, die mit uns reden, sprechen über Stephan B., als sei er ein Geist.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Manchmal war er joggen
Ja, er habe dort mit seiner Mutter gelebt, sagt eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht. Sie möchte nicht, dass ihr Name veröffentlicht wird. Ihr Garten liegt nur ein paar Meter von dem Garten entfernt, den die B.s genutzt haben. „Ich habe den Jungen kaum gesehen“, sagt sie. Das ist ungefähr das, was hier alle über Stephan B. sagen.
Im nahen Keglerclub sitzen acht Männer, einer ist 17, die anderen sind über 30 und weit älter. Zwei trainieren, die anderen reden, trinken Ur-Krostitzer. Hier sei Stephan B. nie gewesen, aber junge Leute haben sie hier ohnehin kaum. Manchmal habe man ihn joggen sehen in einer braunen Hose. Dann kommt noch ein Mann, der üben will, er sagt, B. verdiene „eine ordentliche Strafe“, also Prügel, und zwar jeden Tag.
Mehrere Menschen sagen, Stephan B. habe in Magdeburg Chemie studiert und sei bei der Bundeswehr gewesen, allerdings hat das sein Vater auch in einem Interview der Bild erzählt. Viele haben das gelesen. Viele kennen auch das Video von Stephan B.s Mordfahrt oder zumindest Teile davon, Kolleginnen und Freunde hätten es ihnen zugeschickt, sagen sie.
Hatte Stephan B. Freunde? „Einmal habe ich ihn mit einem anderen jungen Mann das Dach der Laube decken sehen“, sagt die Frau mit dem Hund. Sie sagt auch, die Laube sei von Polizisten durchsucht worden. Die Laube ist interessant, weil sie der Ort sein könnte, an dem Stephan B. seine Waffen gebaut hat.
Als Stephan B. den Link am Mittwochmittag postet, sitzt er bereits in einem Mietwagen voller selbst hergestellter Sprengsätze, er hat vier selbst gebaute Waffen dabei. Er lädt zum Videolink auch eine Dateisammlung mit 88 Objekten hoch, die der taz vorliegt: sechs PDF-Dateien mit Tatplan und Anleitungen zum Waffenbau, ein Selfie und zwei Dutzend Fotos von Waffen, der Munition und Dateien, mit denen sich Waffenteile am 3-D-Drucker herstellen lassen.
Waffen aus dem 3D-Drucker
Die Dokumente, die Stephan B. hochgeladen hat, belegen, dass er sich lange auf die Tat vorbereitet hat. Eine Pistole wurde den Fotometadaten zufolge bereits im März fotografiert, einige Dateien stammen schon aus dem Frühjahr 2018. Bis auf ein Vorderladergewehr, das legal zu bekommen ist, sind die gezeigten Waffen alle selbst zusammengebaut. Die Teile aus Holz und Metall bekommt man in jedem Baumarkt. Manche der Waffen haben Plastikteile, die mit einem 3-D-Drucker hergestellt wurden. Er habe ein billiges Fabrikat für 100 Euro benutzt, schreibt B.
Einen solchen Drucker fanden die Ermittler in den Wohnräumen laut Spiegel und dpa. Die Bauanleitungen fand er online. Aber für die Holz- und Metallteile muss er irgendwo eine Werkbank und vielleicht eine Fräse benutzt haben. Zwei Polizisten stehen am Donnerstagnachmittag beim Tor der Schrebergartenanlage „Bergfrieden“. Im Garten der B.s steht eine Wassertonne, gelbe und rote Rosen blühen, die Ermittler sind bereits wieder verschwunden.
Zwei Kilometer von der Wohnung, in der Stephan B. mit seiner Mutter gelebt hat, in dem Ort Helbra lebt der Vater. In einem Haus nahe dem Friedhof. Jeden Tag, so erzählt eine ehemalige Gartennachbarin der Mutter in Benndorf und eine Nachbarin des Vaters in Helbra, sei Stephan B. von der Wohnung der Mutter zum Haus des Vaters gelaufen. Morgens hin, abends gegen 5 oder 6 Uhr zurück, sagt die Frau in Benndorf. Ihre Tochter sei auch 27 Jahre alt, wie Stephan B. Er sei als Junge klug gewesen, habe ihrer Tochter in der 9. Klasse Nachhilfe in Naturwissenschaften gegeben, aber die habe ihn seltsam gefunden und den Unterricht abgebrochen.
Warum wissen so wenige etwas über Stephan B.? Hört man sich um, dann wissen hier so einige Menschen eher wenig voneinander. Benndorf ist nicht das einzige ostdeutsche Dorf, in dem mit dem Zusammenbruch eines großen Kombinats oder einer LPG auch die gemeinsame Sinnstiftung verloren ging. Die Benndorfer haben hier Kupferschiefer aus der Erde geholt, seit 1990 ist alles zu.
Weil in Benndorf so viele Bergarbeiter untergebracht werden mussten, stehen dort sehr viele Neubaublöcke, auch verglichen mit anderen ostdeutschen Dörfern, an deren Ränder oft diese Häuser gesetzt wurden, mit denen die DDR ihre notorische Wohnungsnot mindern wollte. Die Blöcke sind saniert. „Wir haben in unsere Wohnungen investiert, um die Leute zu halten“, sagt Bürgermeister Mario Zanirato. Gegangen sind viele trotzdem. Stephan B. auch, kurz, zum Studieren, dann kehrte er zurück und zog wieder bei seiner Mutter ein.
23,4 Prozent AfD-Wähler
Mario Zanirato – Vater Italiener, seit 20 Jahren Bürgermeister – sagt, viele würden in seiner Gemeinde AfD wählen, was stimmt. In Benndorf holte die Partei bei der Bundestagswahl 2017 bereits 23,4 Prozent, der Landesdurchschnitt lag bei 16,9 Prozent. „Ich sage den anderen Parteien immer, wenn die AfD nicht so viel braunes Zeug in ihrem Programm hätte, dann würde die noch viel besser abschneiden“, sagt Zanirato noch. Er selbst ist parteilos.
War Stephan B. online besser vernetzt als in seinem Leben in der realen Welt? Radikalisierte er sich im Internet? Bisher ist wenig dazu bekannt.
Polizei und Staatsanwaltschaften scheinen in solchen Fällen etwas ratlos. Im April dieses Jahres hatte die FDP-Bundestagsfraktion in einer Kleinen Anfrage wissen wollen, wie Ermittlungsbehörden mit Foren und Chats umgehen. Die Antwort der Bundesregierung: Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz ermitteln und beobachten sie – und haben große Probleme dabei. Rechtsextreme Nutzer und Administratoren reagieren innerhalb von Stunden.
Gruppen, Foren, ganze Seiten ziehen um und erscheinen an anderer Stelle unter neuem Namen erneut. Es ist der Bundesregierung daher nicht möglich, Angaben zu machen, an wie vielen virtuellen Orten sich Rechtsextremisten zu Propaganda- und Mobilisierungszwecken organisieren.
Kommentar unter dem Attentatsvideo
„Er vermasselt alles“
Mit seiner Tat wollte Stephan B. offenbar einen größeren Kreis von Menschen ansprechen: In seinem Post bat er darum, den Link zu seiner Dateisammlung zu verteilen. Und: Er meldet sich auf Englisch, seine Zielgruppe ist nicht Benndorf, nicht Halle, nicht Deutschland, es sind die Rechtsextremen aller Länder.
Eine Handvoll User aus dem Imageboard sind die knapp 36 Minuten live dabei, manche sehen sich erst später die Aufzeichnung an. Einer schreibt: „Er vermasselt alles. Das ist verdammt ungeschickt.“ Ein anderer: „Das ist bizarr. Gerade wohl ein Flüchtlingsfreund erledigt, nicht schlecht.“ Und noch einer: „Keine Spoiler bitte, ich habe noch nicht alles gesehen.“
Als das Video gelöscht wird, war es längst gespeichert und verbreitet worden. Auch Teile von Stephan B.s Dateisammlung tauchen später in Onlineforen auf. Und auch in geschlossenen Chatgruppen, in denen sie ihn als Helden feiern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“