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Afghanistan-Debatte im BundestagAus der Niederlage nichts gelernt

Tobias Schulze
Kommentar von Tobias Schulze

Die Bundesregierung präsentiert keine einzige Lehre aus Afghanistan. Die bittere Erkenntnis? Die vergangenen 20 Jahre waren völlig umsonst.

Rhetorische Fragen ja, aber keine Antworten: Merkel im Bundestag Foto: Michele Tantussi/reuters

D ie Tragödie um die Evakuierung der Ortskräfte aus Afghanistan hat für die Bundesregierung trotz allem etwas Gutes: Würde sich die öffentliche Debatte nicht seit zehn Tagen um die Rettungsflüge drehen, müsste die Regierung jetzt noch ganz andere Fragen beantworten.

Angesichts des totalen Scheiterns in Afghanistan müsste sie erklären, was sie aus dem Fiasko gelernt hat, welche Schlüsse sie für andere Bundeswehr-Einsätze zieht und wie sie ihre Außenpolitik auch darüber hinaus neu ausrichten möchte. Dabei würde offensichtlich: In diesen Fragen ist die Regierung blank.

Der Auftritt der Kanzlerin am Mittwoch im Bundestag hat diese Leerstelle offenbart. Das Parlament hat nach zwanzig Jahren zum wohl letzten Mal über ein Afghanistan-Mandat abgestimmt, Angela Merkel hat zu diesem Anlass ihre wohl allerletzte Regierungserklärung gehalten. Eigentlich der richtige Anlass für eine Bilanz – dennoch präsentiert die Kanzlerin keine einzige Lehre aus dem Afghanistan-Krieg.

Ein paar rhetorische Fragen stellt sie gegen Ende ihrer Rede, ein klein wenig Selbstkritik könnte man aus ihnen heraushören, aber für Antworten, da bittet Merkel um Verständnis, sei erst mal eine Analyse nötig. Ganz so, als habe sich die Kanzlerin in den letzten 16 Jahren nicht beruflich mit dem deutschen Regierungshandeln beschäftigt.

Auch der Rest der Koalition liefert nicht viel. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der aus der Friedensforschung kommt, hätte sicherlich ein paar kluge Gedanken beizutragen, behält sie aber für sich und fordert für die Aufarbeitung stattdessen eine Kommission in der nächsten Legislaturperiode. Das hält er wahrscheinlich für praktisch, weil dann der Wahlkampf vorbei ist.

Nur die Redner aus der zweiten Reihe der Union präsentieren eine vermeintliche Lehre aus dem Einsatz: Mehr Geld für die Bundeswehr – als hätte es dem westlichen Militärbündnis in Afghanistan an Jets und Panzern gefehlt. Die traurige Erkenntnis nach dieser Debatte: Die letzten zwanzig Jahre waren wirklich völlig umsonst. Die Bundesregierung hat aus ihrer Niederlage nämlich noch nicht mal etwas gelernt.

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Tobias Schulze
Parlamentskorrespondent
Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.
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14 Kommentare

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  • Welche Lehren zieht die Presse aus dem Einsatz? Welchen Einfluss hatte die Presse auf die Meinungsbildung und den hieraus resultierenden politischen Druck gehabt?

    Wenn z. B. gefordert wird, dass Frauen einer Arbeit nachgehen sollen können, hat dies enorme gesellschaftliche Konsequenzen für eine patriarchalische Gesellschaft. Im sozialen Stammessystem von Afghanistan bedeutet dies einen erheblich Eingriff in die traditionellen Machtgefüge. Dominiert von Stammesältesten.

    Es mag zwar aus westlicher Perspektive gar erwünscht sein, diese Machtgefüge zu verändern. Dies kann es zu jedoch zu erheblichen Abwehrreaktionen führen.

    Rein praktisch - ohne moralische Gedanken - hätte eine Politik, ohne eine Fixierung auf derartige Themen, vll. deutlich mehr erreichen können. An tatsächlichen konkreten Erfolgen bzgl. der Verbesserung der Lebensqualität der Afghan*innen.

    Aber hätte es eine "pragmatische" Politik geben können? Hätte die Entwicklungshilfe vonstatten gehen können, ohne den Fokus auf (westliche) Werte, wie die Gleichheit von Mann, Frau, Divers usw.? Auch wenn sie vielleicht gar im Ergebnis "besser" den Afghan*innen hätten helfen können?

    Ich vermute eher Nein. Der gesamte Einsatz erschien durch die Presse moralisiert. Präsident Biden sagt, es ging nie um ein Nation-Building. Hat vll. die Presse zu einem Nation-Building geführt?

    Indem eine Berichterstattung erfolgt, die Afghan*innen mit "westlichen" Werten einseitig bevorzugt darstellt. Ist es doch im Ergebnis auch eine Form von Volkswillen, dass die Taliban nun herrschen. Ohne massiven Rückhalt in der Bevölkerung gäbe es diese "Erfolge" der Taliban nicht. Wer weiß, für wie viele Afghan*innen mit der Machtübernahme der Taliban ein "Traum" wahr wird, als nun ein "gerechtes" Leben nach den "wahren" Zielen des Islam möglich ist - welches die geselschaftlichen Strukturen wahrt, festigt und nicht in Frage / auf die Probe stellt.

  • Merkel sollte jetzt die Vertrauensfrage stellen und endlich den Weg für Neuwahlen freimachen.

  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    Mich bestürzt, daß nicht einer der "profilierten" Politiker den Mut zeigte in dem er an die Bevölkerung appellierte, alle, wirklich alle Menschen aus Afganistan, die bei uns Zuflucht suchen, großzügig, mit Anstand und Würde aufzunehmen.



    Tja ...

  • Eine Sache, die die Regierung für andere Einsätze daraus lernen kann, ist die, dass niemand auf der Welt sich nochmal als Ortskraft für Deutschland melden wird. Er kann zumindest nicht davon ausgehen, dass ihm/ihr im Notfall geholfen wird.



    Ich würde sogar soweit gehen zu sagen: er/sie kann davon ausgehen, dass ihm/ihr NICHT geholfen wird.

    Wer lebensmüde ist, wird vielleicht noch mit uns kooperieren.

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    Die Kanzlerin, die alles kann



    - und wenig tut,



    ruft jetzt voll Mut



    und wie im Wahn:



    „Verhandeln wir mit Taliban!“

    • 9G
      95820 (Profil gelöscht)
      @95820 (Profil gelöscht):

      Ich möchte darauf hinweisen, dass ich die Zeilen vor den Anschlägen in Kabul geschrieben habe...

  • „SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der aus der Friedensforschung kommt, hätte sicherlich ein paar kluge Gedanken beizutragen, behält sie aber für sich . . .



    Und er tut gut daran, sich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen! Sonst müsste er zunächst mal begründen, weshalb Rot-Grün seinerzeit den Afghanistan-Einsatz durch den Bundestag brachte.



    Dass der Einsatz nicht so lief wie gedacht, zeigte sich schon 1 Jahr später, als es um die (erste) Verlängerung ging. Damals schrieb die TAZ: „DER BUNDESWEHREINSATZ IN AFGHANISTAN VERHINDERT KEINE ANSCHLÄGE“ – „Krieg ohne Ende“.taz.de/Archiv-Such...&SuchRahmen=Print/



    Trotzdem wurde der Einsatz Jahr um Jahr verlängert, anfangs von Rot-Grün. Alle Schuld allein bei der Union und Frau Merkel abzuladen ist zumindest unfair!

    • 9G
      95820 (Profil gelöscht)
      @Pfanni:

      „Enduring Freedom“



      de.wikipedia.org/w...n_Enduring_Freedom



      Die Wörter Freiheit, Frieden, Sicherheit werden oft fälschlich synonym eingesetzt. Und dass jemand aus der Friedensforschung kommt, bedeutet ja nicht, dass er nun der Frieden ist. Friedensforschung hat keinen Wert ohne Konfliktforschung.



      „Alle Schuld allein bei der Union und Frau Merkel abzuladen ist zumindest unfair!“ Zumindest unfair? Mit 16 Jahren Führung der und Beteiligung an der Bundesregierung kommen Kanzlerin und Union schon etwas in die Verantwortung. Oder?



      Und "Allein"? Natürlich nicht. Die Wähler:innen sind auch verantwortlich.

  • Hm. Und was hat jemand, der 20 Jahre Afghanistaneinsatz für „völlig umsonst“ hält, daraus gelernt? Jedenfalls nicht, dass Perspektiv-Wechsel hilfreich sein können in Zeiten, in denen mensch dringend verzweifeln möchte an den Zuständen um sich herum.

    Erstens: Niemand ist gezwungen, anderen etwas zu unterstellen. Auch nicht als Journalist*in. Tun wir es doch, haben wir immer eine Wahl. Wir können Positives orakeln, eben so gut aber auch Negatives. Dass Angela Merkel gar nichts gelernt hat aus dem Desaster, noch nicht fest. Menschen neigen dazu, eventuellen Erkenntnisse nicht unbedingt jederzeit und überall öffentlich kund zu tun. Als Journalist könnte mensch also unterstellen, dass auch die Kanzlerin mehr weiß als sie verkündet. Genau das tun Journalisten schließlich auch.

    Zweitens: Sollte die Bundesregierung tatsächlich nichts gelernt haben aus ihren Fehlern, ist das in einer Demokratie noch nicht das Ende. Menschen können durchaus auch aus fremden Fehlern eigene Schlüsse ziehen. Und nach einer Wahl ist vor einer Wahl, nach einem Militäreinsatz ist vor einem… oder auch nicht.

    Drittens: 20 Jahre frische Luft sind für manche eine Katastrophe, für andere aber ein Gewinn. 20 Jahre Schulbildung müssen nicht spurlos vorbei gegangen sein an den Köpfen junger Afghanen. Wissen und Erfahrungen können bleiben und Weltbilder prägen, auch in Zeiten, in denen das Rad scheinbar rückwärts rollt. Eine Zukunft unter einer Taliban-Regierung sieht womöglich anders aus nach 20 Jahren westlicher „Mission“, als eine Zukunft ohne „Missionare“ ausgesehen hätte. (Dass sie in jedem Fall besser ist, ist damit noch nicht gesagt.)

    Dass Feigheit das Ansehen verbessert, ist im Übrigen widerlegt. Eine Kanzlerin, die so tut, als hätte sie in 16 Regierungsjahren keine Zeit gehabt nachzudenken über den Sinn deutschen Regierungshandelns, sieht sie jedenfalls noch alberner aus als eine, die durchblicken lässt, dass sie aus eigenen Fehlern gelernt hat - aber eben auch konservativer.

    • @mowgli:

      "20 Jahre Schulbildung müssen nicht spurlos vorbei gegangen sein an den Köpfen junger Afghanen. Wissen und Erfahrungen können bleiben und Weltbilder prägen, auch in Zeiten, in denen das Rad scheinbar rückwärts rollt."



      Ich teile ihre Meinung und hoffe, dass sie sich bewahrheitet.

  • Das Fazit, es war alles umsonst ist völlig absurd und verkörpert die gesamte Misere. Wie kann man übersehen, dass eine ganze Generation mit Schulbildung heranwuchs? Das Land ist nicht mehr das gleiche wie vor 20 Jahren. Wer das nicht sieht, von dem kann nicht erwartet werden, einen Ansatz für den zukünftigen Umgang mit den neuen Machthabern zu finden. Herr Kazai ist immer noch in Kabul und verhandelt. Vor 20 Jahren wäre er schon einen Kopf kürzer gewesen….

  • Man hat nichts gelernt, weil man nichts getan hat, außer mal wieder mitzumachen. Das soll nicht die Leistungen der Soldaten vor Ort diskreditieren. Sondern den Sinn der Aktion, von dem es damals noch hieß, Sicherheit, Deutschland, verteidigen, Hindukusch.

    Und, gibt es nun deutsche Sicherheit am Hindukusch? Ich glaube nicht.

  • Was wäre denn die Lehre aus dem Afghanistan-Debakel? Wäre es besser gewesen, das Land die auch schon die letzten 20 Jahre den Taliban zu überlassen? Sollte man weiter mit riesigen Aufwand drin bleiben? Was wäre ein anderer Weg? Anderen vorzuwerfen, sie hätten keine Lösungen, ist natürlich einfach

    • @Ruediger:

      Haben Sie noch nicht bemerkt, dass alle Kriege, die die USA in den vergangenen 20 Jahren angezettelt haben mit einer Lüge begründet wurden? Und dass es darüberhinaus nie und nimmer um die Menschen sondern stets um Macht und Geld ging?