Abhängigkeit von russischen Rohstoffen: Brauchen wir Putins Gas?
Mehr als ein Drittel der europäischen Gaslieferungen fließt durch Nord Stream 1. Nun wird über ein Embargo diskutiert – die Folgen wären weitreichend.
Die Bedeutung von Nord Stream 1
Die Röhre von Russland nach Deutschland transportiert 30 bis 40 Prozent der Gaslieferungen in die Europäische Union (EU). Die übrigen Mengen fließen durch das sogenannte Ukraine-System und die Jamal-Pipeline über Belarus und Polen.
Wie könnte die russische Regierung reagieren?
Würde die EU Nord Stream 1 abklemmen, fehlten dem russischen Staat sofort Dutzende Millionen Euro täglich – eine empfindliche Einbuße, da seine Devisen vor allem aus dem Verkauf von Rohstoffen stammen. Dies mag Wladimir Putin veranlassen, die übrigen Exporte weiter strömen zu lassen. Andererseits könnte er aber auch mit Gegensanktionen antworten und die kompletten Gaslieferungen in die EU einstellen. Das würde hier zu massiven Schwierigkeiten führen. Über die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Erdgases stammen aus Russland. EU-weit sind es etwa 40 Prozent.
Kann man die Mengen aus Nord Stream 1 ersetzen?
„Die Strategie müsste darin bestehen, fehlende Lieferungen aus Russland durch Importe von Flüssiggas (LNG) zu ersetzen“, sagt der Ökonom Malte Küper vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW). „Angesichts der vorhandenen LNG-Importkapazitäten in Europa wäre es rein mengenmäßig möglich, die Lieferungen durch Nord Stream 1 aufzufangen.“ Probleme dabei: Große zusätzliche Mengen auf dem Weltmarkt zu beschaffen, ist schwierig und teuer. Andererseits gibt es Engpässe bei den Gasleitungen zwischen den Häfen und den Verbrauchern innerhalb Europas. Sascha Müller-Kraenner, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), erklärt: „Die Internationale Energie-Agentur hält es durch ein Bündel von Maßnahmen für möglich, den Gasimport aus Russland innerhalb eines Jahres um ein Drittel zu reduzieren.“
Wie ließe sich der Gasbedarf insgesamt verringern?
Andreas Goldthau, Experte für Geoökonomie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), plädiert für ein „Paket an Maßnahmen“, unter anderem einen „schnellen Ausbau der Wind- und Solarenergie, Energieeffizienzmaßnahmen und das Ersetzen von Gasheizungen durch Wärmepumpen“. Gerade bei diesem Thema wären „die Potenziale gewaltig“, sagt auch Müller-Kraenner. Seinen Informationen zufolge werden zwar jährlich in Deutschland fast eine Million Heizungen ausgetauscht, allerdings „nur 150.000 Wärmepumpen neu eingebaut“. Diese Anlagen zur Wärmeerzeugung holen die Energie aus dem Boden oder der Luft. Man kann sie mit Ökostrom vom Hausdach betreiben. Ein massives, schnelles Ausbauprogramm müsste die Bundesregierung wohl mit einigen Milliarden Euro fördern. Die öffentliche KfW-Bank würde Zuschüsse und Kredite gewähren.
Könnte die Industrie weniger verbrauchen?
„In der Industrie existieren kurzfristig keine großen Einsparpotenziale“, warnt IW-Forscher Küper. „Soll der Gasverbrauch dort deutlich sinken, wäre das mit Produktionseinschränkungen verbunden.“ Küper weist darauf hin, dass wegen der hohen Gaspreise kürzlich schon die Herstellung von Ammoniak in Deutschland zurückging. Bei starken Einschränkungen sind Arbeitsplätze in Gefahr. Der Verband der Gasunternehmen argumentiert, in der Chemie- und in der Automobilindustrie lasse sich das russische Erdgas kurzfristig nur schwer ersetzen. Im Verlauf der kommenden 20 Jahren dürfte das anders aussehen: Dann soll mit Ökostrom produzierter Wasserstoff das fossile Gas ablösen. Das dauert allerdings seine Zeit.
Wie sieht es bei den privaten Haushalten aus?
Etwa jeder zweite deutsche Haushalt betreibt die Heizung und Warmwasserbereitung mit Gas. Dabei lässt sich einiges sparen. „Die Internationale Energieagentur schätzt, dass bei einer Reduktion von einem Grad Raumtemperatur Einsparungen von zehn Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr europaweit zu erreichen sind“, sagt Geoökonom Goldthau. Das entspricht etwa einem Fünftel der Lieferungen durch Nord Stream 1. Sowieso empfiehlt die DUH, die Thermostate an den Wohnungsheizungen nur bis Stufe drei hochzudrehen, mehr bringe meist nichts.
Und die soziale Frage?
Der Verzicht auf bestimmte russische Gaslieferungen, der Ersatz aus anderen Quellen und die damit verbundene höhere Nachfrage auf dem Weltmarkt führt zu weiter steigenden Preisen. Das bringt wahrscheinlich ein Drittel der deutschen Haushalte, die von eher niedrigen oder mittleren Einkommen leben, in finanzielle Nöte. Schon die bisherigen Preiserhöhungen beim Gas können für Durchschnittshaushalte 70 Euro mehr pro Monat bedeuten. Daher stellt sich die Frage des sozialen Ausgleichs. „Wir fordern dazu unter anderem einen Heizkostenzuschuss von mindestens durchschnittlich 500 Euro pro Haushalt“, erklärt der Bundesverband der Verbraucherzentralen. „Zweitens muss den Verbraucherinnen und Verbrauchern der Kohlendioxidpreis als Pro-Kopf-Pauschale zurückerstattet werden, davon profitieren insbesondere auch die Haushalte mit geringem Einkommen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen