„Tár“ mit Cate Blanchett: Sag, was fühlst du?

In „Tár“ lässt Regisseur Todd Field seine Hauptdarstellerin Cate Blanchett als Dirigentin eine komplexe Figur ausleben. Man sieht ihr gern dabei zu.

Lydia Tár (Cate Blanchett) dirigiert eine Probe, im Hintergrund sitzt die Konzertmeisterin Sharon (Nina Hoss)

„Natürliche Autorität“: Lydia Tár (Cate Blanchett), im Hintergrund die Konzertmeisterin (Nina Hoss) Foto: Focus Featurs, LLC.

Wie viele Dirigentinnen kennen Sie? Wenn die Antwort „keine“ lauten sollte, ist das zwar nichts, über das man sich zu freuen braucht, doch hat es nur sehr eingeschränkt mit Ignoranz zu tun. Der Musikbetrieb hat unter den Personen, die Orchester leiten, bisher einfach deutlich weniger Frauen hervorgebracht als Männer.

Zwar gab es schon im 20. Jahrhundert eine Reihe von Dirigentinnen, die meisten von ihnen blieben jedoch, wie die französische Komponistin Nadia Boulanger, zeitlebens Gast in diesem Beruf. Frauen, die von sich sagen können, dass sie vertraglich garantiert bekommen, regelmäßig vor demselben Orchester den Taktstock heben zu dürfen, stellen nach wie vor eine Minderheit, zu der zum Beispiel die Finnin Susanna Mälkki gehört.

Dieses Ungleichgewicht bildet die Grundlage für „Tár“, die erste neue Regiearbeit des US-amerikanischen Schauspielers und Regisseurs Todd Field seit „Little Children“ von 2006. Lydia Tár, die fiktive Protagonistin, der Film schreibt ihren Nachnamen im Titel demonstrativ in Großbuchstaben, ist eine Frau, die es als Orchesterleiterin zu künstlerischem Ruhm gebracht hat. Sie ist zudem die erste Frau, die dauerhaft die Berliner Philharmoniker leiten wird.

Zu Beginn sieht man Lydia Tár bei einem Podiumsgespräch mit dem Journalisten Adam Gopnik des New Yorker, der sich selbst spielt. Sie reden über die genannten strukturellen Probleme, unter denen Dirigentinnen wie Antonia Brico zu leiden hatten, über Társ Mentor Leonard Bernstein und ihren eigenen Interpretationsansatz. Während des Gesprächs streicht sich Tár mehrfach nervös mit den Fingern über den Rand des Ohrs, was in leichtem Kontrast zu ihrem selbstbewusst eloquenten Auftritt steht.

„Tár“. Regie: Todd Field. Mit Cate Blanchett, Noémie Merlant u. a. USA 2022, 158 Min.

Tár betont, dass es für Interpreten darauf ankommt, was man bei der Musik selbst empfindet. Ohne das sei künstlerischer Ausdruck kaum möglich. Kein unbedingt origineller Ansatz, ließe sich einwenden, doch droht er unter dem vielen Gehabe um Virtuosität in Vergessenheit zu geraten.

Blanchett vereinnahmt zweieinhalb Stunden die Leinwand

„Tár“, der im vergangenen Jahr im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig lief, wo Blanchett den Preis als beste Darstellerin erhielt, lebt zuallererst von ihrer magischen Fähigkeit, die Leinwand zu vereinnahmen. Was Todd Field dazu ermuntert haben könnte, seine Hauptdarstellerin in jeder Szene des Films zu zeigen. Für die zweieinhalb Stunden, die er dauert, geht diese Entscheidung hervorragend auf. Man sieht eine große Künstlerin, nicht unbedingt sympathisch, dafür umso einnehmender in ihrer Leidenschaft für die Musik.

Der Alltag rund um die Proben ist eine der Ebenen des Films. Tár am Pult, die mit dem, was man „natürliche Autorität“ nennt, die Musiker der Berliner Philharmoniker dazu bringt, das zu tun, was sie will. Bei Mahlers 5. Symphonie insbesondere, die sie für das nächste Konzert probt. Mit einem Livemitschnitt will Tár ihren Mahler-Zyklus an der Spitze der Berliner Philharmoniker vollenden.

Lustigerweise stammen die Orchesterklänge, die man im Film hört, von den Dresdner Philharmonikern, die im Film zugleich die Berliner Kollegen mimen. Zur weiteren Verwirrung trägt bei, dass der Film, der zu großen Teilen in Berlin spielt und für den einige Szenen dort ebenfalls gedreht wurden, bei den Orchesterproben das Innere des Dresdner Kulturpalasts zeigt.

Begrenztes Verständnis für woke Ansichten

An anderer Stelle ist Tár in New York zu erleben, wie sie sich mit Sponsoren eines von ihr ausgelobten Künstlerstipendiums trifft oder eine Klasse in der Juillard School of Music abhält. Im Umgang mit den Studenten zeigt sich eine weitere Facette der von Field komplex angelegten Figur.

Tár, die sich beruflich in einer Männerdomäne behauptet und privat in einer lesbischen Beziehung mit ihrer Konzertmeisterin Sharon (wunderbar trocken: Nina Hoss) plus Tochter lebt, hat für die woken Ansichten der jüngeren Generation begrenztes Verständnis. Sie selbst würde sich lieber mit „maestro“ ansprechen lassen als mit „maestra“ – so wie es im englischsprachigen Raum unter einigen Schauspielerinnen etwa die Haltung gibt, dass sie lieber „actor“ als „actress“ sein wollen, um sich nicht gegenüber Schauspielern männlichen Geschlechts diskriminiert zu fühlen.

Als Tár einen der Studenten fragt, was er von Bach hält, entgegnet dieser, dass er Bach, einen Familienvater mit 20 Kindern, sexistisch finde. Ihm als pansexueller BIPoC habe dieser heterosexuelle Cis-Mann nichts zu sagen.

Worauf Tár zum Klavier schreitet, um eines der vermeintlich abgenudeltsten Werke Bachs, das Präludium in C-Dur aus dem ersten Teil des „Wohltemperierten Klaviers“, zu spielen und die Qualitäten des Stücks durch unterschiedliche Interpretationsweisen auszuloten. Dabei konfrontiert sie den Studenten mit der Frage, was er dabei fühle. Blanchett spielt in dieser Szene das Instrument übrigens selbst.

Ambivalenz als Faszination der Figur

Im Stil übergriffig und verletzend, stellt Tár eine gleichwohl berechtigte Frage: Welche Musik kann heute welches Publikum erreichen? Und ist Identität das wichtigste Kriterium, das man für die Antwort berücksichtigen sollte? Diese Ambivalenz von Tár macht einen gut Teil der Faszination der Figur aus.

Wäre „Tár“ ein reiner Porträtfilm dieser fiktiven Künstlerin, wäre er reizvoll genug. Todd Field hat aber noch eine weitere Erzählung in diesen Hauptstrang eingeflochten, die für die Handlung in der zweiten Hälfte bestimmend sein wird. Hinweise auf einen möglichen Konflikt streut Field schon früh, wenn Társ Assistentin Francesca (gekränkt dienstfertig: Noémie Merlant) diese auf E-Mails einer früheren künstlerischen Protegée hinweist, die Francesca beunruhigend findet. Tár fordert sie lediglich auf, den Schriftverkehr mit der Musikerin zu löschen.

Was genau vorgefallen ist, offenbart der Film in knappen Hinweisen, es läuft auf eine Art #MeToo-Skandal hinaus, in dem Tár ihre Macht missbraucht hat. Dieser Aspekt des Drehbuchs sorgte für einige Kritik.

Dass ein Film, der mit seiner Protagonistin Neuland betritt und als Plädoyer für Gleichberechtigung verstanden werden kann, seiner Figur zugleich ein Bein stellt, ist unter anderem der US-amerikanischen Stardirigentin Marin Alsop sauer aufgestoßen, die sich in einem Interview mit der Sunday Times persönlich beleidigt zeigte. So als solle die eine Kunstfigur stellvertretend den ohnehin benachteiligten Berufsstand der Dirigentinnen desavouieren.

Feministische Liebeserklärung an die Musik

Man kann den Film aus dieser Perspektive kritisieren. Doch scheint er bei näherer Betrachtung zwei Geschichten zu verfolgen, die sich nicht zwangsläufig in der einen Person vereinen. Dass jemand eine große Musikerin ist, heißt weder, dass sie ein netter Mensch sein muss, noch, dass sie durch Macht nicht korrumpierbar wäre. Dirigentinnen mit seinem Film zu entmutigen, scheint jedenfalls nicht die Absicht Fields gewesen zu sein.

Akzeptiert man diese Abgründe des Films, bleibt eine durchaus feministische Liebeserklärung an die Musik, die nicht allein im Bild, sondern ebenso mit einer vielschichtigen Tonspur begeistert, in der Alltagsgeräusche mitunter bedrohliche Dimensionen annehmen. Zusätzlich zur Probenmusik von Mahler und Edward Elgar hat die isländische Filmkomponistin Hildur Guðnadóttir Klänge beigesteuert, mit denen sie die Unstimmigkeiten von Társ Charakter suggestiv hervorhebt.

In den USA scheint es der Film, der immerhin für sechs Oscars nominiert ist, an der Kasse nicht leicht zu haben. Er macht es einem auch nicht leicht. Das macht er dafür auf hinreißende Art.

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