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Anklage gegen Boliviens Ex-Präsidentin„Putsch 2“ vor Gericht

Boliviens Ex-Präsidentin Áñez muss sich ab Donnerstag vor Gericht verantworten. Kam sie rechtmäßig ins Amt? Ein fairer Prozess ist zweifelhaft.

Auf der Anklagebank: Boliviens Ex-Präsidentin Jeanine Áñez Illustration: Marco Bello/reuters

Berlin taz | Es ist so weit: An diesem Donnerstag um 9 Uhr Ortszeit beginnt das mündliche Verfahren gegen die Ex-Präsidentin Boliviens, Jeanine Áñez. Seit März 2021 sitzt die rechtskonservative Politikerin in mehrfach verlängerter Präventivhaft. Gegen sie laufen Ermittlungen in sieben Fällen. Im ab Donnerstag mündlich verhandelten Fall „Putsch 2“ geht es darum, wie Áñez Präsidentin wurde. Die Anklage lautet auf „Nichterfüllung der Pflichten und verfassungs- und gesetzwidrige Beschlüsse“. Bei einer Verurteilung drohen Áñez bis zu zwölf Jahren Haft.

Der Prozess ist schon jetzt eine Posse. Beim ersten Anlauf war die Verteidigung nicht fristgerecht geladen worden. Dieses Mal vergaß das Gericht laut Áñez’ Verteidigung die Zeu­g*in­nen. Das sind nur einige der Formfehler, die diese bemängelt hatte. Die mündliche Anhörung von Añez findet laut ihrem Anwalt virtuell statt, was gegen das „Unmittelbarkeitsprinzip“ verstoße.

Staatsanwaltschaft und Justiz in Bolivien orientieren sich stark an der jeweiligen Regierung und werden zur Verfolgung politischer Geg­ne­r*in­nen benutzt. Diese fehlende Unabhängigkeit kritisierten unter anderem die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und die Vereinten Nationen – im fallen gelassenen Fall der Anklagen gegen den früheren Präsident Evo Morales ebenso wie im Fall Áñez.

Zur Erinnerung: Der linksgerichtete indigene Präsident Evo Morales wollte sich im Oktober 2019 zum vierten Mal wieder wählen lassen. Die Kandidatur war umstritten, die Wahl von Manipulationsvorwürfen überschattet. Morales erklärte sich ohne Stichwahl zum Wahlsieger. Darauf gingen Tausende auf die Straßen und forderten erst eine Stichwahl, schon bald aber Morales’ Rücktritt wegen Wahlbetrugs.

Offene Fragen

Im November meuterten erste Polizisten und auch das Militär legte ihm den Rücktritt nahe. Morales kam dem schließlich nach und floh nach Mexiko. Die rechtskonservative Hinterbänklerin Áñez wurde Interimspräsidentin und zog Bibel schwenkend in den Präsidentschaftspalast ein.

Áñez bezog sich damals auf eine Erklärung des Verfassungsgerichts von 2001, wonach ein Machtvakuum bei Nachfolgeproblemen vermieden werden soll. Allerdings lässt auch diese Erklärung Fragen offen.

José Luis Exeni Rodríguez ist Politologe bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in La Paz. Er war Präsident des Nationalen Wahlgerichts und Vizepräsident des Obersten Wahlgerichtshofs. Für ihn steht fest: „Ein verfassungsgemäß gewählter Präsident wurde abgesetzt, das heißt zum Rücktritt gezwungen.“

Exeni sieht außerdem Verstöße bei dem Verfahren zur Ernennung von Übergangspräsidentin Áñez: Das vorgeschriebene Quorum bei der Sitzung sei weder erfüllt noch die Rücktrittserklärung öffentlich verlesen beziehungsweise ­angenommen worden. Es sei kaum Zeit für eine Debatte gewesen, Áñez sei weder zuerst zur Senatspräsidentin noch anschließend zur Präsidentin gewählt worden. „Es war eine Selbsternennung (autoproclamación).“

Keine Beweise

Waren Morales’ Abgang ein normaler Rücktritt, eine Entmachtung oder ein Putsch? Ging dem ein Wahlbetrug voraus – der so gravierend war, dass er den Ausgang der Präsidentschaftswahl veränderte? Diese Fragen werden bis heute in den bolivianischen Medien und in der Politik diskutiert und es ist fraglich, ob sie sich jemals werden komplett klären lassen.

Exeni sagt: „Bis heute sind der Justiz keine definitiven Beweise präsentiert worden, dass es einen Betrug gab, der das Wahlergebnis entscheidend veränderte.“ Ein Teil der Wahlakten aus Papier wurden, wie auch die fünf regionalen Wahlgerichte, bei den folgenden Unruhen angezündet.

Tatsächlich hat die MAS-Partei bei den Wahlen 2020, der Morales und der jetzige Präsident Luis Arce angehören, noch bessere Ergebnisse geholt, als Morales 2019 gehabt haben soll. Darin sah die Organisation Amerikanischer Staaten ein Indiz für Manipulationen. Dafür, dass Morales kein viertes Mal hätte antreten dürfen, spricht nicht nur sein verlorenes Referendum, sondern seit August 2021 auch eine Resolution des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Jeanine Áñez hat sich auf Twitter beklagt, dass all ihre Rechte verletzt würden. In Haft soll sie mangelhaft medizinisch versorgt worden sein, unternahm angeblich einen Selbstmordversuch und begann einen Hungerstreik. Das EU-Parlament nominierte sie wohl auch deshalb für den Sacharow-Preis für geistige Freiheit.

Doch zur Heldin taugt sie wenig: Während ihrer Präsidentschaft sind – gedeckt durch ein von ihr unterzeichnetes Dekret, das den Sicherheitskräften Straffreiheit zusicherte – zwei offiziell von der Interdisziplinären Gruppe Unabhängiger Experten anerkannte Massaker in Sacaba und Senkata verübt worden. 37 Menschen starben. Die rechtliche Aufarbeitung dieser Fälle, für die Áñez ebenfalls Verantwortung übernehmen muss, gerät wegen der beiden Putsch-Prozesse ins Hintertreffen.

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8 Kommentare

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  • Die Autorin scheint zwar durchaus zu wissen wovon sie schreibt, allerdings wundert mich doch sehr, dass Áñez' Wirken für Oligarchie und wirtschaftliche Abhängigkeit von kapitalistischen Ländern nicht einmal erwähnt wird. Fragen von Souveränität, Demokratie und Rechtssprechung kann man doch nicht losgelöst davon betrachten. Der Eindruck von Solidarität mit linken Gesellschaftsentwürfen ist in diesem Artikel nicht einmal ansatzweise erkennbar. Eine linke Zeitung sollte auch für linke Politik streiten. Ist dieser Enthusiasmus völlig verlorengegangen?

  • Unfassbar wie die TAZ faschistoide Putschisten mit Samthandschuhen anfasst: „zur Heldin taugt sie wenig“ (legt nahe: ein bisschen vielleicht doch, dazu passt die Erwähnung des Sacharow-Preises) und einen nachgewiesen (und mehrfach unabhängig bestätigt) legitim gewählten Morales diskreditiert „erklärte sich ohne Stichwahl zum Wahlsieger“. Die Stichwahlforderung war ein durchsichtiges Manöver der Rechten (leider befördert von großen Teilen der Presse des sogenannten Wertewestens) stand aber nach den Ergebnissen überhaupt nicht zur Debatte.



    Bei Wikipedia alles nachzulesen.

  • Ist das nicht die Frau mit der blauen Karte die Covid-19 aus der Luft filtern kann? Mich wundert es immer wieder wie konservative Leute die an der Macht schnuppern ticken und ihre Verirrung auch noch öffentlich zeigen. D.h., nein, wunder ist nicht ganz richtig, mich erschreckt es.

    • @Pia Mansfeld:

      Nein, das ist nicht die Dame mit der blauen Karte. Diese Karten und auch sonstige Anti-Corona Mittel, die nicht von der WHO autorisiert sind (z.B. Ivermectin), werden in Bolivien vor allem von den "sozialen Bewegungen" gepusht, also dem MAS nahestehenden Gruppen. Die Añez-Regierung hat sich recht strikt an die jeweiligen "wissenschaftlichen Empfehlungen" gehalten und mit den entsprechenden Korruptionsaufschlägen die jeweiligen Instrumente, Masken und Medikamente eingekauft.

      Wenn Sie in Bolivien sehen wollen, wie Leute ticken, die von der Macht nicht lassen wollen, dann können Sie sich aktuell auch die Grabenkämpfe innerhalb des MAS anschauen. Vor allem Morales betreibt brachial seine Rückkehr an die Macht (auf Kosten seiner Genossen in der gegenwärtigen Regierung).

      • @tore:

        Ich lehne mich mal weit vor und behaupte, daß es generell kaum einen Unterschied macht, aus welcher Richtung das Festhalten an der Macht geschieht. Ob rechtskonservativ oder sozial im Namen - da ticken einige Leute einfach gleich.

  • Wenn man sich mal ein wenig mit den Verhältnissen im Land in den Jahren 2019 und 2020 informiert, braucht es nicht viel Phantasie, um zu begreifen woher der Wind wehte. Das Agieren der Dame in den Monaten ihrer Präsidentschaft und die Unterstützung die sie von Seiten der EU erfuhr läßt mich schaudern. Da haben ja einige Abgeordnete im EU-Parlament durchaus Symphatien für rechtskonservative Alleinherrscherinnen in Südamerika zu haben - Bolsonaro ist (zum Glück) nicht so beliebt.

    • @Lars B.:

      Der einzige Sonnenkönig der bolivianischen Politik ist Evo Morales. Der Opposition können Sie einiges vorwerfen, aber Añez = Alleinherrscherin? Dann informieren Sie sich mal ruhig noch ein bisschen weiter.

      • @tore:

        Hab ich gemacht. Das Ergebnis bleibt gleich. Oder ist für Sie die Dauer bedeutend in der jemand seine Position nach gutdünken ausnutzt und so dies und das veranlaßt gegen jede demokratische Legitimation und Rechtfertigung?