Waffenlieferungen an Israel: „Recht auf Selbstverteidigung gilt nicht unbegrenzt“
Israel verstoße in Gaza offen gegen Völkerrecht, sagt Andreas Schüller vom ECCHR. Die Organisation klagt gegen Kriegswaffenlieferungen an Israel.
taz: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat im Bundestag angekündigt, weiter Waffen an Israel liefern zu wollen. Sie haben nun zusammen mit fünf Betroffenen aus Gaza beim zuständigen Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) Widerspruch gegen Ausfuhrgenehmigungen von Kriegswaffen gemäß der Kriegswaffenliste eingelegt. Warum?
Andreas Schüller: Weil unsere Mandanten von den Waffen bedroht sind. Es ist doch recht offensichtlich, dass die israelische Armee in Gaza gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt. Mehrere völkerrechtliche Konventionen verbieten aber Waffenlieferungen, wenn das Risiko besteht, dass damit Völkerrechtsverstöße begangen werden. Wir haben deshalb seit Jahresbeginn eine ganze Reihe von rechtlichen Schritten unternommen, um Waffenexporte nach Israel zu stoppen, insbesondere von Waffen, die von den israelischen Streitkräften in Gaza eingesetzt werden. Dazu zählen neben den Widersprüchen bei den zuständigen Behörden die Einreichung von Eilanträgen und Klagen, etwa bei den Verwaltungsgerichten in Berlin und Frankfurt. Einige der Rechtsfragen werden letztlich aber wohl die obersten Gerichte oder das Bundesverfassungsgericht klären müssen.
taz: Was wissen Sie über den Einsatz deutscher Waffen in Gaza?
Schüller: Es fehlt oftmals Transparenz darüber, was geliefert wird und wo es letztendlich eingesetzt wird. Wir fordern ja auch kein komplettes Exportverbot, sondern ganz speziell von den Waffentypen und Kategorien, die in Gaza eingesetzt werden. Aber die Bundesregierung macht überhaupt nicht transparent, was geliefert wird und wie es eingesetzt werden kann. Dies zeigt die Notwendigkeit eines Rüstungsexportkontrollgesetzes, das zwar geplant war, aber immer noch nicht umgesetzt wurde.
taz: Was ist sonst von deutschen Waffenlieferungen nach Israel bekannt?
Schüller: Alles was wir haben, sind die Kennzahlen der Rüstungsgüter von den Listen nach dem Außenwirtschaftsgesetz oder dem Kriegswaffenkontrollgesetz, die über parlamentarische Anfragen an die Öffentlichkeit gelangen. Das sind sehr abstrakte Kategorien und man weiß meistens nicht genau, was letztlich geliefert wird. Das Argument ist immer, man wolle dem Gegner nicht von vornherein sagen, was genau man liefert. Und es gibt noch Geschäftsgeheimnisse, aber wir denken, bei schwerwiegenden, irreversiblen Fragen, bei denen es um das Recht auf Leben geht, muss Letzteres überwiegen.
taz: Wissen Sie also gar nicht, was geliefert wurde?
Schüller: Wir wissen: Sowohl Kriegswaffen als auch Rüstungsgüter wurden geliefert. Das eine sind fertige Waffen und Munition, wie Panzerfäuste, die im Herbst letzten Jahres geliefert wurden, oder Munition für Panzer oder Artillerie. Das andere sind Ersatzteile und Komponenten für Panzer, zum Beispiel Motoren und Getriebe, also nicht die fertigen Produkte. Dafür gibt es verschiedene rechtliche Genehmigungsverfahren, die auch unterschiedlich vor Gerichten angreifbar sind.
taz: Wo sehen Sie den Unterschied zwischen Komponenten und fertigen Rüstungsgütern?
Schüller: Aus unserer Sicht macht es keinen Unterschied, ob wir über Panzerfäuste reden oder Motoren von Panzern. Beides ist relevant und kommt bei Kriegshandlungen in Gaza zum Einsatz. Insofern sollte es hinsichtlich der Genehmigungsfähigkeit keine Unterscheidung geben, solange ein Risiko besteht, dass diese Waffen völkerrechtswidrig eingesetzt werden und möglicherweise Zivilisten, wie die von uns unterstützten Betroffenen, zu Schaden kommen.
taz: Einige schlagen vor, nur Verteidigungswaffen an Israel zu schicken, zum Beispiel für den Iron Dome. Ist es möglich sicherzustellen, dass Waffen nicht für den Angriff zweckentfremdet werden?
Schüller: Das ist möglich, weil bestimmte Rüstungsgüter nur in defensiven Waffensystemen einsetzbar sind. Andere können sowohl zur Abwehr als auch zum Angriff genutzt werden. Wiederum andere sind klare Angriffswaffen. Panzer sind für den Bodenkampf da und nicht für Luftabwehr. Bei U-Booten ist es anders und auch beim Iron Dome und anderen Systemen, die natürlich eher Richtung Luftabwehr zielen. Da kann man durchaus unterscheiden.
taz: Nun gibt es Medienberichte, nach denen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Lieferungen in der Vergangenheit verzögert haben sollen. Offenbar sollen sie gefordert haben, dass sich Israel schriftlich verpflichtet, mit aus Deutschland gelieferten Waffen kein Völkerrecht zu brechen. Kann Israel das garantieren?
Schüller: Wir denken, dass die Bundesregierung hier ein falsches Spiel spielt. Auf Zusicherungen kann man sich nicht verlassen und sie sind letztlich auch rechtlich nicht durchsetzbar, selbst wenn gegen die Zusicherung verstoßen wird. Wahrscheinlich wird auch kaum ein Land der Welt, das Waffen kaufen will, eine solche Zusicherung nicht geben, weil jeder von sich überzeugt ist, das Recht einzuhalten. Und deshalb denken wir, dass die Zusicherung eine Nebelkerze ist. Im Endeffekt ist es sogar ein falsches Spiel zu suggerieren, hier wird Recht eingehalten, während die UN-Ermittlungskommission in mehreren Berichten und der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in seinen beantragten Haftbefehlen von Kriegsverbrechen ausgehen und immer weitere Berichte erscheinen, die diese Annahme bestätigen.
taz: Würden diese Einschätzungen der UNO nicht ausreichen, dass Deutschland keine Waffen liefert?
Schüller: Genau. Die Bundesregierung müsste sagen, wir können nicht sicherstellen, dass diese Waffen nicht völkerrechtswidrig eingesetzt werden, deshalb liefern wir gar nicht mehr. Die Sorgfaltspflicht gebietet es, die israelische Zusicherung nicht ungeprüft einfach zu akzeptieren.
taz: Warum macht das die Bundesregierung nicht?
Schüller: Das ist die richtige Frage, man hat aus Frankreich und Spanien ja Ähnliches gehört, warum nicht geliefert wird. Nach mehr als einem Jahr gibt es genügend Hinweise für Völkerrechtsbrüche. Die Bundesregierung muss sich letztlich ehrlich machen beim Abwägen der bedingungslosen Unterstützung Israels aufgrund der Staatsräson mit der Einhaltung der Völkerrechtsordnung. Letzteres ist aus unserer Sicht überwiegend und einer der wesentlichen Pfeiler der Nachkriegsordnung. Das Völkerrecht ist auch Teil des Grundgesetzes. Es muss eingehalten werden, da kann man nicht die Staatsräson oder andere Konzepte drüber stellen.
taz: Der Internationale Gerichtshof (IGH) sieht Hinweise für einen möglichen Genozid. Teilen Sie diese Einschätzung?
Schüller: Wir sehen, dass die Lebensbedingungen der Menschen in Gaza zerstört werden. Vor allem der Norden hat sich in eine lebensfeindliche Trümmerwüste verwandelt, in der nur noch Willkür und Entrechtung herrschen. Natürlich wird man sehen müssen, was der IGH in dem Hauptsacheverfahren entscheiden wird, weil bisher war es ja nur ein Eilverfahren. Das wird leider noch ein paar Jahre dauern. Wir werden auch sehen, ob das Aushungern und die Zerstörung der Lebensgrundlagen das einzige Ziel des militärischen Vorgehens seitens Israel ist oder Teil von mehreren Zielen. Und wenn man die bisherige IGH-Rechtsprechung sehr restriktiv liest, kann es sein, dass es genau darum gehen wird festzustellen, ob es Israels primäres Ziel ist, die Menschen in Gaza zu bestrafen.
taz: Sie sagen also, der Krieg ist kein Verteidigungskrieg, sondern ein Rachekrieg?
Schüller: Israel hatte nach dem 7. Oktober das Recht, sich gegen die Angriffe der Hamas zu verteidigen. Das Selbstverteidigungsrecht gilt aber nicht unbegrenzt, da es dem Gebot der Verhältnismäßigkeit und der Notwendigkeit unterliegt. Die israelische Kriegsführung in Gaza hat den Angriff längst überstiegen und geht über das zur Verteidigung Notwendige hinaus. Insbesondere die Tatsache, dass die Angriffe der israelischen Armee offenkundig auf Ziele gerichtet werden, die nicht unmittelbar mit der Bedrohung in Verbindung stehen, zeigt, dass es um andere Ziele als Verteidigung geht.
taz: Israel hat ein Selbstverteidigungsrecht. Die Palästinenser:innen haben ein Widerstandsrecht. Was bedeutet das für Waffenlieferungen generell?
Schüller: Jede Konfliktpartei ist angehalten und dazu verpflichtet, das Recht einzuhalten, auch das Völkerrecht. Die Tötung von Zivilisten ist genauso ein Kriegsverbrechen wie Geiselnahmen, also nicht vom Widerstandsrecht gedeckt. Natürlich darf sich eine Bevölkerung, die unter Besatzung steht, wehren, aber nicht mit allen Mitteln. Und das ist am 7. Oktober klar überschritten worden.
taz: Vor Kurzem sagte Annalena Baerbock im Bundestag, dass zivile Ziele wie Krankenhäuser oder Schulen, die von Israel attackiert werden, ihren Schutzstatus verlieren können, wenn diese militärisch benutzt würden. Ist das überhaupt der Fall?
Schüller: Ja, das ist das Argumentationsmuster, dass auch geschützte Zivilobjekte ihren Status verlieren können, wenn sie militärisch genutzt werden, und dann aber auch nur für diesen Zeitpunkt und Zeitraum. Wir haben aber wenig konkrete Beweise gesehen, dass es tatsächlich eine militärische Nutzung gibt, und der Eindruck verfestigt sich, dass Israel dies zwar behauptet und entsprechend angreift, aber den Beweis einer militärischen Nutzung letztlich nicht erbringen kann. Die Tatsache, dass sich unter einem Wohngebäude ein Hamas-Tunnel befindet, macht das Gebäude auch nicht gleich zu einem legitimen militärischen Ziel. Vielmehr muss das Gebäude zum Zeitpunkt des Angriffs wirksam zu militärischen Handlungen beitragen. Darüber gilt immer das Gebot der Verhältnismäßigkeit.
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