Film-Highlight des Jahres: Alles, überall, auf einmal

„Everything Everywhere All At Once“ thematisiert intergenerationales Trauma. Es geht um Blockaden des gemeinsamen Sprechens.

Michelle Yeoh hält 2 eine Frau und einen Mann zurück

Michelle Yeoh (Mitte) in „Everything Everywhere All At Once“ Foto: Allyson Riggs/A24 Films/ap

Mein absolutes Filmhighlight dieses Jahr war „Everything Everywhere All At Once“ mit Michelle Yeoh in der Hauptrolle. Um genau zu sein: in unendlich vielen Hauptrollen. In einem Science-Fiction-Film über das Multiversum ist das so angelegt: Überall existieren in Paralleluniversen gleichzeitig tausende Versionen einer Person an tausenden Orten.

Sie laufen sich nur üblicherweise nicht über den Weg. Für eine Schauspielerin wie Yeoh ist das ein Traum, weil sie eine ganze Bandbreite an Figuren in einem Film verkörpern kann. Zunächst spielt sie Evelyn Wang als amerikanisch-chinesische Besitzerin eines Waschsalons. Sie wird von einer Steuerprüferin der IRS verfolgt und muss dann schnell mal eben das Multiversum vor der kompletten Zerstörung retten.

EEAAO ist der queerste Film, den ich seit Langem gesehen habe. Nicht nur, weil der Film auch auf der formellen Ebene lineare Narrative durchkreuzt und als Migrationserzählung des Queer Cinemas darauf verzichtet, die Zweite Generation in ein Schema des Bemitleidens der eigenen Eltern zu drücken. Und nicht nur, weil Stephanie Hsu die Rolle von Evelyns lesbischer Tochter Joy mit einer großartigen Mischung aus Ungeduld und Zuneigung gegenüber ihrer Mutter spielt. Sondern auch, weil Michelle Yeoh und Jamie Lee Curtis immer Chemie haben, egal ob die IRS-Lady die ganze finanzielle Existenz von Evelyn in der Hand hält oder die beiden sich in einem Universum am anderen Ende der Galaxis als Liebespaar mit Hot-Dog-Fingern umtanzen – also buchstäblich mit Händen, die lange, wedelnde Wiener Würstchen als Finger haben.

Eine Mutter-Tochter-Geschichte

Frei übersetzt heißt der Film „Alles, überall, alles auf einmal“. Diese überreizende Flut der Gleichzeitigkeit blättert sich mit der Zeit in immer komplexere Bedeutungsebenen auf. Zunächst vereint das Drehbuch mit Sci-Fi, Martial Arts, Komödie und Drama eine ganze Reihe von Genres in einem einzigen Film. Das klingt gaga, im Erleben fügt sich das alles jedoch so logisch ineinander, dass ich die erste Hälfte des Films Tränen gelacht habe und in der zweiten Hälfte zu Tränen gerührt war. Denn mit der Idee, alle möglichen Szenarien im selben Moment wahrzunehmen und die Grenzen zwischen den Dimensionen einzureißen, wird hier weit mehr verhandelt. Der neoliberale Fluch zum Beispiel, der im Wort „eigentlich“ steckt. Das ewige Bereuen all der Wege also, die man hätte gehen können, aber nicht gegangen ist.

Am Ende erzählt EEAAO eine Mutter-Tochter-Geschichte, die intergenerationales Trauma auf eine Weise zum Thema macht, die ich so im Kino noch nicht gesehen habe. Die Blockaden des gemeinsamen Sprechens, die uns gesellschaftlich auferlegt werden, sind hier in allen Universen am Werk. Und die Tragik, dass wir nicht gelernt haben, wie wir solchen Blockaden begegnen können. Ich habe mich oft gefragt, wie es wäre, wenn wir das von klein auf lernen – überall und alles auf einmal, egal wo. Eine Filmstunde mit EEAAO wäre ein Anfang.

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Redakteurin für Kunst in Berlin im taz.Plan. Alle 14 Tage Kolumne Subtext für taz2: Gesellschaft & Medien. Studierte Gender Studies und Europäische Ethnologie in Berlin und den USA. 2020 Promotion "Chrononauts in Chromotopia" zum Lusterleben in der abstrakten Malerei. Themen: zeitgenössische Kunst, Genderqueerness, Rassismus, Soziale Bewegungen.

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