
Rechtsextreme Jugendszene: Brutal jung
Vor den Augen der Sicherheitsbehörden hat sich eine Szene von jungen, gewaltbereiten Neonazis etabliert. Sind die Baseballschlägerjahre zurück?
D er Hinweis erreichte die Polizei an einem Mittwoch Mitte Februar. Marco S. (Name geändert) aus einem kleinen Ort nahe dem sächsischen Meißen habe mit Sprengstoff einen Anschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft begehen wollen. Der vorgesehene Tatort befinde sich keine 30 Kilometer entfernt, hinter der sächsischen Landesgrenze in Brandenburg, in Sedlitz bei Senftenberg. So teilte es der Hinweisgeber mit. Noch am Abend rückte die Polizei aus und durchsuchte die Wohnung von Marco S. Sie wurde fündig: Bei dem 21-Jährigen stellten sie zwei Kugelbomben sicher, Schlagringe, Messer, Munition und Schreckschusswaffen. Der junge Sachse wanderte in Haft, wo er bis heute sitzt.
Und die Ermittler stellten fest, dass sie auf keinen Unbekannten stießen. Marco S. soll bereits in der Vergangenheit mit einem Volksverhetzungsdelikt aufgefallen sein. Zudem bewegte er sich nach taz-Informationen in einer Gruppe, die die Sicherheitsbehörden zuletzt mehrfach auf Trab hielt: die Letzte Verteidigungswelle (LVW). Ein Trupp teils sehr junger Rechtsextremer, der erst vor wenigen Monaten auftauchte, inzwischen aber Ableger in mehreren Bundesländern hat. Und es ist nicht die einzige schwere Tat, die der Gruppe vorgeworfen wird.
Bereits im vergangenen Oktober brannte auch der Kultberg in Altdöbern aus, ein Kulturhaus mit Biergarten, 20 Minuten von Senftenberg entfernt. Rockkonzerte fanden dort statt, aber auch Vereinstreffen oder Sitzungen der Gemeindevertretung, ein Jugendklub hatte hier sein Domizil. Der Saal brannte komplett nieder, es entstand ein Schaden von mehreren hunderttausend Euro. Als Brandursache gaben Ermittler zunächst einen technischen Defekt an. Dann aber stießen sie auf ein Video von zwei 15-Jährigen, die sich in der Tatnacht vor dem Brand gefilmt hatten. Bereits im Februar wurden die Jugendlichen nach Informationen der taz und der Welt festgenommen. Und auch sie werden der Letzten Verteidigungswelle zugerechnet. Den Kultberg sollen sie für einen linken Treffpunkt gehalten haben – was so gar nicht zutrifft.
Die ermittelnde Staatsanwaltschaft Cottbus hält sich zu dem Fall bedeckt. Eine Sprecherin bestätigt nur Ermittlungen gegen zwei Jugendliche wegen schwerer Brandstiftung. Eine Anklage stehe aus. Altdöberns Bürgermeister Peter Winzer, ein SPD-Mann, seit 13 Jahren im Amt, nennt es eine „Katastrophe“, dass der Kultberg niedergebrannt sei. „Seitdem haben wir keinen Kulturtreffpunkt mehr.“ Über das Tatmotiv wolle er nicht spekulieren, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen seien, sagt Winzer. Unabhängig vom Tatmotiv, sagt Winzer, sollte sich der Vorwurf der Brandstiftung erhärten, „ist das eine Riesenschweinerei“.
Das Betreiberpaar erklärte nach dem Brand im Oktober, man sei „in tiefer Trauer“. Seit sechs Jahren hätten die Betreiber ihre „ganze Kraft, unser Herzblut, viele schlaflose Nächte“ in die Begegnungsstätte investiert. Zur neuen Wendung, dem wohl rechtsextremen Tatmotiv, äußerten sie sich auf taz-Anfrage nicht.
Anne Brügmann vom Verein Opferperspektive, der Betroffenen rechter Gewalt zur Seite steht, ist allerdings in Kontakt mit ihnen. „Für das Paar ist das ein großer Schock“, sagt Brügmann. „Sie können es immer noch nicht begreifen, dass sie offenbar von Rechtsextremen ins Visier genommen wurden. Alles, was sie vor Ort gemacht haben, war normaler Kulturbetrieb.“ Bestätigen sich der Brandanschlag, das vermutete rechte Tatmotiv dahinter und der Anschlagsplan auf die Senftenberger Asylunterkunft, wären es die schwersten rechtsextremen Taten in Brandenburg in den vergangenen Jahren.
Auch andernorts verübten junge Neonazis zuletzt schwere Gewalttaten. Es scheint die nächste Eskalationsstufe einer Szene zu sein, die Mitte vergangenen Jahres plötzlich bundesweit auftauchte. Zunächst auf Onlineportalen wie Tiktok oder Instagram präsentierten sich offen Gruppen wie Jung und Stark, Deutsche Jugend Voran, die Elblandrevolte, Der Störtrupp, die Chemnitz Revolte – oder eben die Letzte Verteidigungswelle. Ihre Aktionen planten sie klandestin in geschlossenen Whatsapp-Gruppen. Auf ihren Fotos zeigen sich junge Rechtsextreme, teils noch im Teenageralter, in einer Optik wie Neonazi-Skins aus den Neunzigern: Glatze, Springerstiefel, halb vermummt. Sie formen White-Power-Zeichen mit ihren Fingern, zeigen Hitlergrüße oder posieren mit Baseballschlägern. Dazu kommen Aufrufe zum „Zeckenboxen“, wird über Paraden zum queeren Christopher Street Day als „abnormaler Wanderzirkus“ geätzt.
Und es bleibt nicht bei Parolen im digitalen Raum. Die Jungnazis tauchen auch auf der Straße auf, bei Szeneaufmärschen oder rechtsextremen Protesten gegen eben diese CSD-Paraden, bundesweit. Laut des Thinktanks Cemas gelang es den jungen Neonazi-Gruppen innerhalb weniger Monate, Tausende Anhänger*innen im Internet und Hunderte auf der Straße zu gewinnen. Allein zu Protesten gegen CSDs seien die Gruppen in 27 Städten im vergangenen Jahr aufmarschiert. Rekord waren dabei rund 1.000 Rechtsextreme in Bautzen. Mehrfach habe die Polizei eingreifen müssen.
Nun scheinen einige in der Szene noch weiter gehen zu wollen. Erleben wir neue Baseballschlägerjahre?
Schon vor den Taten in Altdöbern und Senftenberg verprügelten Neonazis aus dem Umfeld der Gruppe Elblandrevolte im Mai 2024 in Dresden den SPD-Spitzenkandidaten Matthias Ecke zur Europawahl, als dieser nachts Plakate aufhängte. Ecke wurde so schwer verletzt, dass er ins Krankenhaus musste. Die Angreifer waren 17 Jahre alt. Kurz darauf wurde auch ein Grünen-Wahlkämpfer attackiert, ebenfalls in Dresden.
Die Serie setzte sich fort: In Berlin-Lichterfelde griffen junge Neonazis im Dezember SPDler im Bundestagswahlkampf an; ein Mann wurde zu Boden gerissen, mit Springerstiefeln wurde auf seinen Kopf und Oberkörper eingetreten. Bei einem anderen Angriff in der Hauptstadt, am Bahnhof Ostkreuz, prügelten Vermummte mit Schlagstöcken auf junge Linke ein, die zu einer Anti-rechts-Demonstration fahren wollten – zwei Opfer mussten ins Krankenhaus.
Auf 41.406 Delikte stiegen rechtsextreme Straftaten im vergangenen Jahr nach vorläufigen Zahlen – ein Rekordhoch. Darunter waren 1.443 Gewaltdelikte, auch das ein Rekord. Viele dieser Taten dürften aufs Konto der jungen Neonazis gehen.
Schulungen für die Sicherheitsbehörden
Auch der Thinktank Cemas sieht eine Kohorte junger gewaltbereiter Neonazis im Entstehen, attestiert den Jugendgruppen ein „ernsthaftes Gefahrenpotenzial“. Sie seien inzwischen stark miteinander vernetzt. Betreiber der Social-Media-Plattformen müssten konsequenter gegen die Gruppen vorgehen. Und mögliche Gewaltopfer wie die Teilnehmenden an den CSD-Paraden müssten konsequent sowohl durch die Polizei wie auch durch die Arbeit von Beratungsstellen geschützt werden. Auch Schulungen für Sicherheitsbehörden seien sinnvoll.
Marco A., dem der Anschlagsplan auf die Geflüchtetenunterkunft in Senftenberg vorgeworfen wird, war ebenfalls zunächst auf Social Media aktiv. Als Kahlrasierter präsentierte er sich dort, in Springerstiefeln und Bomberjacke, einen Schlauchschal mit Totenkopf bis zur Nasenspitze gezogen. Auf Bildern seines sächsischen Ablegers, der Letzten Verteidigungswelle, zeigen sich ebenfalls schwarz Vermummte, mit Pyrofackel und Deutschlandfahne. Marco S. nennt sich dort „Gauleiter“. Anders als andere ist er offenbar schon länger in der Szene aktiv: Schon vor Jahren postete er ein Foto von einer Demonstration für die Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck. Ein anderes Bild zeigt eine Uniform mit Gewehr. „Bald ist es wieder soweit“, schreibt der 21-Jährige dazu. Oder an anderer Stelle: „Geht es ums Sterben, ich bin dabei!“

In seinem Dorf bei Meißen will man davon nichts mitbekommen haben. Der Ortsbürgermeister sagt, ihm sei Marco A. nie aufgefallen, er kenne ihn nicht. Auch von der Festnahme habe man nichts bemerkt. Als Bürgermeister sei er nicht informiert worden.
Der sächsische Verfassungsschutz betont, die Letzte Verteidigungswelle seit Mitte 2024 im Visier zu haben, so wie auch die anderen neuen Neonazi-Gruppen. Diese würden sich maßgeblich über Social Media rekrutieren, zeigten ein „erhöhtes Maß an Aktivismus und Gewaltaffinität“. Man beobachte das „sehr aufmerksam“. So sei etwa die Chemnitz Revolte bereits im November als erwiesen rechtsextrem eingestuft worden. Auch aus dem Brandenburger Innenministerium heißt es, man habe die Gruppen im Blick. Der Letzten Verteidigungswelle werde in Brandenburg eine niedrige zweistellige Zahl an Mitgliedern zugerechnet – und mehrere Straftaten.
Inzwischen gibt es Ableger dieser Gruppe nicht nur in Brandenburg und Sachsen, sondern auch in Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Bayern. „Zu jeder Zeit Kampf bereit“, lautet einer der Slogans. Und die Ermittler prüfen, ob auch weitere Angriffe in Südbrandenburg der Verteidigungswelle zugerechnet werden können. So hatte in Senftenberg erst in der Nacht zum 1. März eine große Gruppe Vermummter auch den Jugendklub Jamm angegriffen und ihn mit Steinen beworfen, Augenzeugen hörten „Zecken raus“-Rufe. Als die Polizei eintraf, waren die Angreifer bereits verschwunden. „Willkommen in den 90igern“, erklärte das Jamm danach in einer Stellungnahme. Bereits im November hatten Vermummte im nahen Spremberg einen Angriff auf den Jugendklub Erebos verübt, sämtliche Fensterscheiben des Klubbüros zerschlagen, den Außenbereich verwüstet. Zuvor waren am Eingang Hakenkreuze und der Schriftzug „Nazi Kiez“ gesprayt worden.
Auch die Elblandrevolte tauchte im Februar 2024 zunächst mit Social-Media-Profilen bei Instagram oder Telegram auf, wo sie immerhin 3.600 Follower:innen hat – als Dresdner Ableger der Jungen Nationalisten, der Jugendgruppe der Heimat, einst NPD. Die Gruppe präsentiert sich schwarz gekleidet, geht in Fußballstadien oder auf Wanderungen in der sächsischen Schweiz, um die „Kameradschaft zu stärken“. „Das System ist am Ende – wir sind die Wende“, lautet eines ihrer Banner. Schnell tauchte die Gruppe bei rechtsextremen Aufmärschen und Montagsprotesten auf, in Dresden oder Heidenau – und bei Gegenprotesten zu CSD-Paraden in Bautzen, Döbeln oder Görlitz. Proteste, die die „Elblandrevolte“ maßgeblich mit befeuerte. Die CSD-Teilnehmenden verhöhnten sie als „Identitätsgestörte“.
Einer marschierte dabei oft vorneweg, mit Megafon über der Schulter: Finley Pügner, 18 Jahre, gebürtiger Görlitzer. In Videos der Gruppe wetterte er gegen „Gender-Propaganda“, posierte neben einem „Remigration“-Banner. Seine Ansage: „Unsere Stadt, unsere Regeln“. Immer wieder scharte Pügner junge Rechtsextreme um sich, rief in Videos zu Aufmärschen auf. Auch bei einer Sonnenwendfeier der JN im Juni 2024 im niedersächsischen Eschede war Pügner mit Elblandrevolte-Leuten dabei. Neonazis marschierten dort mit Trommeln und Fackeln auf, verbrannten eine meterhohe Rune. Auch zu Vertreter der rechtsextremen Kleinpartei Freie Sachsen und zum Neonazi-Boxtrupp Kampf der Nibelungen hat Pügner Kontakt.
Nicht nur der Fall Elblandrevolte zeigt, was die Jungradikalisierten antreibt. Es sind Social-Media-Gruppen, die zum Eintrittstor werden. Aufmärsche oder Stadienbesuche, die Gemeinschaft und Action versprechen. Und es sind oft die Jugendgruppen etablierter Neonazi-Parteien wie die der Heimat oder des III. Wegs, die Social-Media-Reichweite herstellen, Erfahrungen für die Organisation von Aktionen weitergeben, zum Bindeglied zwischen den Gruppen werden. Und die sich selbst Zulauf erhoffen. Was für die zuvor sieche JN auch klappt: Der sächsische Verfassungsschutz rechnet der Elblandrevolte, ihrem Dresdener Ableger, inzwischen ein Potenzial von bis zu 40 Personen zu. Das Bundesamt berichtet von ähnlichen Reaktivierungen auch in Lüneburg oder Mecklenburg-Vorpommern – nachdem die Aktivitäten der JN zuvor bereits „zum Erliegen gekommen“ waren.
Die Elblandrevolte zeigt aber auch, wohin die Radikalisierung schnell führt: zu Gewalt. Noch vor dem Angriff auf Matthias Ecke sollen drei 17-Jährige aus der Gruppe bereits bei zwei Zugfahrten Fahrgäste bedroht und angegriffen haben. In einem Fall hatten die Opfer versucht, die Rechtsextremen davon abzuhalten, „Nazi-Zone“-Aufkleber anzubringen. Sie mussten sich auf eine Zugtoilette flüchten. Es folgten Durchsuchungen, bei denen auch Schreckschusswaffen gefunden wurden.
Schlaghandschuhe und Tritte auf der Straße
Auch Anführer Finley Pügner fiel schon 2023 mit Gewalttaten auf. Ende 2024 folgten dann zwei Angriffe auf Linke in Görlitz. Erst wurden am Rande einer rechten Montagsdemonstration fünf junge Erwachsene bedroht. Kurz vor Weihnachten attackierten mehrere Vermummte dann eine Gruppe junger Linker mit Schlaghandschuhen und Tritten nachts auf offener Straße. Zwei Frauen und ein Mann wurden dabei verletzt, mussten in ein Krankenhaus. Unter den Angreifern: Finley Pügner – der wenige Tage später in Untersuchungshaft wanderte. Sechs weitere Rechtsextreme wurden durchsucht, der jüngste erst 16 Jahre alt.
Die JN verharmloste den letzten Angriff in Görlitz als „Rauferei“. Die Opfer seien „linke Hypochonder“, an Pügner solle ein „Exempel statuiert“ werden. Samara Schrenk sieht das anders.

Die junge Linken-Politikerin aus Görlitz, die vor Ort mit dem Bündnis Klare Kante Anti-Nazi-Demos organisiert, gehörte zu den Angegriffenen. Es war Schrenk, der Finley Pügner im November am Rande der rechten Montagsdemonstration drohte, sie müsse gar nicht denken, dass er ihr mal „keine reinschieße, nur weil du eine Fotze bist“. Da könne sie sich „schon drauf freuen“. Ein Handy filmte die Szene.
Dann, drei Wochen später, wurde Schrenk mit zwei Begleitern tatsächlich spätabends unvermittelt angegriffen, zu Boden gestoßen, mit Füßen gegen den Kopf getreten. Pügner habe sie erkannt, weil sein Schlauchschal verrutschte, erzählt Schrenk. Parallel wurden ihre Begleiter attackiert, es flogen Flaschen und Böller, Pfefferspray wurde gesprüht. „Die waren extremst aggressiv“, sagt Schrenk. „Das war krass: Der hat seine Drohung wirklich umgesetzt.“
Schrenk erlitt ein Schädelhirntrauma. Das Sicherheitsgefühl, sich frei in der Stadt oder in Bussen zu bewegen, ist weg. Eigentlich habe sie erwartet, dass Pügner sofort nach dem Angriff festgenommen werde, sagt die 21-jährige Pflegerin: „Dass er erst mal wieder laufen gelassen wurde, war eine Farce“.
Erst als der Fall auch überregional Schlagzeilen machte, erfolgte der Haftbefehl. Dass Pügner im Februar kurzzeitig wieder aus der Haft kam, weil das Amtsgericht Görlitz keine Fluchtgefahr mehr sah, habe ihr ein mulmiges Gefühl gegeben, sagt Schrenk. Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft Görlitz musste Pügner neun Tage später aber zurück in die JVA Görlitz. Die Behörde betonte, es gehe gar nicht um Fluchtgefahr, sondern um Wiederholungsgefahr. Darum, dass der 18-Jährige wieder zuschlagen könnte.
Seitdem Pügner in Haft ist, sei es ruhiger in Görlitz, „auch auf den Straßen“, sagt Schrenk. Die Gefahr durch die Neonazi-Gruppen aber bleibe. „Die sind ein enormes Risiko. Da müssten die Behörden noch viel mehr Druck machen und weitere Nazis in die Schranken weisen“, mahnt sie. „Sonst machen die immer weiter.“ Sie selbst wolle sich durch die Gewalt nicht unterkriegen lassen. „Ich muss mit der Gefahr leben. Verstummen geht nicht.“
Der Umgang mit der Haft von Finley Pügner zeigt auch, wie unterschiedlich die Sicherheitsbehörden mit den gewaltbereiten jungen Rechtsextremen umgehen. Und auch der Angriff auf den SPD-Mann Matthias Ecke wird in der jüngst erhobenen Anklage nicht der Elblandrevolte zugerechnet, sondern als Spontantat dargestellt. Der Prozess wird wegen des jungen Alters der Beschuldigten vor einem Jugendschöffengericht verhandelt, nichtöffentlich.
Rechtsanwältin Kati Lang, die sowohl Ecke als auch Schrenk vertritt, kritisiert das Vorgehen. „Es ist gut, dass das Landeskriminalamt die Ermittlungen zu den Taten übernommen hat“, sagt Lang. Dass die Angriffe aber immer als Spontantaten bewertet würden, nicht als Gruppendelikte, sei abwegig. „Hier gibt es ein grundsätzliches Problem. Die Ermittlungsbehörden bekommen die jungen Neonazis nicht zu fassen“, findet Lang. „Es herrscht eine gewisse Ahnungslosigkeit, wie sich die Szene heute organisiert. Digital findet viel zu wenig Aufklärung statt.“
Es gebe eben schon lange nicht mehr feste Kameradschaften, am besten noch mit Vorstand und Kassenwart, betont Lang. Doch auch die Onlinegruppen seien organisiert. „Bei den Aufrufen zu Aktionen auf Instagram oder anderswo verstehen die Adressierten durchaus, was gemeint ist. Es ist ja immer derselbe Personenkreis, der Stress macht. Und das Resultat ist auch dasselbe: Gewalt.“ Die Folge, so Lang: Vor den Augen der Ermittlungsbehörden sei eine neue militante Neonazi-Szene erwachsen.
Kati Lang, Rechtsanwältin
Das Bundesinnenministerium versichert, dass die Sicherheitsbehörden die Gruppen „fortlaufend beobachteten“. Die Gruppen hätten zwar zumeist nur Aktive im niedrigen zweistelligen Bereich, aber ein „hohes Mobilisierungspotenzial“ und seien zumindest in Teilen „gewaltbefürwortend“. Gerade die adressierten Minderjährigen seien besonders anfällig für rechtsextreme Beeinflussung und Radikalisierung. Rund 30 Mal seien die Jugendgruppen bereits Thema im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) gewesen, in dem alle Sicherheitsbehörden zusammensitzen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnt vor den „dynamischen, mobilisierungsfähigen rechtsextremistischen Gruppierungen“, die auch auf „gewaltorientierte“ Personen zielten.
Bundesanwaltschaft lässt sich informieren
Tatsächlich hat nach taz-Informationen auch die Bundesanwaltschaft die Szene inzwischen im Blick, lässt sich über Ermittlungen informieren. Social-Media-Plattformen reagierten mittlerweile, löschten einige Profile der Neonazi-Gruppen – dafür kamen neue wieder hinzu. Es ist ein schwer zu gewinnender Wettlauf.
An einigen Orten griffen Sicherheitsbehörden inzwischen durch. Etwa in Berlin, wo sich bereits 2024 die Angriffe häuften. Nach den Attacken auf Linke am Bahnhof Ostkreuz, auf die SPD-Gruppe in Lichterfelde und auf zwei weitere Linke, die Antifa-Embleme auf ihrer Kleidung hatten, folgten zwei Durchsuchungen und Festnahmen. Mit dabei war Julian M., ein 24-jähriger Polizistensohn und Anführer der Berliner Gruppe Deutsche Jugend Voran, dem die letzteren Taten vorgeworfen werden. Auch er war auf Social Media aktiv, stand immer wieder mit Megafon auf der Straße, reiste mit seiner Gruppe auch zu Aufmärschen in andere Bundesländer.
Vor wenigen Tagen nun begann der Prozess gegen Julian M. vor dem Berliner Kammergericht. Gleich drei Gewalttaten werden ihm vorgeworfen, begangen innerhalb nur weniger Wochen. Teils soll er dabei Protektorenhandschuhe getragen haben, mit denen man härter zuschlagen kann. Einmal habe er einem Mann erst mit Fäusten und Schlägen aufs Auge traktiert, dann mit einer ungeladenen Luftdruckpistole gedroht, „ich knall dich ab“. Im Prozess gestand Julian M. die Taten, gab sich kleinlaut.
Ruhe aber ist in der Hauptstadt nicht eingekehrt: Gerade erst standen hier an gleich zwei Wochenenden hintereinander Neonazis mit Aufmärschen auf der Straße – das hatte es lange nicht gegeben. Bundesweit mobilisiert die Szene weiter.
In Südbrandenburg, in Altdöbern, Senftenberg und Spremberg bleibt Verunsicherung. Ein Problem sei, dass die Ermittlungsbehörden in den Fällen wenig transparent kommunizierten, sagt Anne Brügmann von der Opferperspektive. „Es braucht aber eine konsequente Strafverfolgung.“ Und es brauche auch klare Signale aus der Politik, dass die Zivilgesellschaft und Betroffene rechter Gewalt geschützt werden. „Der Einsatz für eine offene Gesellschaft“, sagt Brügmann, „darf nicht mit Angst und Gewalt bezahlt werden.“
Mitarbeit: Nils Lenthe
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