Linken-Parteitag in Leipzig: Der große Graben
Seit Monaten streitet die Linke über die eigene Flüchtlingspolitik. Die Debatte ging auf dem Parteitag weiter.
Am Sonntagvormittag um 11 Uhr ist der Platz von Sahra Wagenknecht in der ersten Reihe leer. Ko-Fraktionschef Bartsch tippt, den Arm auf die Lehne von Wagenknechts Stuhl gestützt, auf sein Smartphone. Der Parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte hat sich mal kurz neben ihn gesetzt. Auf Wagenknechts Platz.
Es ist fast so, als hätten sich die beiden mittlerweile damit abgefunden, dass sich der Polit-Star der Linken mehr außer- als innerhalb der Parteigremien bewegt. Ist sie nicht da, gibt sie viele Interviews – der ARD, N24 oder Phoenix.
Parteitage waren nie das Metier von Wagenknecht; das Bad in der Menge, der Small-Talk mit Genossen sind nicht ihre Stärke. Doch selten war die Fraktionsvorsitzende so wenig präsent wie auf dem dreitägigen Parteitag der Linken in Leipzig. Doch, doch, Sahra Wagenknecht sei da, sagt ihr Sprecher, in der Maske. Um 12 Uhr wird sie ihre Rede halten, als letzte aus dem Führungsquartett. Und es wird eine bemerkenswerter Auftritt. Sie rockt wieder einmal den Parteitag. Aber anders als erwartet.
Die drei Tage in Leipzig sind geprägt von einem Machtkampf zwischen dem Lager der Parteivorsitzenden und der Fraktionsvorsitzenden. Nur vordergründig geht es dabei um einen persönlichen Streit zwischen Katja Kipping und Sahra Wagenknecht, die sich zwar tatsächlich schlicht nicht ausstehen können.
Aber im Hintergrund tobt ein knallharter Richtungsstreit: Definiert sich die Linke weiterhin als Partei, die für alle Entrechteten dieser Welt kämpft, oder beschränkt sie darauf, nationale Antworten zu geben? Dieser Konflikt zeigt sich seit Monaten in der Auseinandersetzung über die Flüchtlingspolitik.
Trügerisches Angebot
Wie verfahren die Situation ist, zeigt die Debatte um den Leitantrag. Im April hatte der Bundesvorstand den Entwurf beschlossen, den man als Kompromissangebot an die Wagenknecht-Seite verstehen konnte. „Wir wollen das Sterben im Mittelmeer und an den europäischen Außengrenzen beenden.
Dafür brauchen wir sichere, legale Fluchtwege, offene Grenzen und ein menschenwürdiges, faires System der Aufnahme und einen Lastenausgleich in Europa.“ Das Reizwort „offene Grenzen“ steht also drin, aber nicht „für alle“. Auch deshalb stimmt im Bundesvorstand niemand dagegen.
In den Wochen passt sich der Wagenknecht-Flügel der Beschlusslage an, spricht nur noch über Armutsmigration, die kritisch zu sehen sei, das Flüchtlingsthema klammert sie aus. Aber dann, wenige Tage vor dem Bundesparteitag, verkünden Kipping und Riexinger im Neuen Deutschland, der Leitantrag bedeute doch „offene Grenzen für alle“. Das Kompromissangebot ist keines.
Nun gibt es einen Leitantrag, aber zwei Interpretationen der entscheidenden Passage. „Alle Parteien diskutieren die Flüchtlingspolitik, niemand hat abschließende Positionen, deshalb wird die Debatte auch nicht nach unserem Parteitag beendet sein“, sagt Wagenknecht am Rande des Parteitags. „Es muss offene Grenzen für Verfolgte geben, aber wir dürfen auf keinen Fall sagen, dass jeder, der möchte, nach Deutschland kommen kann, hier Anspruch auf Sozialleistungen hat und sich hier nach Arbeit umsehen kann.“
Als der Leitantrag am Samstag zur Debatte steht, schlägt die Stunde des orthodoxen Flügels. Die Antikapitalistische Linke lässt mit knapper Mehrheit die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien in den Leitantrag hineinstimmen. Über das Flüchtlingsthema debattiert kaum jemand. Der Wagenknecht-Flügel übt sich lieber im Schattenboxen. Weil er nicht gewinnen kann, tritt er erst gar nicht an.
99 Prozent für offene Grenzen
99 Prozent der Delegierten stimmen dem Antrag zu. Sieg? Kipping möchte, dass die Debatte einen Schlussstrich bekommt. Im taz-Interview hatte sie kurz vor dem Parteitag gesagt: „Wir ziehen unter alle Auseinandersetzungen der Vergangenheit einen Strich.“
Kommt jetzt der Frieden? Ach was, meint Berlins Kultursenator Klaus Lederer, der am Sonntagvormittag schon zum Bahnhof eilt, zur Einweihung eines Kulturprojekts. „Da ist nichts geklärt. So etwas lässt sich auch nicht einfach wegbeschließen.“ Er soll recht behalten.
Am Samstagvormittag hat Kipping gesprochen. Vom Band läuft wieder „Je veux“ – „Ich will“, der Song der französischen Sängerin Zaz, mit dem alle Redner beim Gang zur Bühne begleitet werden. Es scheint, als mache Kipping Wagenknecht vom Redenerpult aus ein Angebot: „Wir sind alle Teil der Linken. In unserer Partei gibt es weder Rassisten noch Neoliberale“, sagt sie. „Nach den monatelangen Debatten über unsere Flüchtlingspolitik brauchen wir auf diesem Parteitag eine inhaltliche Klärung.
Ich rufe alle auf, diese Klärung dann zu akzeptieren.“ Und dann greift sie Lafontaine an – und meint Wagenknecht mit, ohne sie zu erwähnen: „Aber ich sage ganz klar an die Adresse von Oskar Lafontaine: Nach dieser Klärung muss Schluss damit sein, dass die demokratische Beschlusslage dieser Partei in der Flüchtlingspolitik beständig öffentlich in Frage gestellt wird.“
War das das Ende des Friedensangebotes? Delegierte des Landesverbandes Schleswig-Holstein sitzen auf der Terrasse des Kongresscenters und rauchen und diskutieren. Björn Thoroe, ein Mittdreißiger, sagt, er findet es gut, dass Katja Kipping in ihrer Rede am Samstag trotz ihres Friedensangebots an die Fraktion noch mal in Richtung Lafontaine geschossen hat. „Das war mal klare Kante, sie hat die Karten auf den Tisch gelegt.“
Für und wider
Landessprecherin Marianne Kolter widerspricht: „Lafontaine war erstens nicht da und ist zweitens für unsere Partei nicht mehr richtig relevant, jedenfalls nicht bei uns in Schleswig-Holstein“, sagt sie. Sie findet, „offene Grenzen“ sind gleichbedeutend mit offenen Grenzen für alle – deshalb sei der Streit Wortklauberei. Sie versteht vor allem nicht, warum dieses eine Thema jetzt die Partei spalten soll: „Wir sind doch auch in anderen Themen unterschiedlicher Meinung, etwa beim bedingungslosen Grundeinkommen“, sagt sie. „Was ist an der Flüchtlingspolitik anders als an den anderen Themen?
Es ist eine Debatte, die in der Gesellschaft tobt und die die Linkspartei, die gesellschaftliche Debatten sonst gern im Oppositionsmodus vom Rand des Spielfelds kommentiert, unter sich ausfechten muss. Die Frage ist, ob sie Positionen wie die von Wagenknecht, die sich gegen Wirtschaftsmigration ausspricht, aushalten kann. Oder nicht. Dann wäre Wagenknecht wohl irgendwann raus aus der Linken. Einige sehen die Vorbereitungen dafür schon laufen. 25 Prozent der Wähler könnten sich vorstellen, eine Liste Wagenknecht zu wählen, zitiert die Bild-Zeitung ein Insa-Umfrage.
Nach den Standing Ovations bei Kippings Rede ist der Eindruck: Das dürften mindestens 70 Prozent bei ihrer Wiederwahl werden. Es werden 64,6 – fast 10 Prozentpunkte weniger als 2016. Riexinger erhält immerhin 74, knapp 5 Prozentpunkte weniger. Kipping wirkt wie eingefroren, ein kurzes Klatschen, eine Routinegratulation. Dann wird die Bühne geräumt. Sieger sehen anders aus.
Kipping sagt der taz später, angesichts der monatelangen Angriffe auf sie sei das Ergebnis o. k. „Ich habe mit allem gerechnet.“ Sie hat vor dem Parteitag eine Rede ausgearbeitet für den Fall, dass sie nur 49 Prozent bekommt. Dann hätte sie nicht mehr die erforderliche Mehrheit gehabt. Diese Rede musste sie nicht halten. „Gewählt ist gewählt“, sagt Kipping.
Gysis klarer Angriff
Gregor Gysi stellt sich nach der Wahl auf die Seite des Parteivorstands und nimmt die Positionen Wagenknechts und Lafontaines auseinander – ohne diese namentlich zu erwähnen. „Auch rechte Bewegungen können sich für soziale Gerechtigkeit innerhalb einer Nation einsetzen. Deshalb ist der Internationalismus Kernfrage der Linken“, sagte er. „Probleme können mit Abschottung niemals gelöst werden.
Bevor die Flüchtlinge in Deutschland waren, gab es kein höheres Hartz IV und seitdem gibt es kein niedrigeres Hartz IV.“ 2016 seien 60 Prozent der Zugewanderten in Deutschland aus Europa gekommen. „Spricht das gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU? Das kann nicht unsere Forderung sein“, sagte Gysi.
Eine solche Rede kann nur Gysi halten. Er hat sich den Nimbus des elder statesman erworben, der über den Dingen steht. Alle anderen werden entweder dem Kipping- oder dem Wagenknecht-Lager zugeordnet. In diesen Kategorien treffen sich Ultralinke mit Reformern, Gewerkschaftler und Hedonisten. Der Führungsstreit zeigt zumindest eines: Die klassische Lagerlogik – Reformer versus Linke – existiert nicht mehr, die Grenzen verwischen.
Am Sonntag um 12.05 Uhr betritt Wagenknecht die Bühne, akkurat zurechtgemacht in gelbem Blazer. Einige Genossen in den Reihen der NRW-Linken schwenken rote Fahnen. In den Reihen der Baden-Württemberger und Brandenburger sitzen sie mit verschränkten Armen, abwartend. Zwischen beiden Seiten liegt der Gang, wie ein großer Graben.
Sahra Wagenknecht redet. Sie redet davon, dass man den Vormarsch der Rechten stoppen müsse. Beifall.
Wieder einmal die „Abgehängten“
Sie redet von den abgehängten Regionen im Osten, wo die Linke Stimmen verliere, sie redet von den Arbeitern und Arbeitslosen, die inzwischen mehrheitlich AfD wählen. „Es zeugt nicht von guter Diskussionskultur“, wenn auf Ansprechen solcher Probleme mit dem Vorwurf reagiert wird, da würde jemand die Linke schlecht reden. Jemanden als AfD-light zu bezeichnen, sei infam. Schwächerer Beifall.
Denn es ist klar, wer gemeint ist, Parteichefin Katja Kipping, die vor zwei Jahren von AfD-light sprach, als Wagenknecht in einem Zeitungsinterview gesagt hatte, es könnten nicht alle Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Ein Fehler, für den sich Kipping später entschuldigte, an den sie aber bis heute erinnert wird.
Sie legt nach: Ja man müsse über Arbeitsmigration reden. Offene Grenzen, sie zitiert Bernie Sanders, könne das wirklich eine linke Position ein? Vereinzelte Buhrufe. Ein Novum.
Nach der Rede steht die Seite rechts vom Graben auf und applaudiert, die Seite links des Grabens bleibt sitzen. Jetzt ist klar: Der Parteitag ist gespalten.
Kipping klatscht am Anfang von Wagenknechts Rede viel, gegen Ende kaum noch. Sie schaut auf ihr Handy, tuschelt mit Riexinger. Am Ende steht sie auf. Pflichtschuldig.
„Ich bin nicht bereit, dass länger hinzunehmen“
Nach der Rede wird Wagenknecht von der Tagungsleitung gefragt, ob sie für Nachfragen zur Verfügung stehe. Das ist ungewöhnlich, laut Geschäftsordnung aber möglich.
Sabine Leidig tritt ans Mikrofon, sie ist eine Vertraute Kippings. Warum Wagenknecht ihre Position denn auf dem Parteitag nicht zur Abstimmung gestellt habe? Wagenknecht antwortet ruhig: sie habe keine Kampfabstimmung über die eine oder andere Position gewollt.
Dann stellt sich Elke Breitenbach ans Mikrofon, sie ist Senatorin für Integration in Berlin. Ausgerechnet. Sie wendet sich direkt an Sahra Wagenknecht: „Du zerlegst gerade diese Partei, du ignorierst die Position der Partei. Ich bin nicht bereit, das länger hinzunehmen.“ Das sitzt.
Nun ist der Saal wach. Die Seite rechts des Grabens ist empört, die linke Seite jubelt.
Die Essener Ratsabgeordnete Ezgy Güyildar erkämpft sich einen vierten Redebeitrag. „Als Kind einer Flüchtlingsfamilie, die in den 90er Jahren nach Deutschland gekommen ist, halte ich es für eine Unverschämtheit, dass Sahra in die rechte Ecke gestellt wird“, ruft sie ins Mikrofon.
Kurze Pause, in denen die Spindoktoren ausschwärmen. Die Kipping-Vertrauten hätten den Konflikt bewusst herbeigeführt, zischt ein Mitarbeiter den Journalisten zu. Simone Barrientos lässt sich auf den Stuhl neben dem Pressebereich fallen. „Das tut so gut. In der Fraktion wird jede Debatte abgebügelt.“ Barrientos gehört zu der Gruppe von 25 Bundestagsabgeordneten, die ihre Unzufriedenheit mit dem „nicht integrativen Führungsstil“ der Fraktionsspitze in einem Brief im Frühjahr öffentlich gemacht hatten.
Sahra Wagenknecht wird währenddessen von Journalisten umringt. Sie spricht von einer inszenierten Polarisierung. Sie wolle die Partei nicht spalten.
Mehr als hundert Redebeiträge werden in der Pause eingereicht. Kommt nun die Debatte, die die Linke eigentlich vermeiden wollte?
Dann wieder versöhnliche Töne
In der auf eine Stunde limitierten Aussprache versuchen die RednerInnen den gelegten Brand zu löschen. Das Harmoniestreben siegt. Diether Dehm, ein umtriebiger Netzwerker und bekennender Fan von Sahra Wagenknecht, legt seinen Traum offen: dass Sahra und Katja gemeinsam gegen die Abschiebung einer Roma-Familie protestieren. Dehm neigt zu Übertreibungen, diesmal jedoch wird er vom Publikum mit viel Applaus belohnt.
„Lasst uns das Gezerre beenden“, „Machen wir Schluss mit diesem Kindergarten“, „Bitte, bitte, rauft euch zusammen“, ist der Tenor der Beiträge.
Am Ende unterbreiten Riexinger und Kipping, Wagenknecht und Bartsch ein gemeinsames Friedensangebot. Sie betreten zusammen die Bühne – ein Ereignis, das es selbst im Bundestagswahlkampf nur ein paar Mal gegeben hat. Zwischen Kipping und Wagenknecht steht Dietmar Bartsch. Er tritt ein wenig zurück, sodass Kipping und Wagenknecht fast nebeneinander stehen. Fast. Die Häuptlinge unterbreiten ein Friedensangebot.
Bernd Riexinger verkündet, dass Partei- und Fraktionsvorstand in Klausur gehen werden. Zusätzlich wird es eine Fachkonferenz geben. Sahra Wagenknecht fordert dazu auf, jetzt das Gemeinsame in der Vordergrund zu stellen. Nun klatscht auch die linke Saalseite.
Ist das der Anfang vom Ende des Machtkampfs in der Linkspartei? Sie sei froh, dass der Parteitag Sahra Wagenknecht die Debatte aufgezwungen habe, sagt die bayerische Delegierte und Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke. Wird sie sie annehmen?
Gohlke zuckt mit den Schultern: „Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.“ Andere glauben, dass sich die Situation eher noch verschärfen wird. Ein Spitzenlinker meint sogar: „Sahra ist verzichtbar.“ Namentlich zitiert werden will er nicht.
Es wird auch von der Parteiführung abhängen, ob dieser Satz wiederholt wird, auch öffentlich. Und ob Wagenknechts Stuhl 2019 unbesetzt bleibt.
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