Social-Media-Nutzung bei Jugendlichen: Wie Kinder ohne Sicherheitsgurt

Die sozialen Medien sind gesundheitsgefährdend, die Regierungen müssen handeln. Denn auch die Demokratie ist in Gefahr.

Drei Mädchen spielen mit ihren Smartphones im Bett

„Seit mehreren Jahren stapeln sich die Hinweise, dass die Jugend der westlichen Indus­trie­staaten unglücklicher wird“ Foto: Ute Grabowsky/photothek/picture alliance

Sie kennen Vivek Murthy womöglich noch nicht, das ging mir bis Mittwoch genauso. Doch überfiel mich der dringende Wunsch, ihm Blumen zu schicken, als ich den Satz von ihm las: „Es ist wahnsinnig, wenn man drüber nachdenkt“ – „it is insane if you think about it“. Er sagte das zu der britischen Zeitung The Guardian, und er meinte die komplett unregulierte Nutzung von Social Media durch Teenager und junge Leute.

Murthy ist der medizinische Chefinspekteur der USA, quasi Joe Bidens oberster Amtsarzt. Sein Kommentar galt der Welt-Glücksstudie, die diese Woche erschien. Was auf Tiktok und in anderen sozialen Medien passiere, sagte Murthy, sei, als würde man die Kids in Autos ohne Sicherheitsgurte setzen und sie auf Straßen ohne Ampeln, Geschwindigkeitsbegrenzung oder sonstige Regeln fahren lassen – man rufe ihnen nur zu, „tut euer Bestes, ihr findet schon raus, wie!“. Murthys Botschaft im Kern: Die sozialen Medien sind unsicher und gesundheitsgefährdend, und die Regierungen müssen handeln.

Seit mehreren Jahren stapeln sich die Hinweise, dass die Jugend der westlichen Indus­trie­staaten unglücklicher wird, und der ak­tuel­le World Happiness Report, der aufwendig von mehreren Universitäten und der UNO gemacht wird, gehört dazu: In den USA sind demnach die jungen Leute von 15 bis 24 inzwischen unglücklicher als alle anderen Altersgruppen, und diese Entwicklung wird auch für Westeuropa sehr bald erwartet. Nach einem Blick quer über deutsche Krankenkassenerhebungen, Schulstudien und nicht nur anekdotische Aussagen von PsychologInnen und PsychiaterInnen wäre ich so frei zu ergänzen: Womöglich sind wir längst soweit.

Jetzt wenden Sie ein: Das hat ganz bestimmt mehrere Gründe und nicht nur einen, und innerhalb von Alterskohorten gibt es immense Unterschiede, und selbstverständlich kennen auch Sie einen oder zwei pudelrund zufriedene 18-Jährige, denen nichts fehlt. Früher wurde so was außerdem gar nicht gemessen, und Sie haben sich mit 15 auch mal einsam gefühlt, und darüber wurde auch kein Welt-Glücksbericht geschrieben.

Dazu noch der Erwachsenen-Ballast

Wenn wir damit aber fertig sind, können wir dann bitte den Gedanken zulassen, dass es eine gesellschaftliche Tragödie ist, wenn Menschen in einem Alter, in dem einem körperlich noch nichts wehtut und man eigentlich noch 10 Stunden am Stück schlafen kann, bereits unglücklicher sind als die Älteren? Was passiert mit ihnen, wenn der ganze Ballast des Erwachsenenlebens dann noch dazukommt?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Murthy nun nennt den Umstand, dass die Kids nicht mehr miteinander reden und Spaß haben können, weil sie im Schnitt fast fünf Stunden täglich am Handy hängen, als zen­tralen Grund. Er wird gut genug wissen, dass nicht nur das Gerät oder das Medium, sondern auch die Inhalte eine Rolle spielen – etwa, wie oft man täglich drauf gestoßen wird, was für ein Desaster die Menschheit auf dem Planeten anrichtet. Die Aussicht auf die 2-Grad-plus-Welt würde mir als 20-Jährige die Laune auch sogar noch mehr verhageln als jetzt schon. Direkter menschlicher Kontakt und Austausch, Gemeinsamkeit und Nähe wären nun genau die Dinge, die all diese Nachrichten verarbeitbar machen würden, nur werden sie ja durchs Am-Handy-Hängen grad verhindert.

Und möglicherweise haben ja viele Eltern keine Lust mehr, mit „Bildschirmzeit“ und anderen Hilflosigkeiten gegen den Digital­me­dien­konsum an zu rudern. Da nun die westlichen Regierungen entdeckt haben, dass Russland, China und Rechtsextreme Tiktok nutzen, um die Demokratie zu ruinieren – vielleicht könnte man das Seelenheil der Kinder als Schutzgut hier gleich dranhängen und um plausible Lösungen bitten.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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