
Radikalisierung von Jungnazis: Stille in Altdöbern
In Altdöbern und Wismar werden drei Teenager festgenommen. Sie sollen Anführer einer Rechtsterrorgruppe sein. Wie konnten sie sich so radikalisieren?
L ennys Kinderzimmer in dem neugebauten Einfamilienhaus, ganz am Rande Altdöberns, steht jetzt leer. Alles strahlt hier Bürgerlichkeit aus: Backsteinhaus, neben der Tür eine weiße Bank mit Blumentöpfen, ein akkurat herausgeputzter Garten, weißes Familienauto hinter weißem Gartenzaun. Einzig: Ein Schild warnt vor einer Überwachungskamera. Klingelt man, öffnet der Vater, Kurzhaarscheitel, Headset auf dem Kopf. Er könne nichts zu den Vorwürfen sagen, wegen derer sein 15-jähriger Sohn jetzt im Gefängnis sitzt, sagt er. Und er müsse jetzt arbeiten. Dann verschwindet er sofort wieder im Haus.
Und es herrscht wieder Stille in Altdöbern.
Auch der Bürgermeister des 2.500-Einwohner Ortes im Süden Brandenburgs, Peter Winzer, ein 73-jähriger SPD-Mann, seit 13 Jahren im Amt, sagt, er könne zu den Festnahmen wenig sagen. Er kenne die Familie von Lenny M. nicht genauer. Und er wolle auch keinen Rufmord betreiben, solange niemand verurteilt sei. Der Brandanschlag auf das örtliche Kulturhaus, den Kultberg, aber sei eine „Katastrophe“, sagt Winzer. Für lokale Vereine gebe es nun keinen Treffpunkt mehr. Der Chef des Kegelvereins, in dem die Familie von Lenny M. aktiv ist, will nicht sprechen. „Und ich hoffe, dass auch niemand sonst vom Verein was dazu sagt“, sagt er. Der Präsident des örtlichen Fußballvereins will auch nicht sprechen. Pfarrerin Astrid Schlüter sagt, sie kenne die Familien auch nicht. Aber auch sie nennt die Sache mit dem Brandanschlag „eine Katastrophe“. Eine, die viele im Ort erschreckt habe.
Es war am 23. Oktober vergangenen Jahres, als der Kultberg in Altdöbern niederbrannte. In dem Kulturhaus wurde schon vor hundert Jahren gefeiert, zu DDR-Zeiten unter dem Namen „Schützenhaus“. Der Sachschaden: 500.000 Euro. Dann folgte am 21. Mai die Festnahme von Lenny M. – im Auftrag der höchsten Ermittlungsbehörde, der Bundesanwaltschaft. Der Vorwurf: Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung, der „Letzten Verteidigungswelle“. Eine Gruppe, auf welche die taz schon Wochen zuvor hinwies. Und bei der Lenny M. einer der Anführer gewesen sein soll. Mit 15 Jahren.
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Mit ihm festgenommen wurden sieben weitere Rechtsextreme aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und Hessen – der jüngste 14 Jahre alt, der älteste 21. Ein zweiter Festgenommener, Jerome M., auch 15 Jahre alt, kommt aus einem Vorort von Altdöbern. Bei den Razzien fanden Polizisten Softairwaffen, Schlagringe und einen Gegenstand, zu dem bis heute eine Sprengstoffuntersuchung läuft.
Erst vor einem guten Jahr hatte sich die „Letzte Verteidigungswelle“ auf Tiktok und Instagram gegründet, zunächst mit einer Gruppe für Mecklenburg-Vorpommern, dann mit Ablegern in anderen Bundesländern. Sie war eine von vielen jungen rechtsextremen Gruppen bundesweit, die ab dem Frühjahr 2024 plötzlich auf Social-Media-Plattformen auftauchten. Auf ihren Fotos posieren Teenager kahlgeschoren in Bomberjacken, mit Springerstiefeln, weißen Schnürsenkeln und Hitlergrüßen – wie in den Baseballschlägerjahren der Neunziger. In Kommentaren wird über „Zecken“, „respektlose Migranten“ oder CSD hergezogen, immer wieder mit Gewalt gedroht.
Anders als andere Gruppen beließ es die „Letzte Verteidigungswelle“ nicht bei Gerede. Erst brannte in Altdöbern der Kultberg nieder. Ein Angriff auf eine Asylunterkunft im nahegelegenen Senftenberg soll kurz bevorgestanden haben. Zwei Kugelbomben hatte sich die Gruppe dafür in Tschechien besorgt. Im Thüringer Schmölln war ein solcher Angriff schon erfolgt: Hier filmten sich zwei Gruppenmitglieder dabei, wie sie eine Feuerwerksbatterie ins Innere einer Unterkunft schossen, offenbar um einen Brand zu legen, der letztlich nicht ausbrach. Zuvor wurden rechtsextreme Parolen auf die Wände geschmiert.
Die Festnahmen sind eine Zäsur: Eine Rechtsterrorgruppe im Teenageralter, das gab es bei der Bundesanwaltschaft bisher nicht. Nun bleiben Fragen. Wie kann es sein, dass sich Jugendliche derart radikalisieren – innerhalb so kurzer Zeit? Und wie wird darauf reagiert?
In Altdöbern steht auch acht Monate nach dem Brand noch die Ruine des abgebrannten Kultbergs. Bauzäune umstellen die Reste des Gebäudes, der frühere Saal klafft offen, nur noch die Außenmauern stehen, schwarzverkohlte Balken ragen in den Himmel. Das Betreiberpaar – ein gebürtiger Altdöberner und eine Thüringerin – zog vor fünf Jahren von Berlin aus in den Ort und pachtete das Gebäude von der Gemeinde. Eigentlich hatten sie nur ein Nebengebäude im Blick, einen früheren Jugendclub, dann bat sie Bürgermeister Winzer, den ganzen Komplex zu betreiben. Jeden Tag hatten sie Zeit und Geld in den Kultberg investiert, neue Bar, neue Küche, neue Technik. Am Ende gab es Rockkonzerte, Familienfeiern, einen Biergarten, Burger und Flammkuchen.
Auch das Paar will zum Brandanschlag nicht viel sagen. Die Tat, das Motiv und dass all das aus der Nachbarschaft heraus passiert sei, bleibe „unbegreiflich“, erklären beide nur. Politisch hätten sie sich mit dem Kultberg gar nicht positioniert, seien stets für alle offen gewesen. Seit dem Brand ist die Lebensgrundlage der Familie zerstört – und das Sicherheitsgefühl. Direkt neben dem abgebrannten Kulturhaus steht das Wohnhaus, in dem sie auch in der Nacht vom 23. Oktober mit ihrer kleinen Tochter schliefen. Es fehlten nur wenige Minuten, dann hätte das Feuer auch sie erreicht. Der Vorwurf der Bundesanwaltschaft lautet deshalb auch auf versuchten Mord.
Die Polizei sprach nach dem Feuer zunächst von einem technischen Defekt. Den Betreibern war dagegen noch in der Nacht klar, dass das nicht sein kann: Die ganze Elektronik sei gerade erst erneuert worden. Dann tauchte in einer Chatgruppe der „Letzten Verteidigungswelle“ ein Video auf: Ein Vermummter in einem Camouflage-Anzug steht vor einem Fenster an der Rückseite des Kultbergs, in der Hand eine Flasche. Es lodern Flammen, erst am Fensterrahmen, dann im Inneren des Gebäudes. „1.24 hab ichs angezündet“, schrieb ein Gruppenmitglied laut eines Stern-Berichts. Als die Feuerwehrsirenen ertönten, sei er schon wieder „heme“ gewesen. Den Laden würden „Zecken“ betreiben, ergänzte ein anderes Mitglied. Die Polizei weiß davon nur, weil eine Stern-Reporterin undercover in der Gruppe eingeschleust war und die Inhalte weitergab.
Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass Lenny M. der Nachrichtenschreiber war – und der Brandstifter. Und dass auch Jerome M. vor Ort war. Sie werteten ihre Handys aus, die Chats und Aufnahmen von Überwachungskameras. Der Kultberg ist nur wenige Hundert Meter von Lenny M.s Wohnhaus entfernt. In einem weiteren Video vor der Tat soll er andere Gruppenmitglieder zu ähnlichen Taten aufgerufen haben.
Vor Ort heißt es, Lenny sei völlig unauffällig gewesen, kaum zu sehen. Er ging in einer Nachbarstadt ins Gymnasium. Noch vor wenigen Jahren, zu Coronazeiten, beteiligte sich der damals 10-Jährige an einem bundesweiten Geschichtsprojekt zur Pandemie, sandte dafür eine Collage mit Fotos abgesperrter Spielplätze und leerer Straßen in Altdöbern ein.
Wer dieser Tage durch die Stadt läuft, begegnet auch da wenigen Menschen. Viele ziehen sich in ihre Gärten zurück. Vor vielen Jahren gab es mal einen Jugendtreff, den Club am Weinberg, in dem sich alle getroffen hätten, berichten Anwohnende. Da hätte man gemerkt, wenn einer abdriftet. So ein Ort fehlt heute, auch für Lenny M. Stattdessen tauchen online unter seinem Namen ab Mitte 2023 Social-Media-Profile mit Reichsadlerflagge oder einem Wehrmachtpanzer auf, ein Profilname lautet „German Patriot“. Offenbar zog sich der Teenager von seinem Kinderzimmer aus in die Onlineszene der Jungnazi-Gruppen zurück – bis er dort selbst zum Anführer wurde.
Auch die Eltern von Lenny M. gelten im Ort als unauffällig, als „ganz normale Leute“. Die Mutter soll in der Verwaltung arbeiten, der Vater beim Zoll. Und die Familie soll mit ihrem Sohn auch den Kultberg besucht haben, zu Konzerten oder zum Essen. Dann aber schrieb der Vater plötzlich in einer Onlinebewertung, der Laden sei „chaotisch, unaufgeräumt und ungepflegt“.
Eine rechtsextreme Szene sei in Altdöbern nicht präsent, anders als anderswo in der Region, wird vor Ort vielfach betont. „Sicher gibt es Rechtsextreme, aber die haben sich hier nicht geoutet“, sagt Bürgermeister Peter Winzer. „Und dass die gewaltbereit sind, war überhaupt nicht klar.“ Tatsächlich liegen rechtsextreme Aufmärsche im Ort lange zurück, im Gemeindeparlament ist die AfD nicht vertreten. Pfarrerin Astrid Schlüter berichtet, es habe ein paar Aufkleber an der Friedhofsmauer gegeben, das war’s. Auch am Kultberg klebten schon rechtsextreme Sticker. Bei der jüngsten Bundestagswahl aber lag die AfD in Altdöbern bei 40 Prozent. Und in der Coronazeit seien einige im Ort nach rechts gerutscht, hätten auf die Ampel geschimpft, auf die Politik an sich, heißt es von Anwohnenden.
Auf das Gymnasium von Lenny M. ging auch Jerome M., der zweite Festgenommene aus der Gemeinde. Die Schule ist demokratisch engagiert: Gerade erst wurde dort der Anne-Frank-Gedenktag begangen und eine Demokratieausstellung eröffnet. Ältere Schüler*innen veröffentlichten im Mai ein Buch mit Plädoyers für die Demokratie, berichteten darin, wie sie von „Faschos“ verfolgt wurden, wie die AfD auf „Hass und Spaltung“ setze, wie online ein Like bei einem Video reiche, um in die rechte Szene zu geraten. Aber auch die Schule will sich nicht zu den Festnahmen äußern. Eine taz-Anfrage leitet sie an das Brandenburger Bildungsministerium weiter, das kundtut, dass man zu den festgenommenen Schülern nichts sagen könne, aus Gründen des Persönlichkeitsrechts. Die Schulleitung habe auf die Festnahmen aber „schnell reagiert“ und „die gesamte Schulgemeinschaft mitgenommen“.
Man hört am Gymnasium aber auch, dass gar nicht alle etwas von den Festnahmen mitbekommen hätten. Und dass sich bereits vor einem guten Jahr etwas verändert habe: Jüngere Schüler*innen seien plötzlich mit rassistischen Sprüchen aufgefallen, auf den Toiletten wurden Hakenkreuze geschmiert, bei einer Juniorwahl habe die Neonazi-Partei Der III. Weg vorne gelegen. Die Schule versuche das aufzuarbeiten, auch deshalb seien so offensiv Demokratieprojekte initiiert worden. Und diese Reaktion, so heißt es, unterscheide dieses Gymnasium durchaus von anderen Schulen.

Bereits vor zwei Jahren veröffentlichten Lehrer*innen einer Schule im nahegelegenen Burg einen Brandbrief, dass sich Rechtsextremismus in den Klassenzimmern breitmache. Wer widerspreche, müsse um seine Sicherheit fürchten. Auch aus anderen Schulen bundesweit hört man solche Warnungen. In dieser Zeit entstehen online vermehrt rechtsextreme Jugendgruppen.
Die „Letzte Verteidigungswelle“, die Gruppe von Lenny M., fällt zuerst in Wismar auf. Auch dort ließ die Bundesanwaltschaft nun zwei Jugendliche festnehmen, die sie ebenfalls als Anführer sieht: den 18-Jährigen Jason R., der zuletzt in einem Supermarkt gearbeitet haben soll, und Benjamin H., ein 16-jähriger Schüler aus dem nahen Neubukow. Auch ihre Radikalisierung verlief online, aber nicht nur. Denn Wismar hat durchaus eine präsente rechtsextreme Szene. Schon die NPD war hier aktiv, zuletzt Neonazigruppen wie die „Division Schwerin“, „Mecklenburg Verteidigen“, „Neue Stärke“ oder „Aryan Circle“. Der als „Nazidorf“ bekannt gewordene Ort Jamel ist nicht weit. Die AfD kam in Wismar zuletzt auf knapp 30 Prozent der Stimmen. Aber es gibt auch einen wie Bürgermeister Thomas Beyer, ein Sozialdemokrat, dessen Partei in der Stadt lange vorne lag und der das Problem offen anspricht.
Es war bereits am 14. September vergangenen Jahres, als Jason R., kahlgeschoren, in grüner Bomberjacke, und Benjamin H., gescheitelt, aufgepumpte Arme, mit 200 anderen Rechtsextremen in Wismar auf der Straße standen. Es wehten schwarz-weiß-rote Fahnen, Parolen wurden gegrölt. Die Rechtsextremen waren angerückt, um den ersten CSD in Wismar zu stören. Am Ende aber waren die anderen mehr: Gut 2.100 Menschen versammelten sich zum CSD auf dem Wismarer Marktplatz, auch Bürgermeister Beyer kam. Ein wahnsinniger Erfolg sei das gewesen, sagen zwei der Organisator*innen, Luis Dannewitz und Rachel Hanf, zwei queere Musiker*innen. Gerade angesichts der rechtsextremen Bedrohung.
Schon Wochen vor der Parade hatte die rechtsextreme Szene online gegen den CSD mobilisiert. Dannewitz und Hanf bekamen Drohnachrichten: Am Demotag werde „abgerechnet“, Wismar werde brennen. Am Tag selbst hielt die Polizei die Neonazis vom CSD fern, aber es kam zu Auseinandersetzungen mit anreisenden Antifaschist*innen. Die Polizei leitete mehrere Ermittlungsverfahren ein. Eines richtete sich gegen den Neubukower Benjamin H.: Er hatte ein verbotenes Butterflymesser und einen Schlagring dabei.
Der Auftritt von Benjamin H. und Jason R. beim CSD in Wismar war nicht ihr erster – und auch nicht ihr letzter. Als die beiden im Mai von der Bundesanwaltschaft festgenommen wurden, zeigte sich Bürgermeister Beyer in einem Video „ziemlich erschüttert“. Andererseits, sagte er, sei er auch nicht überrascht. „Denn manches war auch bereits sichtbar.“ Die Stadtgesellschaft müsse nun „sehr aufmerksam“ sein und extremistische Vorfälle der Polizei melden, appellierte Beyer.
Auch für CSD-Mitorganisator*in Rachel Hanf war vieles sichtbar. Rechtsextreme seien im Stadtbild präsent, es gebe eine Vielzahl an Gruppen in der Region, sagt die 19-jährige Wismarerin. Lange Zeit verfolgte sie auch deren Onlinekanäle mit. „Die sind dort alle stark vernetzt. Und da wird unverhohlen kommuniziert. Man konnte die Radikalisierung live miterleben.“
Tatsächlich waren schon im Mai 2023 Jugendliche durch Wismar gezogen, warfen mit Flaschen, beschädigten die Ukrainefahne am Rathaus. Bürgermeister Beyer verurteilte in einem Video die Randale, appellierte an die Wismarer*innen, die Polizei zu rufen, wenn sie so etwas sehen. Anwohnende berichteten aber auch danach von nächtlichen „Sieg Heil“-Rufen. In der Stadt tauchten Aufkleber wie „Deutsche Jugend voran“ oder „Raus mit die Viecher“ auf. Die rechtsextremen Jugendlichen trafen sich im Lindengarten, einem Park unweit des Bahnhofs. Die Stadt beteuert, Sicherheitsdienste dorthin geschickt und den Fachdienst Jugend eingeschaltet zu haben. Aber die Rechtsextremen machten weiter. 99 rechte Straftaten zählte die Polizei 2024 in Wismar – 15 mehr als im Vorjahr. In diesem Jahr rechne man mit ähnlichen Zahlen, so ein Polizeisprecher.
Ende 2023 tauchten dann auch online Instagram-Profile mit Fotos aus Wismar von Jugendlichen in Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln auf, Pyrofackeln schwingend, unterlegt mit Musik der Böhsen Onkelz. Spätere Bilder zeigen Kahlgeschorene in Bomberjacken in einem Park, die Hände zum Hitlergruß erhoben. Dann erscheint Ende 2023 ein Gruppenname: „die Letzte Verteidigungswelle“. Jugendliche posieren auch dort mit Hitlergrüßen, Logos zieren Totenköpfe oder SS-Symbole. Man sei „die letzte Welle, die Deutschland befreit“, wird getönt. „Sieg oder Tod.“
Zwei dieser Instagramprofile gehören Jason R. und Benjamin H. Letzterer verschickt intern nach taz-Informationen Nachrichten mit „Sieg Heil“-Grüßen oder einen Adolf Hitler, der ein Herz mit der Hand formt. Jason R. zeigt auf seinen Fotos auch Waffen, ein Hitlerbild oder eine Hakenkreuzfahne. Sein Zugang zur Szene erfolgte womöglich familiär: Online posiert auch ein älterer Nachnamensvetter aus Wismar in rechtsextremen Shirts, mit einschlägigen Tattoos. Fotos zeigen Jason R. auch mit Anführern des „Aryan Circle“, die deutlich älter sind.
Und es bleibt auch in Wismar nicht bei Worten. Im August vergangenen Jahres wird beim örtlichen Büro des Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensts die Schaufensterscheibe eingeworfen, in der Plakate zur Interkulturellen Woche hängen. Ermittler finden Fingerabdrücke am Tatort: Sie gehören zu Jason R. Der 18-Jährige soll im Januar auch zu einer Gruppe von Jugendlichen gehört haben, die in den Tierpark Wismar einbrach und mehrere Kaninchen und Meerschweinchen stahl, die später teils tot wiedergefunden wurden. Einer Ziege wurde mit einem Messer in den Bauch gerammt, das Tier in einen Bach geworfen, wo es starb. Später wird Jason R. von der Polizei mit einem verbotenen Messer und Schlagring erwischt. Im März ist der 18-Jährige auch bei einem Neonazi-Aufmarsch in Schwerin dabei, hier bereits tonangebend mit Megafon. Wenige Wochen später erfolgt dann seine Festnahme durch die Bundesanwaltschaft.
„Die Jugendlichen konnten an die Szenestrukturen hier andocken“, sagt CSD-Mitorganisator*in Rachel Hanf. „Und sie haben sich immer wieder gegenseitig befeuert. Lange, ohne dass ihnen wirklich etwas drohte.“ Bürgermeister Beyer sei zwar engagiert und positioniere sich offensiv gegen die Rechtsextremen, so Hanf. „Aber das allein reicht nicht. Da muss auch die Stadtgesellschaft mitziehen. Und es fehlt an Präventionsangeboten und Aufklärung, wie stark der Rechtsextremismus hier wirklich ist.“
Die Stadt Wismar mit, dass es nach den Festnahmen der Bundesanwaltschaft keine rechtsextremen Vorkommnisse mehr gegeben habe. Rachel Hanf sieht die Neonaziszene dagegen wenig beeindruckt. „Sie sind natürlich weiter da und auch online präsent.“ Erst zuletzt am Hafenfest seien auch Rechtsextreme wieder aufgetaucht.
Den nächsten CSD will Rachel Hanf dieses Jahr nun nicht in Wismar, sondern am 13. September im benachbarten Grevesmühlen veranstalten, einer rechtsextremen Hochburg – es wird erneut eine Premiere. „Gerade da braucht es ein Bekenntnis für Vielfalt“, sagt Hanf. Aber die rechtsextreme Szene mobilisiert bereits wieder. Es habe nur wenige Stunden gedauert, nachdem ihr Plan bekannt wurde, da habe es schon Onlinekommentare gegen den CSD gegeben, erzählt Hanf. „Aber wir ziehen das durch.“
In Altdöbern blieb die Gemeindespitze still nach dem Brand im Kultberg – und auch nach den Festnahmen der Bundesanwaltschaft. Es sind die Betreiber schließlich selbst, die zu einer „Andacht“ einladen, um an das niedergebrannte Kulturhaus zu erinnern, das im Ort eine jahrzehntelange Tradition hatte. Die Gemeinde ruft schließlich zu Spenden auf – aber nicht für die Familie, sondern für den „möglichen Wiederaufbau“ des Hauses. Das Betreiberpaar startet daraufhin einen eigenen Spendenaufruf.
Brandenburgs neuer Innenminister René Wilke, einst ein Linker, nun parteilos und erst seit drei Wochen im Amt, sagte kürzlich der taz, es gebe zwei Wege, mit rechtsextremen Taten umzugehen: Der erste sei, zu schweigen und schnell zum nächsten Thema überzugehen, um Aufmerksamkeit zu vermeiden. Der zweite sei: Das Problem offensiv ansprechen und die Bevölkerung sensibilisieren. Wilke plädiert für den zweiten Weg. In Altdöbern scheinen sie sich anders entschieden zu haben.
Noch am Tag nach dem Brandanschlag auf den Kultberg verkündete die Gemeinde, dass das Haus wiederaufgebaut werden soll. In eine Taskforce für den Wiederaufbau wurde auch die Betreiberfamilie einbezogen. Dann aber erfolgt ein Kurswechsel: Im März kündigt die Gemeinde den Vertrag mit der Familie, wie Bürgermeister Winzer bestätigt. Es gebe ja nun keine Pachtsache mehr, sagt er. Am Mittwochabend beschloss die Gemeindevertretung den Abriss des kompletten Komplexes – ohne vorher nochmal mit den Betreibern gesprochen zu haben. Langfristig wolle man eine neue Kulturstätte aufbauen, sagt Winzer. Aber das werde angesichts leerer Kassen dauern.
Das Betreiberpaar fühlt sich vor den Kopf gestoßen. Zumindest die Kneipe neben dem niedergebrannten Saal und der Biergarten wären doch noch zu retten gewesen, sagen sie. Und nur diese hatten sie formal gepachtet, diese Pachtsache sei also gar nicht zerstört, die Kündigung demnach rechtswidrig. Das Paar hat dieser bereits widersprochen. Kneipe und Biergarten zu erhalten, sei lange eine Hoffnung gewesen, auch als Basis für einen Neuanfang vor Ort, sagen die beiden. Dafür hätten sie sogar ein mehrseitiges Konzept vorgelegt. Man habe immer dafür gekämpft, das Kulturhaus weiterzubetreiben, auch als es schon zu Coronazeiten sehr schwierig war. Von der Gemeindespitze wird dagegen bereits kolportiert, dass die Familie Altdöbern verlassen wolle. Was diese nach eigener Auskunft nie gesagt hat. Es sei schade, dass inzwischen „mehr über als mit uns geredet wird“, sagt das Paar. Es gehe auch um ihre Rechte. Ob sie nun in Altdöbern bleiben könnten, hänge von den Entwicklungen der nächsten Wochen ab.
Fragt man Bürgermeister Winzer nach politischen Konsequenzen aus dem Brandanschlag und Terrorvorwürfen, wird er einsilbig. „Ist doch logisch, dass hier alle die Tat verurteilen.“ Was solle man denn tun? „Man kann in die Köpfe der Leute nicht reingucken. Und wir wollen auch kein Öl ins Feuer gießen.“ Demokratieprojekte? Daran würden Rechtsextreme nicht teilnehmen, glaubt Winzer. Ein Jugendklub wieder vor Ort? Wäre sicher sinnvoll, aber dafür fehle schon länger das Geld. „Das ist ohnehin das Grundproblem“, sagt Winzer.
Brandenburgs Innenminister Wilke plädierte zuletzt für „Entschiedenheit“ von Polizei und Justiz gegen die Jungnazis, vor allem aber für mehr Prävention und Bildungsarbeit. Man müsse an die Schulen gehen, dort über Extremismus und die sozialen Medien aufklären. Es dürfe nicht hingenommen werden, dass die Jugendlichen sozialen Medien „schutzlos ausgeliefert“ werden. Auch das Brandenburger Bildungsministerium sieht mehrere Faktoren für eine Radikalisierung, ein wesentlicher seien die sozialen Medien. Christian Pegel, Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, ein SPD-Mann, nennt die Entwicklung ebenso „erschreckend“ und betont, „wie wichtig frühzeitige Aufklärung und klare Grenzen sind“.
Lenny M. und die anderen sieben Jungterrorverdächtigen sitzen derweil weiter in Haft. Was genau am Ende zu ihrer Radikalisierung führte, wird womöglich nie ganz aufgeklärt: Wegen des Alters der Angeklagten werden fast alle Prozesse nicht öffentlich stattfinden.
Und so bemüht sich die Schule von Lenny M. und Jerome M. weiter, den Rechtsextremismus zurückzudrängen. Zwei Wochen stand die Demokratie-Ausstellung in den Gängen, in Kürze kommt der Verfassungsschutz zu einer Präventionsveranstaltung in die Aula. In Neubukow wird die Schule von Benjamin H. von einem Demokratieverein beraten.
Und in Altdöbern geht der Alltag weiter. An der Grundschule wird bald das Talentefest gefeiert, in den Vororten Heimatfeste. Und am Ortsrand soll nun „zeitnah“, so Bürgermeister Winzer, die Brandruine des Kultbergs abgetragen werden.
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