Hochburg kommt vor dem Fall

Die Linke sucht nach Erklärungen für ihr miserables Abschneidenund den Aufstieg der Konkurrenz BSW vor allem im Osten Berlins

Die Linke poppt nicht mehr Foto: Stefan Boness

Von Rainer Rutz

Der ehemalige Berliner Linken-Abgeordnete Hakan Taş hat sein Parteibuch abgegeben. Die Linke habe sich immer stärker von den Menschen vor Ort entfernt, nun, nach der Europawahl, sei für ihn Schluss. „Und es ist ja nicht so, dass wir das erste Mal bei Wahlen verlieren, niemand hat dafür Verantwortung übernommen, auch in Berlin nicht“, sagt Taş am Dienstag zur taz.

Was seine künftige politische Heimat anbetrifft, habe er sich noch nicht hundertprozentig entschieden, so Taş, der von 2011 bis 2021 im Abgeordnetenhaus saß. „Aber ich werde sicher das Bündnis Sahra Wagenknecht begleiten.“ Das passe für ihn. Auch er sei gegen Waffenlieferungen. Und: „Islamisten sind abzuschieben.“ Beides werde von Teilen der, so Taş, „Kaderelite“ der Hauptstadt-Linken abgelehnt. Nicht so bei der Wagenknecht-Partei.

Dort nimmt man die Avancen des einstigen integrationspolitischen Sprechers der Linksfraktion verhalten zur Kenntnis. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) habe aktuell rund 80 Mitglieder und wolle wie bisher auch erst einmal nur langsam wachsen, sagt Alexander King zur taz. Der Ex-Linke ist der einzige BSW-Abgeordnete im Landesparlament und koordiniert den Parteiaufbau in Berlin. Im Sommer soll ein Landesverband gegründet werden. King sagt: „Es wird bei allen Interessierten geschaut, weshalb sie zu uns kommen wollen und ob sie zu uns passen. Wir wollen keine Rechten, keine Streithähne, keine Karrieristen.“

Der oberste Berliner BSW-Aufbauhelfer ist zwei Tage nach der Europawahl „baff“ über das Ergebnis. Mit 8,7 Prozent hatte sich das BSW berlinweit aus dem Stand vor die Linke geschoben, die im Vergleich zur Wahl 2019 um fast 5 Punkte auf 7,3 Prozent abrutschte. Insbesondere die Erfolge in den ehemaligen Hochburgen der Linken, den Bezirken Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf, wo das BSW 17,5 und 17,1 Prozent erreichte, fallen ins Auge. Überraschend sind die Ergebnisse gleichwohl nicht.

„Kommt Sahra noch?“: Schon vor der Abgeordnetenhauswahl 2021 gehörte diese Frage an den Bratwurstständen der Linken in den Großwohnsiedlungen in Lichtenberg zum Standardrepertoire insbesondere älterer Genoss:innen. Deren Sorgen kreisten um hässliche Glascontainer und Zugezogene, ihre Erinnerungen galten der DDR, als es sauber und ordentlich zugegangen sei. Vor Jahren hatte die Linke hier das Image der Kümmererpartei. Das trat sie bei den folgenden Wahlen an die örtliche CDU ab.

Und „Sahra“ ist seither zwar nur ein Mal nach Lichtenberg gekommen. Dafür macht das BSW seit Anfang des Jahres mobil. Ihre neue Fraktion im Bezirksparlament kämpft gegen Verkehrswendeprojekte und Geflüchtetenunterkünfte. Für den in Lichtenberg direkt gewählten Linken-Abgeordneten Sebastian Schlüsselburg steht der BSW damit „nachweislich rechts der Sozialdemokratie“. Der „Kulturkampf gegen die Verkehrswende“ sei „billiger Populismus“, die Migrationspolitik nichts anderes als rassistisch, sagt Schlüsselburg zur taz.

Doch der Absturz der Linken ist nicht zuletzt in den Plattenbausiedlungen brutal. In zwei Stimmbezirken im Ortsteil Fennpfuhl etwa rauscht die Linke von Platz 1 mit über 28 Prozent um rund 16 Punkte auf Platz 4 mit unter 12 Prozent ab – das BSW hingegen fährt über 21 Prozent ein. Der Linke-Landesvorsitzende Maximilian Schirmer will nichts schönreden: „Das ist ein Desaster.“ Innerhalb der Partei gelte es, das Wahlergebnis „schonungslos“ aufzuarbeiten. „Wir werden uns hier ehrliche Fragen stellen müssen“, sagt Schirmer zur taz. Dazu gehöre, „ob wir als Linke unserer Verantwortung nachgekommen sind, ob wir auf die Fragen der Menschen die richtigen Antworten gegeben haben“.

Die Linksfraktion im Abgeordnetenhaus hat am Dienstag einen neuen Vorstand gewählt. Anne Helm, 37, seit 2020 Fraktionschefin, trat erneut an. Ihr Co-Chef Carsten Schatz hatte den Posten aus persönlichen Gründen aufgegeben. Zu Schatz’ Nachfolger wurde der bisherige Vize Tobias Schulze, 48, gewählt.

Der Wissenschaftspolitiker Schulze war von 2016 bis 2023 stellvertretender Landeschef der Linken und galt als enger Vertrauter der Parteivorsitzenden Katina Schubert, die ihrerseits für eine klare Kante gegenüber dem russlandfreundlichen und migrationsfeindlichen Wagenknecht-Flügel bekannt war. (rru)

Das BSW sei „eine Projektionsfläche für großen Frust“, so der Linke-Landeschef. „Wir als Linke wollen aber mehr als nur den Frust aufgreifen, sondern für die Menschen wirklich etwas verbessern. Da müssen wir besser werden.“ Zugleich warnt Schirmer mit Blick auf das Abschmieren seiner Partei vor vorschnellen Interpretationen. „Das ist schon etwas komplizierter, zumal wir leider auch an das Lager der Nichtwähler verloren haben.“

Auch der Politikwissenschaftler Werner Krause mahnt zur Vorsicht. „Wir haben zu wenig belastbare Daten, um sicher zu sagen, was die Wäh­le­r:in­nen des BSW antreibt“, sagt der Experte für Parteienpolitik zur taz. Eine Rolle in den Ostberliner Plattenbausiedlungen dürfte natürlich gespielt haben, dass die Wäh­le­r:in­nen mit der Arbeit der Linken immer weniger zufrieden sind, wohingegen Sahra Wagenknecht wahlmotivierend wirkte, schon weil sie „authentisch Protest verkörpert“.

Die Berliner Linke macht sich unterdessen Mut. So verweist Linken-Landeschef Schirmer auch auf die weiter steigenden Mitgliederzahlen. Austritten wie dem von Hakan Taş am Dienstag zum Trotz. Allein seit dem Wahlsonntag zählt die Partei seinen Angaben zufolge mehr als 50 Neueintritte, insgesamt hat die Linke in Berlin damit fast 7.500 Mitglieder. Allein, in der Zahl der Wäh­le­r:in­nen schlägt sich die Entwicklung nicht nieder.