95. Oscar-Verleihung: Migration und Krieg
Sieben Preise erhielt die Komödie „Everything Everywhere All at Once“. Der deutsche Kriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ gewann in vier Kategorien.
Jippie! Edward Bergers „Im Westen nichts Neues“ feiert vermutlich noch. Denn das gab’s noch nie: Vier Auszeichnungen wurden am frühen Montagmorgen (CET) an die opulente deutsche Adaption des gleichnamigen Romans von Erich Maria Remarque aus dem Jahr 1928 vergeben: namentlich die Preise für den „Besten Internationalen Film“, die „Beste Kamera“, das „Beste Setdesign“ und die „Beste Filmmusik“ – der unter dem Namen Hauschka bereits 2017 für „Lion“ nominierte Düsseldorfer Pianist und Soundtüftler Volker Bertelmann gestaltete den dynamischen Score teilweise mit einem Harmonium, bei dem der Ton durch Luftschwingung entsteht.
Der analoge, traurig-resignierte Klang passte hervorragend zu der traurig-resignierten Aussage des für Netflix produzierten Antikriegsfilms, dessen Relevanz unabsichtlich durch den aktuellen russischen Angriffskrieg unterstrichen wurde.
In der Kategorie „Sounddesign“ musste sich das deutsche Team freilich gegen die nominierten Kollegen von „Top Gun Maverick“ geschlagen geben, was irgendwie auch typisch ist: In beiden Filmen knallt es ordentlich, aber sowohl das gezeigte Helden- als auch das Feindbild wird doch sehr unterschiedlich interpretiert.
Hier stirbt der resignierte, ausgelaugte „Held“ (gespielt von Felix Kammerer) folgerichtig im unerbittlichen und brutalen Stellungskrieg; dort fliegt der heroische und ständig en passant Menschenleben rettende Protagonist (gespielt von Tom Cruise) nach der erfolgreichen Auseinandersetzung mit einem Schurkenstaat per kolossaler Kampfmaschine malerisch und siegreich in den Sonnenaufgang.
Im kollektiven Kanon der US-Kriegsfilme
Darüber hinaus hat es noch weitere Gründe, dass die dritte Filmversion von „Im Westen nichts Neues“ – nach der ebenfalls hoch beeindruckenden und bei der dritten Oscar-Show überhaupt für „Beste Regie“ ausgezeichneten US-Kino-Adaption von 1930 und einer ebenfalls emotionalen und gut gespielten US-Fernsehproduktion aus dem Jahr 1979 – in den USA überhaupt so leidenschaftlich, besser gar als von einigen deutschen Kritiker:innen gefeiert wird.
Die Geschichte ist als Heldenreise und in ihrer pazifistischen Botschaft einerseits universal, andererseits gehört sie – nicht zuletzt durch die genannten alten Adaptionen – schon lange zum kollektiven Kanon der US-Kriegsfilme, was es ihr in den USA traditionell leichter macht, als neue, originäre Storys.
Dazu kommt, dass US-amerikanische Zuschauer:innen Bergers Idee einer quasihistorischen Ebene mit Daniel Brühl als (echter) Politiker Matthias Erzberger und Thibault de Montalembert als (echter) Marschall Foch, deren Strang mit den Friedensverhandlungen mit Frankreich nicht in der Buchvorlage vorkommt, als spannenden Hintergrund aufnehmen.
Hierzulande wurden die Szenen dagegen als Abweichung vom Roman wahrgenommen und es wurde kritisiert, dass die Unterbrechung der Geschichte von den Schicksalen der Soldaten ablenkt. Erich Maria Remarque, dessen Buch auf seinen eigenen Fronterfahrungen beruht, setzte schließlich bewusst fiktionale, unbekannte Soldaten in den Mittelpunkt seines Dramas – um ihnen nicht von den historischen „Entscheidern“ die Schau stehlen zu lassen.
Friedlicher Abend ohne Backpfeifen
Berger hatte bei diesem gemeinsam mit zwei weiteren Drehbuchautor:innen ausgetüftelten Drehbuchgedanken den Hinweis auf den ein paar Jahre später folgenden Zweiten Weltkrieg im Kopf und wollte mit Erzbergers Ansinnen die Lüge andeuten, mit denen die Nazis später ihren Krieg rechtfertigten: Das Militär sei von der Politik „verraten“ worden, darum habe man den Ersten Weltkrieg verloren.
Dass Daniel Brühl darüber hinaus in den USA ein bekannter Kopf ist, hat dem Film garantiert ebenfalls bei seinem Durchmarsch geholfen – genauso wie das technisch extrem hohe Niveau sämtlicher beteiligter Gewerke und die megalomanen Ausmaße des imposanten Sets. Der deutsche ist definitiv kein „kleiner“ Film – so etwas ist ein Kriterium für die ebenso megalomane US-Unterhaltungsbranche.
Ansonsten ging die 95. Ausgabe der US-amerikanischen Branchenpreise relativ unaufgeregt über die Bühne des Dolby Theatres in Hollywood. Moderator Jimmy Kimmel hängte beim Verlassen der Bühne nonchalant eine „1“ unter eine Tafel mit der Aufschrift „Number of Oscar telecasts without incidents“ – so smooth und frei von Ambivalenzen lief es lange nicht mehr. Dabei stand Will Smith’ medienwirksame Backpfeife, die im letzten Jahr zu dessen Ausschluss aus der Oscar Academy geführt hatte, noch immer im Raum: „Fünf irische Schauspieler sind heute nominiert“, flachste Kimmel zu Beginn der Show, „die Chancen für eine Schlägerei auf der Bühne stehen also nicht schlecht!“
Aber obwohl Martin McDonaghs weises, brillantes und (wie „Im Westen nichts Neues“) in stolzen neun Kategorien nominiertes irisches Freundschaftsdrama „The Banshees of Inisherin“ gar nicht ausgezeichnet wurde, blieb man friedlich.
Preise für Fantasy-Sci-Fi-Spektakel mit Migrationsgeschichte
Ebenso blieb man größtenteils weiß und männlich: In der Kategorie „Bester Film“ war mit Sarah Polley zwar eine Frau nominiert, die Kanadierin musste sich aber dem vom Glück (und den fast 10. 000 Akademie-Mitgliedern) gleichsam zungengeküssten „Everything Everywhere All at Once“ geschlagen geben und freute sich für ihr Drama über Kirche und Patriarchat stattdessen über den Preis für das „Beste adaptierte Drehbuch“.
James Camerons bildlich beeindruckende, aber erzählerisch dünne Fantasy-Action „Avatar – The Way of the Water“ wurde mit einem Preis für visuelle Effekte geehrt. Im Vorfeld als sichere Oscar-Abräumer gehandelte Filme wie „Elvis“ (als klassische US-amerikanische Aufsteigergeschichte) und Steven Spielbergs „The Fabelmans“ (dito) blieben preislos, auch das Kostümdesign von Baz Luhrmanns sinnlicher und immersiver Filmbiografie musste sich den überragenden, fantasievollen Outfits von „Wakanda Forever“ geschlagen geben.
Die düstere, angenehm sperrige, fiktive Dirigentinnen-Biografie „Tár“ von Todd Field blieb ebenfalls trotz sechs Nominierungen ohne Auszeichnung – vielleicht ist der Film zu unnachgiebig für die mit klaren Helden- und Antihelden-Bildern sozialisierten US-Filmschaffenden.
Am meisten jubilierten am Ende die wegen ihres gleichen Vornamens unter „Daniels“ firmierenden Erschaffer eines anderen Werks: „Die Idee war, meine Mutter in die Matrix zu schicken“, hatte Daniel Kwan, einer der beiden „Everything Everywhere All at Once“-Regisseure, zuvor den Film zusammengefasst, der auch die Preise für die „Beste Hauptdarstellerin“ (Michelle Yeoh), die besten Nebendarsteller:innen (Jamie Lee Curtis und Ke Huy Quan) sowie Drehbuch, Schnitt und Regie bekam.
Anarchisch, unterhaltsam und anrührend ist das Fantasy-Sci-Fi-Spektakel über eine Waschsalon-Chefin auf jeden Fall. Eine subtile, gesellschaftspolitische Aussage zur asiatischstämmigen Community in den USA erkennt man in jeder der irren Szenen: Menschen mit asiatischen Wurzeln waren so bei dieser Oscar-Verleihung endlich einmal deutlich vernehmbar, nicht zuletzt, weil Daniel Kwans und Daniel Scheinerts ideenreiches Script auch eine klassische Migrationsgeschichte spiegelt.
Darüber hinaus gab man sich versöhnlich bei der Veranstaltung, die eigentlich durch die Idee von Konkurrenz lebt, hielt sich mit (außen-)politischen Aussagen auffällig zurück – und legte den Fokus stattdessen auf Teamwork: „Genius emerges from the collective“ erklärte Daniel Kwan.
Zum Schluss zog Oscargewinnerin Jamie Lee Curtis in der ersten Reihe ihre Schuhe aus und jubelte barfüßig für die Kolleg:innen. Vielleicht wollte sie auch nur den roten Teppich schonen, über den sie vermutlich kurz darauf zur Party hüpfte. Der war in diesem Jahr nämlich empfindlich champagnerfarben.
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