Optimismus und grauenhafte Zahlen : „Hört sich das fatalistisch an?“
Wie können wir die Welt wieder „in Ordnung“ bringen, Armin Nassehi? Der Soziologe über das Diabolische bei Merz, fehlende Kompetenz und kleine Fortschritte.

taz FUTURZWEI | Herr Professor Nassehi, unlängst schien uns die Welt noch in Ordnung.
Armin Nassehi: Mir auch, muss ich jetzt wohl antworten.
taz FUTURZWEI: Das war jetzt schon die ganze Antwort?
Armin Nassehi: Ich habe alles gesagt, wir brauchen gar kein Gespräch.
taz FUTURZWEI: Dann lassen Sie uns präzisieren: Bis zur Wahl von Obama zum US-Präsidenten waren viele Liberaldemokraten in diesem Modus, dass doch alles langsam immer besser wird. Seit der ersten Wahl von Trump herrscht der Eindruck, es werde alles immer schlechter. Wie lange schien denn für Sie die Welt in Ordnung zu sein oder ist sie jetzt noch in Ordnung?
Nassehi: Sie ist natürlich nicht in Ordnung, das wissen wir ja alle. Aber sie wirkt dann in Ordnung, wenn wir denken, dass wir mit ein paar instrumentellen Maßnahmen die Dinge in Ordnung bringen könnten, das ist nämlich die Ordnung, die gilt. Wir haben große Probleme mit allem Möglichen, mit Klimafragen, mit Energiefragen, mit Fragen von Ungleichheit, mit Fragen von Zugehörigkeit. In Ordnung ist die Welt ja dann, wenn Leute wie wir, die wir unser Geld damit verdienen, Spiegel vorzuhalten, so tun können, als gäbe es problemlos implementierbare Konzepte. Und darunter leiden, dass die anderen diese Konzepte nicht in Anspruch nehmen.
taz FUTURZWEI: Es geht darum, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, dass die Welt in Ordnung sein könnte?
Nassehi: Das ist ja eine interessante Art von Ordnung, dass auch wir daran glauben, dass es sieben Punkte oder, weil es jetzt komplexer ist, 27 Punkte gäbe, und wenn wir die gegen den Willen derer, die nicht wollen, abarbeiten würden, dann wäre die Klimaerwärmung weg und dann hätten wir nicht mehr so ein stressiges Leben und dann müsste man nicht Symbolpolitik an Grenzen machen. Die große Unordnung besteht inzwischen darin, festzustellen, dass diese Idee – wenn wir nur das Richtige tun, es richtig wollen und diesen Willen auch noch mit guter Laune allen anderen als einsichtsfähige Notwendigkeit unterstellen, sogar wie die alten Linken behaupten, dass das der eigentliche Willen der Kujonierten sei, wenn wir also nur das Richtige tun, dann wird das Richtige dabei rauskommen – inzwischen ziemlich dekonstruiert worden ist. Also auf Deutsch, in die Tonne gekloppt worden ist.
ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ab 1. Oktober derenVizepräsident. Systemtheoretiker und Herausgeber des Kursbuch. Mitglied des deutschen Ethikrats. Jahrgang 1960, geboren in Tübingen, aufgewachsen in Gelsenkirchen.
Sein Werk umfasst (u. a.):Kritik der großen Geste (C.H.Beck 2024) und sein Standardwerk über Protest Das große Nein (kursbuch.edition 2020).
taz FUTURZWEI: Moment, Moment. Kann ja sein, dass das für die kritischen Sozialwissenschaftler und Kulturwissenschaftler zutrifft. Aber Klimaforscher sind immer noch in diesem Modus. Die gehen nur langsam ins Magische über mit ihren wunderbaren Berechnungen, wie man im Jahr 2070 noch zurück auf 1,5 Grad kommt.
Nassehi: Naja, die kritischen Sozial- und Kulturwissenschaftler basteln tatsächlich schön mit an der hübschen Ordnung und wissen genau, was zu tun ist. Sie repräsentieren diese Ordnung geradezu. Klimawissenschaftler sind ganz ähnlich, aber auch ein bisschen anders. Sie haben heute immer komplexere Modelle, sie haben mehr Wissen, aber das macht auch die Einwirkungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten noch komplexer und voraussetzungsreicher. Aber Naturwissenschaftler sind Leute, die sagen: Wir wissen doch jetzt alles und wir wissen, was getan werden muss. Und dann ist da so eine komische Gesellschaft, und die macht das nicht.
taz FUTURZWEI: Was sagen Sie denen als Sozialwissenschaftler?
Nassehi: Ich kontere dann immer und sage, dass auch eine Gesellschaft ein interessantes Rückkopplungssystem ist, bei dem bestimmte Parameter zu unbeabsichtigten Folgen führen, zu Kipppunkten, zu Zuständen, in denen man womöglich keinen kausalen Zugriff mehr auf bestimmte Dinge hat. Die Naturwissenschaftler sind wahnsinnig schlaue Leute, aber in ihrer Kommunikation sind sie oft sehr kausalistisch. Wenn wir x tun, passiert y. So etwas Ähnliches gilt ja interessanterweise auch für unsereins. Wir laufen in ähnliche Kurzschlüsse rein, und zwar mit ähnlichen Illusionen. Jetzt ist die Frage, was ist die Konsequenz daraus? Heißt das, dann lassen wir es eben? Das kann es nicht sein.
taz FUTURZWEI: Vielleicht wäre ja schon mal nicht schlecht, anzuerkennen, dass im Moment Ratlosigkeit vielleicht produktiver ist, als Rat zu haben und Rat zu geben. Und das Frustrierende ist: Sie geben ja alle weiter Rat und modifizieren den so ein bisschen.
Nassehi: Also, kausale Sätze kriegen wir ja alle hin. Etwa so: Wenn es mehr Elektroautos gibt, dann gibt es weniger CO2-Ausstoß, und dann wird die Erderwärmung nicht aufgehalten, aber die Kurve ist etwas flacher. Solche Sätze stimmen, aber sie -erreichen gar nicht die Betriebstemperatur aller Faktoren, die da mit reinspielen. Und dann kann man sagen, jetzt machen wir es komplexer und sagen: Dafür muss allerdings der Energiemix komplett aus erneuerbaren Energien bestehen. Und dann werden noch mehr und noch mehr und noch mehr Parameter dazukommen. Das überfordert natürlich die öffentliche Diskussion. Ich rede oft mit vernünftigen Leuten, die feststellen, dass ihre Lösungen Probleme für die anderen produzieren. Die sagen alle inzwischen: Wir können gute Entscheidungen eigentlich nur dann treffen, wenn wir dafür sorgen, dass das nicht in die öffentliche Diskussion kommt.
taz FUTURZWEI: Weil?
Nassehi: Weil es dann sofort zerpflückt wird. Das zerschießt ja alles, was wir demokratietheoretisch so hochhalten. Aber wahrscheinlich werden manche Lösungen nur realisiert, wenn man sie aus den Debatten raushält. Man kann ja von CO2-Bepreisung halten, was man will, aber die Experten sagen, das funktioniert nur, wenn das nicht jeden Tag in der Bild-Zeitung steht. Ob das stimmt oder nicht, weiß ich nicht, aber es klingt plausibel.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°34: Zahlen des Grauens
Die weltweiten Ausgaben für Rüstung betragen 2700 Milliarden Dollar im Jahr, ein 270stel davon wird weltweit gegen Hunger investiert. Wir präsentieren Zahlen des Grauens und plädieren gerade deshalb für Orientierung an Fakten statt an Talkshow-Aufregern.
Mit: Matthias Brandt, Dana Giesecke, Maja Göpel, Wolf Lotter, Armin Nassehi, Sönke Neitzel, Katja Salamo und Harald Welzer.
taz FUTURZWEI: Der Gestaltwandel der Öffentlichkeit verhindert, dass man noch irgendeine ernsthafte Debatte führen kann. Es ohne Öffentlichkeit zu versuchen, ist dann aber leider nicht mehr besonders demokratisch.
Nassehi: Das ist jetzt ein sehr riskanter Satz, den ich sage, aber die Frage wäre, ob nicht die meisten Entscheidungen mit großer Wirkung eher nicht so demokratische Entscheidungen gewesen sind. Aber ohne die öffentliche Legitimation funktioniert das auch nicht. Nur braucht die öffentliche Legitimation- Symbolgeschichten. Also Innenminister Dobrindt weist 32 Leute in Kufstein ab, und damit ist die Umvolkung abgewendet und so weiter. Das hat ja alles eine symbolische Bedeutung in der Öffentlichkeit.
taz FUTURZWEI: Aber das Interessante ist ja, dass das ja genau dazu führt, dass Leute sich nicht mehr für Politik und politische Aushandlungen interessieren. Es gibt ja Untersuchungen darüber, dass sich die Abwendung von Information und von Debatte immer weiter verbreitet.
Nassehi: Wir reduzieren uns auf Lösungen, die keine sind und von denen wir wissen, dass sie keine sind. Dann sagen wir, man muss das nur richtig kommunizieren.
taz FUTURZWEI: Genau.
Nassehi: Wenn die Reifen immer wieder geplatzt sind, dann muss man darüber besser kommunizieren. Dann platzen sie nicht mehr so laut.
taz FUTURZWEI: Kommen wir mal zu den Zahlen des Grauens. Wir haben in dieser Ausgabe eine Reihe von Zahlen, die wirklich grausame Fakten benennen. Es gibt aber auch die Gegenthese, dass die Zahlen und Fakten viel besser sind, als unser dramatisierendes Reden uns glauben lässt.
Nassehi: Die Zahlen des Heils?
taz FUTURZWEI: Die Zahlen des Heils, ja, genau. Aber erstmal eine Zahl des Grauens. Die Ausgaben für Rüstung steigen weltweit in diesem Jahr um zehn Prozent auf 2.718 Milliarden US-Dollar. Die globale Armutsbekämpfung geht runter auf etwa 200 Milliarden, also auf weniger als ein Dreizehntel davon. Belegen diese Zahlen, dass die Staaten der Welt auf dem Weg zu mehr Konfrontation sind?
Nassehi: Die spannende Frage ist, ob die Konflikte vorher da sind oder danach kommen. Man kann sagen, wir rüsten jetzt alle auf und werden dadurch sicherer. Der Umkehrschluss wäre, wir rüsten nicht auf und werden dadurch sicherer. Auch hier gibt’s keine monokausalen Lösungen. Aber das sind in der Tat Zahlen des Grauens. Das würde ich auch so sehen.
taz FUTURZWEI: Also eine andere verblüffende Zahl: Im Moment herrscht der Eindruck, die Bundeswehr sei desaströs unterfinanziert. Die Zahlen sagen aber, dass Deutschland weltweit am viertmeisten für Militär ausgibt, hinter den USA, China und Russland. Und wenn wir die fünf Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für Nato-Verteidigung ausgeben, dann überholen wir sogar Russland.
Nassehi: Die Ökonomen sagen immer, dass das Zeug hier teurer ist als in Russland und man weniger fürs Geld kriegt. Vielleicht ist die Bundeswehr die Deutsche Bahn unter den Armeen: Wir geben wahnsinnig viel Geld aus, und die Dinge funktionieren offensichtlich trotzdem nicht.
taz FUTURZWEI: Heißt?
Nassehi: Ich bin gar nicht dagegen zu sagen, dass es so etwas wie Abschreckungspotenziale geben muss. Wahrscheinlich muss es das im Moment. Aber einfach die Ausgaben zu erhöhen, wird keines der Probleme lösen. Wie man übrigens bei der Deutschen Bahn auch durch die Erhöhung der Ausgaben die Züge wohl nicht pünktlicher macht. Es ist wohl eher ein Umsetzungsmanagement-, Komplexitätsbearbeitungs- und wahrscheinlich auch ein Mutproblem, die Sachen entsprechend zu machen.
taz FUTURZWEI: Es liegt nicht an zu wenig Geld, wie wir in Deutschland regelmäßig glauben?
Nassehi: Geld ist immer zu wenig, das liegt schon in seiner Funktion begründet. Ich würde aber eher sagen: Es gibt offensichtlich ein Kompetenzproblem.
taz FUTURZWEI: Und die Regierung hat jetzt richtig Geld zum Ausgeben.
Nassehi: Ja, Kanzler Merz hat einen ganzen Wahlkampf damit gemacht, dass er kein Geld mehr ausgibt. Das hat ja etwas Diabolisches, wenn jemand wie Merz nun diese Hunderte von Milliarden Schulden aufnehmen muss und wahnsinnig viel Geld für Infrastruktur ausgibt, wenn die Ampel-Regierung an sechzig Milliarden Euro gescheitert ist. Dass das für viele unglaubwürdig wirkt, ist kein Zufall. Umfragen zeigen, dass man keinem der politischen Akteure irgendetwas zutraut. Auch der AfD nicht. Die Ergebnisse sind demütigend. Es gibt ein generalisiertes Misstrauen in allgemeine Strukturen, in Kollektives. Und es gibt das, was man das Zufriedenheitsparadox nennt.
taz FUTURZWEI: Bei mir geht es ja, aber das Allgemeine ist schlecht.
Nassehi: Richtig. Selbst wenn einiges funktioniert, verschwindet dieser Eindruck nicht, gerade im Osten. Wer mobil ist, haut dann natürlich da ab, in diesem Fall meist junge Frauen. Das wissen wir aus der Migrationsforschung, dass die Leute selten abhauen, weil sie sich von dem Ziel etwas Besseres erhoffen, sondern fast immer, weil es dort, wo sie gerade sind, schlecht ist.
taz FUTURZWEI: Egal, über welches gesellschaftliche Teilsystem wir sprechen, es wird immer gesagt, da ist kein Geld. Aber in Wirklichkeit ist unheimlich viel Geld, egal ob in Bildung, Medizin oder sozialen Sachen. Das systemische Problem besteht darin, wie dieses Geld verarbeitet und verorganisiert wird. Das Verrückte ist, dass trotzdem immer in derselben Richtung weitergemacht wird.
Nassehi: Was Sie gerade über das Militär gesagt haben, kann man in Deutschland auch über die Medizin sagen. Es gibt kaum ein Land, in dem so viel Geld ausgegeben wird für Medizin. Und in den objektiven und vergleichbaren Parametern wie Lebenserwartung oder Gesundheitsstatus sind wir keineswegs die besten. Am meisten Geld geben wir tatsächlich aus für diagnostische Maßnahmen, die ziemlich teuer sind. Es funktioniert also die immer gleiche Lösungslogik. Wenn etwas nicht gut ist, brauchen wir mehr davon. Wenn etwas nicht funktioniert, brauchen wir mehr: mehr Komplexität, noch mehr Arbeitsgruppen, noch mehr Lösungsvorschläge.
taz FUTURZWEI: Was tun?
Nassehi: Es ist immer nur more of the same. Und wenn man sparen will, less of the same. Statt zu fragen: Gibt es eigentlich alternative, dritte Modelle? Kann man die gleichen Ziele mit anderen Mitteln erreichen? Schlechtere Gesundheitssysteme produzieren das gleiche Ergebnis. Und vom Bildungssystem wollen wir gar nicht erst reden. Wir stecken da wahnsinnig viel Geld rein und gönnen uns, dass sieben Prozent eines Jahrgangs, in manchen Regionen erheblich mehr, keinen Abschluss haben. Und dass wir an bestimmten Stellen gar nicht mehr unterscheiden können, ob eigentlich migrantische oder andere Lebenslagen die schlimmsten sind. Und was machen wir? Wir sagen, wenn weniger Migranten da sind, werden diese Probleme strukturell gelöst. Da mangelt es manchmal an Ernsthaftigkeit.
taz FUTURZWEI: Es ist der populistische Versuch, Ordnung zu simulieren.
Nassehi: Es ist hochinteressant, dass wir uns Ersatzparameter schaffen, um Ordnung in die Welt zu bringen. Und das führt uns zum Anfang des Gesprächs zurück zur Frage: Was sind eigentlich die Parameter, bei denen man selbst das Gefühl hat, die Dinge im Griff zu haben, wenn man sie nicht im Griff hat? Das ist die Illusion, über diese Parameter die Dinge zu lösen.
taz FUTURZWEI: Eine Kernthese von Hans Rosling in seinem internationalen Bestseller Factfulness lautet, dass Politiker und auch normale Menschen keine richtigen Entscheidungen treffen können, weil sie die Fakten zum Zustand der Welt ignorieren. Statt Fakten und Statistiken zu lesen, denken sie sich irgendwas. In seinen Wissenstests hat Rosling herausgefunden, dass Schimpansen, die zufällig eine Antwort tippen, mehr richtige Antworten zu Weltfakten geben als Nobelpreisträger.
Nassehi: Ich habe in meinem Freundeskreis wenige Schimpansen. Es wundert mich dennoch nicht, weil Rosling ja genau damit spielt, die gültigen Vorurteilsstrukturen aka unser Wissen aufzudecken, die uns Mythen über die Welt erzählen.
taz FUTURZWEI: Zum Beispiel?
Nassehi: Die Welt wird besser, weil die Zahl der Hungertoten sinkt oder die Teilhabe von Frauen größer wird. Über diese kleinen Parameter kann er Vergleichbarkeiten produzieren, die anderen Parametern widersprechen. Aber das spannende ist ja, welche Parameter man sich anschaut und welche Folgen es hat, wenn man, zum Beispiel, erfolgreich Bürokratie abgebaut hat. Wenn DOGE in den USA beispielsweise Ämter ausdünnt, die ein Monitoring der Wasserqualität in Großstädten machen, hat man erfolgreich den Staatsapparat verkleinert und Bürokratie abgebaut. Aber wenn solche Daten nicht mehr gesammelt werden, wird man echte Gesundheitsprobleme bekommen. Es ist eine Frage der Messparameter.
taz FUTURZWEI: Rosling sagt: Dass wir falsche Aussagen über die Welt machen, liegt an einer dramatisierenden Weltsicht. Wir glauben jetzt, dass alles immer schlechter und alles immer schlimmer wird. Und bis Trump dachten viele, es wird alles immer besser. Was denn nun?
Nassehi: Es wird zugleich schlechter und besser. Aber das Schöne an Rosling ist, dass er die Perspektive wechselt und dann anderes sieht. Die globale Ernährungssituation ist zum Teil besser geworden, obwohl es oft ganz anders aussieht. Selbst die Partizipation von Gruppen, die vorher überhaupt keine Rolle gespielt haben, ist größer geworden, sogar in Diktaturen. Man kann dann genauer sehen, was wirklich hilft.
taz FUTURZWEI: Das Verrückte ist ja, dass die permanente Milderung von Problemen, die vorliegen, über Jahrzehnte tatsächlich funktioniert hat. Aber nun sind wir an den systemischen Grenzen dieses Verfahrens und es gibt eine totale Unfähigkeit, das überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Nassehi: Das sehe ich auch so. Die Unfähigkeit, das zur Kenntnis zu nehmen, liegt natürlich an den Kategorien. Man kann etwa an der Rate der weiblichen Partizipation am Wirtschaftsleben manchmal mehr über auch nicht-ökonomische Bereiche eines Landes erfahren als über die bewährten sozioökonomischen Kategorien. Diese Kategorien haben sich einfach bewährt, allerdings nicht in dem Sinne, dass wir die Probleme gelöst haben, sondern als Ordnungsprinzip. Die Indikatoren, mit denen wir Erfolg messen, liegen nicht einfach vor, sondern sind selbst das Ergebnis bestimmter gesellschaftlicher Praktiken und Erfahrungen. Vielleicht muss man anderes messen und käme so aus dem Teufelskreis, immer nur innerhalb der gewohnten Parameter more of the same zu produzieren.
taz FUTURZWEI: To wrap things up: Ist jetzt das Problem, dass wir auf einer falschen Grundlage Lösungen suchen, also die Fakten einfach ignorieren? Oder ist das Problem, dass wir in die falschen Strukturen immer mehr reintun, im Wissen oder Unwissen darüber, dass das so nicht funktionieren kann?
Nassehi: Die Leute wollen ja erfolgreich sein. Alle, wir ja auch. Aber wie wird man erfolgreich? Wenn man etwa zum Bundeskanzler gewählt werden will, sind die Möglichkeiten schon total eingeschränkt. Um eine Wahl zu gewinnen, ist es in einer Demokratie Voraussetzung, den Leuten Dinge zu versprechen, die so nicht funktionieren. Robert Habeck hat Reden gehalten, die in den letzten Wochen immer wieder gezeigt wurden, in denen er sagt, dass das Finanzierungsmodell des CDU-Programms 100 Milliarden Euro Deckungslücke hatte. Das war ziemlich genau berechnet. Das war richtig, aber für den Wahlkampf offensichtlich untauglich. Ob das stimmt oder nicht, das interessiert doch überhaupt niemanden. Das können wir jetzt oberkritisch kritisieren, aber wenn wir in der Situation wären, würden wir vielleicht nicht das Gleiche, aber so etwas Ähnliches sagen, weil wir ja gewählt werden wollen. Wir würden auf keinen Fall hingehen und sagen: Passt mal auf, Leute, wir müssen jetzt erst mal zugeben, dass das, was wir machen wollen, mit einer höheren Kreditaufnahme verbunden ist, oder ihr müsst erst mal verzichten, worauf auch immer. Effektiver ist der Satz, die Kritik der Opposition eben als das abzutun, was sie ist: die Kritik der anderen. Das ist das Spiel, aus dem schwer zu entkommen ist. Nicht einmal durch Appelle. Deshalb muss man den Leuten Dinge versprechen, die sie nie kriegen werden, um dann etwas anderes tun zu können, was nötig wäre. Hört sich das fatalistisch an? Ein bisschen schon, aber das ist es, was ich damit meinte, dass wir immer schon eingelassen sind in die Erwartungsstrukturen, die wirken.
taz FUTURZWEI: Wir sind in einer Phase, in der der temporäre, vielleicht scheinbare Siegeszug der rationalen Argumente gerade abgeschafft wird. Offenbar, weil die Lösungskompetenz bis zu einem bestimmten Niveau super funktioniert hat und nun nicht mehr. Und dann kommen die anderen und sagen, das interessiert uns ja alles nicht.
Nassehi: Trump geht ja hin und sagt, wenn wir die Hälfte der Bürokratie abschaffen, ist alles gut. Das sind ja tatsächlich Lösungen, die man erreichen kann. Es ist gar nicht so schwer, die Hälfte der Bürokratie abzuschaffen. Zumindest in den USA geht das. Zu sagen, wir machen jetzt die Grenzen zu, ist auch eine simple Form von Lösung. Die Leute, die mit demokratischer Legitimation solche Dinge machen, sind dann erfolgreich, wenn sie die Erfolgsbedingungen sehr einfach formulieren. Wir würden auf die Folgeprobleme hinweisen, aber die sagen: Quatsch, ich habe die Lösung. Und diese Lösungen sind so simpel: Wir machen die Grenze zwischen Frankfurt und Słubice zu, dann ist das Migrationsproblem gelöst.
taz FUTURZWEI: Das glauben Merz und Dobrindt ja selbst nicht.
Nassehi: Die präsentieren das und sagen, das Problem ist gelöst. Als Zahlenbeleg gilt dann die gesunkene Antragsquote. Jeder, der ein bisschen was davon versteht, weiß genau, dass damit das Problem nicht gelöst ist, denn der Syrer, der den Rechten stört, ist ja immer noch da.
taz FUTURZWEI: Wenn ich politisch etwas erreichen will, darf ich nicht darüber sprechen. Wenn ich eine Wahl gewinnen will, muss ich unglaubliches Zeug versprechen, was niemals kommen wird. Und ja nicht auch nur annährend auf die Realität eingehen wie Robert Habeck. Wenn wir zusammenfassen, was Sie gesagt haben, Herr Nassehi, dann kann man kaum noch den Eindruck aufrechterhalten, dass wir im aufgeklärten Zeitalter leben.
Nassehi: Wenn man den alten Königsberger zitiert, müsste man ihn genau zitieren. Kant hat gesagt, wir leben nicht in einem aufgeklärten Zeitalter, sondern in einem Zeitalter der Aufklärung. Es ist alles noch nicht gut, aber mit vernünftigen Bemühungen wird es dazu kommen, dass es gut wird. Aber wir diskutieren jetzt auch schon seit einer ganzen Generation, dass diese Fortschrittserzählung nicht mehr so richtig funktioniert, oder?
taz FUTURZWEI: Wir haben mit Adorno angefangen und könnten jetzt mit Kant aufhören?
Nassehi: Eine Bemerkung noch: Was oft übersehen wird, ist, dass in den kleinen Praktiken diese Fortschrittserzählung weitererzählt wird. Wir haben nicht die große Lösung, keinen großen Fortschritt, aber die kleinen Fortschritte, die haben wir. Und die Frage für mich ist, ob es nicht die kleinen Schritte und Fortschritte sind, die eine List evolutionärer Veränderungen im Großen entfalten können. Für diesen Gedanken bin ich oft als kleinmütig gescholten worden, aber nur von denen, die die ganz großen Sätze machen. Und damit wären wir wieder am Anfang.
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