Letzte Generation tritt zur EU-Wahl an: „Widerstand ins Parlament tragen“
Die Letzte Generation will ins EU-Parlament. Aktivistin Carla Hinrichs spricht darüber, ob sie an einen Wahlerfolg glaubt – und was sie in Brüssel vorhat.
taz: Die Letzte Generation will im Juni zur Wahl des Europaparlaments antreten. Meinen Sie das ernst, Frau Hinrichs?
Carla Hinrichs: Natürlich meinen wir das ernst. Wir wollen da aber nicht einfach antreten, um über das nächste Antiplastikgesetz abzustimmen, sondern wir wollen endlich die Stimme des Widerstands ins Parlament tragen.
27, ist Sprecherin der Klimagruppe Letzte Generation. Für den Aktivismus hat sie ihr Jurastudium unterbrochen. Schon mehrfach wurde sie nach der Teilnahme an Straßenblockaden gerichtlich verurteilt, einmal sogar zu einer Freiheitsstrafe, die allerdings auf Bewährung ausgestzt wurde.
Sie sind eine der unbeliebtesten politischen Gruppierungen in Deutschland. Umfragen zeigen immer wieder starke Ablehnungswerte. Glauben Sie, dass Sie eine Chance haben, gewählt zu werden?
Ich glaube, wir haben sogar eine ziemlich gute Chance. Wenn wir uns die Umfragewerte angucken, dann finden viele vielleicht unsere Protestform nicht super. Aber ein sehr großer Teil der Bevölkerung sagt: Was die machen, ist legitim. Und jetzt wollen wir unseren Widerstand von der Straße ins Parlament bringen.
Dazu brauchen Sie erst mal 4.000 Unterschriften, um zur Wahl zugelassen zu werden, und dann Hunderttausende Menschen, die für Sie stimmen.
Genau, als ich davon gehört habe, dachte ich auch erst mal: Das ist echt verdammt viel. Aber bei der EU kann man ab 16 wählen. Wenn wir es schaffen, möglichst viele junge Leute zu erreichen, dann sprechen wir genau die an, die sonst vielleicht gar nicht zur Wahl gehen würden. Die keine Lust haben, das kleinere Übel zu wählen. Diesen Menschen geben wir jetzt die Möglichkeit, ein Kreuz dort zu machen, woran sie wirklich glauben, die Stimme denen zu geben, die aufmischen und kein Blatt vor den Mund nehmen. Da denke ich schon, wir haben eine gute Chance. Gleichzeitig ist es auch einfach so, wenn wir nicht alles versuchen, die Klimakrise zu bewältigen, dann haben wir schon verloren.
Das Jahr 2023 war das bislang heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die Temperaturen lagen im Durchschnitt um 1,48 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Das hat der Erdbeobachtungsdienst Copernicus im Januar mitgeteilt. In der vergangenen Woche haben die Wissenschaftler*innen aber noch einen neuen Rekord gemeldet: Zwölf Monate lang, nämlich von Februar 2023 bis Januar 2024, lag die Temperatur im Durchschnitt sogar um 1,52 Grad über dem Referenzwert.
In die extremen Temperaturen hineingespielt hat neben dem Klimawandel auch ein natürliches Phänomen: El Niño. Dabei drehen sich Wind- und Wasserströmungen im Pazifik vorübergehend, was sich auch global auswirkt – nämlich erhitzend. Die Fieberkurve des Planeten zeigt aber auch unabhängig von solchen temporären Effekten steil nach oben.
Soll sich das ändern, muss die Menschheit den Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlendioxid beenden. Den verursacht sie in erster Linie durch die Nutzung fossiler Energieträger wie Steinkohle und Erdgas, aber zum Beispiel auch durch die Viehhaltung oder das Zerstören kohlenstoffhaltiger Ökosysteme wie Mooren und Wäldern.
Die Regierungen der Welt haben im Jahr 2015 mit dem auf der UN-Klimakonferenz in Paris erzielten Abkommen versprochen, die Erderhitzung „deutlich unter 2 Grad“ zu stoppen. Sie wollen außerdem „Anstrengungen unternehmen“, damit das schon bei 1,5 Grad der Fall ist. Mit jedem Zehntelgrad, das die Durchschnittstemperaturen steigen, nehmen die Folgen der Klimakrise dramatisch zu, zum Beispiel gefährliche Hitze und andere Extremwetterereignisse oder der Anstieg des Meeresspiegels. (scz)
Warum stellen Sie denn mit Lina Johnsen und Theo Schnarr zwei unbekannte Menschen als Spitzenkandidaten auf? Hätten Sie nicht selbst zum Beispiel bessere Aussichten?
Lina und Theo tragen den Widerstand wirklich tief im Herzen. Sie sind mutige und ehrliche Menschen, die nie der Verlockung nachkommen würden, der Sekt in Brüssel schmecke zu gut. Sie werden genau das sein, was es braucht: die Stimme der Bewegung. Ich glaube, sie sind die richtige Wahl.
Sie sagten vorhin, Sie wollten in Brüssel nicht einfach über das nächste Antiplastikgesetz abstimmen. Genau das ist doch die parlamentarische Arbeit. Was wollen Sie denn sonst tun?
Wir werden nicht dort sitzen und einfach bei jeder einzelnen Abstimmung mit Ja oder Nein antworten. Wir wollen den Protest in das Parlament tragen, auf den Elefanten im Raum zeigen, den die Mehrheit der Abgeordneten seit Jahrzehnten ignoriert.
Aber was heißt das denn genau?
Da muss man ein bisschen kreativ werden. Das haben ja auch schon andere Parteien gemacht, Die Partei zum Beispiel. So wählen wir jetzt auch einen neuen Weg, nämlich Protest im Parlament. Genauer kann ich es noch nicht verraten. Aber es wird spannend!
Haben Sie konkrete politische Projekte oder Forderungen für die europäische Ebene?
Unser Wahlprogramm beinhaltet das, was wir auch als Bewegung fordern. Das bedeutet, wir wollen die Macht in die Hände der Menschen legen und einen Gesellschaftsrat einberufen. Und natürlich müssen wir bis 2030 aus allen fossilen Brennstoffen aussteigen.
Mit Carola Rackete tritt ja schon eine sehr bekannte Person aus der Klimabewegung zur EU-Wahl an. Die ehemalige Sea-Watch-Kapitänin war unter anderem für Extinction Rebellion aktiv und ist jetzt Spitzenkandidatin der Linken. Warum unterstützen Sie nicht sie?
Wir wählen einen ganz anderen Weg, nämlich genau nicht einfach dort im Parlament sitzen und Teil davon sein. Aber Carola Rackete trägt dort wichtige Anliegen rein und darüber sind wir auch sehr glücklich. Wir haben dasselbe Ziel, aber ein anderes Vorgehen.
Haben Sie Sorge, dass sich die verschiedenen Bewegungsgruppen bei der Wahl kannibalisieren, also sich gegenseitig Stimmen wegnehmen?
Ich bin in Sorge, dass wir gerade vor einem Zusammenbruch unserer Gesellschaft, unserer Demokratie stehen. Das ist, was mich bewegt. Und wenn ich mir das ansehe, dann bietet das aktuelle Parteiensystem keine Möglichkeit, uns aus der Krise rauszubringen. Das liegt daran, dass Lobbyinteressen und auch Wiederwahlinteressen in solchen Parlamenten einfach vor den Menschen stehen.
Was ist, wenn Sie als Feindbild durch Ihren Wahlkampf mehr Stimmen für rechts mobilisieren als fürs Klima?
Nein, da habe ich überhaupt keine Sorge. Es fühlt sich einfach scheinheilig an, als politische Bewegung auf der Straße immer wieder die Parteien zu kritisieren, dann zur Wahl zu gehen und heimlich doch die Grünen als kleinstes Übel zu wählen. Da ist es eigentlich nur der logische Schritt, selber anzutreten und zu sagen: Wir wählen am Ende das, woran wir glauben, und das ist der Protest.
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