piwik no script img

Paragraf 218Reine Betroffenheitsprosa

Eiken Bruhn
Kommentar von Eiken Bruhn

Die Ampel-Regierung folgt nicht dem Rat einer Kommission, Abtreibungen zu legalisieren. Damit verweigert sie sich dem Willen der Wähler:innen.

Komplexe und emotionale Materie: Die Mi­nis­te­r:in­nen Paus, Lauterbach und Buschmann am 15.4 Foto: Britta Pedersen/dpa

W ie erwartet duckt sich die Ampelregierung beim Schwangerschaftsabbruch weg. Statt die Empfehlung der von ihr eingesetzten wissenschaftlichen Kommission umzusetzen und Abtreibungen zu legalisieren, betonen Po­li­ti­ke­r:in­nen von FDP, SPD und Grünen das Spaltungspotenzial des Themas. So bat bei der Vorstellung des Kommissionsberichts am Montag selbst die grüne Frauenministerin Lisa Paus um Verständnis für politische Untätigkeit. Die Materie sei halt „komplex“ und „emotional“.

Mit einer solchen Betroffenheitsprosa schaffen die angeblich progressiven Parteien die Basis für gesellschaftliche Spaltung. Würden sie ihrem eigenen Aufruf zur Sachlichkeit folgen, redeten sie ausschließlich über Fakten. Danach verhindert die Kriminalisierung eine gute medizinische Versorgung, wie die vergangene Woche vorgestellte Elsa-Studie gezeigt hat.

Und die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die deutsche Gesetzgebung (Abtreibungen sind verboten, werden unter bestimmten Voraussetzungen aber nicht bestraft) auch juristisch betrachtet nicht haltbar ist: Das Lebensrecht des Fötus in der Frühphase der Schwangerschaft sei nicht gleichwertig gegenüber dem der Schwangeren.

Das Märchen eines Kompromisses

Das könnten die Ampelparteien den Deutschen erklären. Stattdessen erzählen sie das Märchen weiter, das Konservative der Gesellschaft seit Jahrzehnten auftischen. Danach ist der Paragraf 218 „ein guter Kompromiss“, der einen „Kulturkampf“ verhindere. Das ist Quatsch. Ein Kompromiss würde voraussetzen, dass sich zwei gleich starke Seiten gegenüber stehen: Die einen wollen Abbrüche erlauben, die anderen verbieten.

Letzerem stimmten 2023 in einer Umfrage nur 3 Prozent der Befragten zu. Selbst in der Union gibt es nur wenige Hardliner, denen die Selbstbestimmung von Frauen so egal ist, dass sie auf ihre Stimmen verzichten. Nach einer aktuellen, der taz vorliegenden Umfrage lehnen 77,5 Prozent der Uni­ons­wäh­le­r:in­nen die Rechtswidrigkeit des Abbruchs ab. Es gibt also keinen vernünftigen Grund, das Thema auszusitzen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Eiken Bruhn
Redakteurin
Seit 2003 bei der taz als Redakteurin. Themenschwerpunkte: Soziales, Gender, Gesundheit. M.A. Kulturwissenschaft (Univ. Bremen), MSc Women's Studies (Univ. of Bristol); Alumna Heinrich-Böll-Stiftung; Ausbildung an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin; Lehrbeauftragte an der Univ. Bremen; Systemische Beraterin.
Mehr zum Thema

26 Kommentare

 / 
  • "Das Lebensrecht des Fötus in der Frühphase der Schwangerschaft sei nicht gleichwertig gegenüber dem der Schwangeren."

    Das sagt sie so nicht, denn das Recht der Schwangeren zur Rettung ihres Lebens abtreiben zu lassen, ist in jedem Stadium der schwangerschaft völlig unstreitig. Aber WAS sie sagt, nämlich dass das Lebensrecht des Fötus weniger stark sei als das Recht der Schwangeren auf Selbstbestimmung, ist verfassungsrechtlich ganz schöner Sprengstoff: Lebensrecht, einmal behjaht, dann auch als indisponibel zu betrachten, gehört zu den "Nie wieder"-Schwüren, auf denen der deutsche Rechtsstaat nach der Nazizeit aufgebaut wurde. Und "nie" heißt auch dann "nie", wenn die Bevölkerungsmehrheit gerne etwas pragmatischer damit umgehen würde.

  • Soll Politik wirklich nach Umfragen gemacht werden?



    Dann gäbs keine „homo-ehe“, wir hätten evtl wieder eine Todesstrafe, Migration würde auf Arbeitsmigration beschränkt, usw usw. Praktisch Stillstand a la Merkel.

  • Schade, dass die Ampel die Gelegenheit, etwas für Frauenrechte zu tun, nicht ergreifen möchte.

    Diese Regierung hätte zumindest die Chance, mit 2/3-Mehrheit eine Grundgesetzänderung zu erwirken, auch in Richtung "Trennung von Kirche und Staat/Laizismus", was mir persönlich ebenso wichtig ist.



    Aus meiner Sicht ist es bedauerlich, dass diese Chance nicht ergriffen wird. Schlimmer noch. Wenn wir zukünftig, was zu befürchten ist, erst einmal wieder eine gewisse Zeit konservative/rechte Regierungen haben, ist das Zeitfenster für derartige Änderungen erst einmal länger geschlossen. Meiner Meinung nach vertut die jetzige Regierung aus Gründen des Machterhalts (?) eine historische Chance.

    • @*Sabine*:

      Eine 2/3-Mehrheit würde nicht reichen. Artikel 1, der bekanntlich die zentrale Rolle in dem Dilemma allgemein und bei der vom Verfassungsgericht postulierten "Verbotspflicht" im Besonderen spielt, ist einer der beiden "ewigen" Artikel des Grundgesetzes, also nicht änderbar. Nur eine neue, vom ganzen Volk verabschiedete Verfassung könnte der Frage eine neue Rechtsgrundlage geben.

    • @*Sabine*:

      "Diese Regierung hätte zumindest die Chance, mit 2/3-Mehrheit eine Grundgesetzänderung zu erwirken."



      Zweidrittelmehrheit?



      Wo soll die herkommen?

  • Jeder Kommentar zu dem Thema der das Ungeborene Kind nichtmal erwähnt kann nicht erstgenommen werden.

    • @Notizen aus Taiwan:

      Vielleicht haben Sie es überlesen:



      "Das Lebensrecht des Fötus in der Frühphase der Schwangerschaft sei nicht gleichwertig gegenüber dem der Schwangeren."

      Die Schlussfolgerung der Kommission, die von der Kommentatorin offensichtlich geteilt wird, passt Ihnen vermutlich nur nicht.

  • Purer Quatsch ist ihre Argumentation bzgl. des Kulturkampfes. Geschrieben wie aus der Blase!

    Faktisch ändert sich nämlich überhaupt nichts. Denn ob legal oder straffrei, macht in der Sache keinen Unterschied. So wenig wie 100.000 Abbrüche pro Jahr auf ein Stigma hindeuten. In einem Land, in dem rund 600.000 Kinder geboren werden, wird ohnehin schon jedes 7. abgetrieben.

    Es gibt keinen vernünftigen Grund eine Diskussion zum Zaun zu brechen, zumal sie den rechtlichen Status des Fötus in jedem Fall in irgendeiner Form würdigen müssen.

    Was sie aber in jedem Fall weiter befördern würden, wäre eine weitere Spaltung der Gesellschaft bzw. Verhärtung der Lager und das ohne jede Not!

    • @insLot:

      Haben Sie denn den Bericht gelesen?

    • @insLot:

      "Faktisch ändert sich nämlich überhaupt nichts"

      Mann oder sonst nicht mit dem Thema befasst?

  • Es kann doch eine Gewissensfrage sein.



    Es kann doch ein Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht werden, z.B. von der FDP oder BSW usw. Fraktionszwang aufheben und dann sehen wie die Mehrheiten sind. Abgeordnete seid doch endlich mal mutig. Rüstung und Kriegsfähigkeit befürwortet ihr auch.... nun mal etwas sinnvolles beschließen!!!!

  • Grundkurs Demokratie: Gesetze werden vom Bundestag verabschiedet, nicht von der Bundesregierung, nicht von Expertenkomissionen und auch nicht durch Civey-Umfragen. Es braucht parlamentarische Mehrheiten. Und das ist auch richtig so.

    • @Ruediger:

      Die Ampel hätte eine parlamentarische Mehrheit...

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Eine einfache Mehrheit genügt nicht

  • Das Dilemma ist, dass Artikel 1 GG, die Würde und damit das Lebensrecht jedes Menschen schützt. Jede Legalisierung würde somit zwingend bedeuten, dass die Politik festlegt ab wann das menschliche Leben beginnt. Aus dem wissenschaftlichen Diskurs sind mir dazu zwei Extrempositionen bekannt: Ab Befruchtung und so ca. ab einem Alter von 2 Jahren. Und so ziemlich alles dazwischen.



    Das BVG hat hier entschieden, die Position zu vertreten, dass der Staat keine willkürliche Festlegung der Menschwerdung vornimmt, sondern Schutz ab dem frühest möglichen Zeitpunkt. Die Straffreiheit in den ersten 12 Wochen basiert auf der Abwägung der Grundrechte der Frau ggü. denen des Ungeborenen.

  • "So bat bei der Vorstellung des Kommissionsberichts am Montag selbst die grüne Frauenministerin Lisa Paus um Verständnis für politische Untätigkeit. Die Materie sei halt „komplex“ und „emotional“ Ums anders zu drücken, wir setzen uns nur für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen ein, wenn es nicht allzu anstrengend wird.

    " Danach ist der Paragraf 218 „ein guter Kompromiss“, der einen „Kulturkampf“ verhindere." Achja die gute alte Harmoniebedüftigkeit, selbst wenn es so wäre, gibt es ja auch Kämpfe, die es sich lohnen würde auszutragen.

    Getreu dem Motto (abgeändert von Degenhardt) Dynamisch, progressiv, mit Fantasie aber feige.

  • Das Beste an dieser durch und durch enttäuschenden (weil eben nicht progressiven) Ampel-Regierung: Sie hat es bald hinter sich.

    • @B. Iotox:

      Ja, ein Kanzler Merz wird sicherlich viel progressiver agieren.

    • @B. Iotox:

      Wer sagt uns, dass es danach besser wird?

      • @Katrina:

        Besser gewiss nicht.

        Aber vielleicht etwas weniger schlecht.

        • @Bolzkopf:

          "Besser gewiss nicht.



          Aber vielleicht etwas weniger schlecht."



          Ganz ehrlich, welche Art von Regierungskonstellation halten Sie derzeit für wahrscheinlich _und_ progressiver als die jetzige?

        • @Bolzkopf:

          Ist damit die jetzige Regierung im Gegensatz zu der vorherigen gemeint?



          Man kann ja nicht nur Wissing mit Scheuer vergleichen, sondern auch - jetzt muss ich erst mal wieder nachdenken.

  • Naja, soweit ich mich erinnere, ist das wesentliche Problem das BVG, dass aus dem allgemeinen Lebensrecht eine zwingende Strafbarkeit folgt. Dementsprechend der damalige Kompromiss. Die Diskussion zur Spaltung der Gesellschaft ist aus meiner Sicht vorgeschoben, da beim BVG der große Konflikt liegt.

    • @Andi S:

      Das BVG ist viel progressiver, als sich das viele Reaktionäre wünschen...

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Ich fürchte, genau DAS haben sich die Befürworter einer "sauberen" Fristenlösung letztes Mal auch gesagt - mit bekanntem Ergebnis...

        Tatsächlich ist das Verfassungsgericht trotz progressiver Geister in seinen Senaten seiner Natur nach "konservativ" wie nur was - nur ist es halt nicht auf die Bewahrung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse geeicht sondern auf die der Verfassung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich an seiner Auffassung, wie die in puncto Abtreibung am besten zu bewahren sei, in den vergangenen 30 Jahren etwas geändert hat. Aber es wäre ein Irrtum zu unterstellen, dass diese Änderung sich an den gesellschaftlichen Änderungen der letzten 30 Jahre orientieren oder messen lassen würde.

    • @Andi S:

      Ich finde es reichtlich absurd, den Zellhaufen im Frauenkörper als eigene Lebensform zu betrachten. (nichts anderes ist ein Embryo in den ersten Wochen der Schwangerschaft).

      Hier geht es den Konservativen nicht um Schutz des Lebens, sondern um Kontrolle über Menschen. Denn sobald die Kinder geboren sind, sind sie den Konservativen reichlich egal, siehe Politik der CDU bzgl. Bildung und Unterstützung bedürftiger Familien.