Einstellungen zu Long Covid: „Polemiken helfen da nicht“

Alles Faulpelze und Simulanten? Georg Schomerus forscht zur Stigmatisierung von Menschen, die an den Spätfolgen einer Corona-Erkrankung leiden.

Protest im öffentlichen Raum - eine Frau liegt mit Schlafmaske auf einem Metallbett. Auf dem roten Kissen steht #nicht genesen

Aktivisten der Initiative „NichtGenesen“ protestieren am ersten Internationalen Long Covid Awareness Day im März 2023 Foto: Florian Boillot

taz: Herr Schomerus, werden Long-Covid-Erkrankte in unserer Gesellschaft stigmatisiert?

Georg Schomerus: Eindeutig. Wir müssen nur zuhören, was Betroffene berichten. Sie machen so viele extrem entwertende Erfahrungen, die sich mit dem Konzept der Stigmatisierung treffend beschreiben lassen.

Wie äußert sich das?

Stigmatisierung entsteht, wenn eine Gruppe von Menschen mit einem Etikett versehen und daraufhin mit Stereotypen in Verbindung gebracht wird. Die Reaktion auf ein solches Zerrbild ist Ausgrenzung, ein „wir gegen die“. Viele Long-Covid-Betroffene berichten genau das: Sie werden als „die Anderen“ abgewertet. Das beginnt oft schon in der Arztpraxis.

Georg Schomerus

ist seit 2019 Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig. Forschungsschwerpunkte des 50-Jährigen sind die Einstellungen der Gesellschaft zu Menschen mit psychischen Krankheiten sowie die Gründe und Folgen ihrer Stigmatisierung.

Woran machen Sie das fest?

Long-Covid-Erkrankte stoßen bei Ärztinnen und Ärzten oft auf Unverständnis. Ihre körperlichen Leiden werden psychologisiert, oft wird sogar eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Menschen mit ME/CFS [Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Die postvirale Multisystemerkrankung gilt auch als schwerste Ausprägung von Long Covid; Anm. d. Red.] kennen das schon seit Jahrzehnten. Mehr oder weniger explizit wird ihnen auch unterstellt, dass sie lieber Sozialleistungen bekommen als gesund werden möchten. Das sind Zuschreibungen, die den Menschen selbst völlig fremd sind: Es sind häufig sehr leistungsbereite Menschen – aber jetzt, da sie krank sind, unterstellt man ihnen plötzlich fehlenden Willen.

Ist das ein gesamtgesellschaftliches Phänomen?

Das glaube ich eigentlich nicht. Aber es gibt bisher noch keine Untersuchungen darüber, wie die Allgemeinbevölkerung über Long Covid denkt. Was wir bereits sehen können, ist, dass es in den Medien neben einigen ausgewogenen auch viele sehr einseitige Berichte über postvirale Erkrankungen gibt. Hier setzt sich die Stigmatisierung fort, und eine ernste Erkrankung wird zum Gegenstand einer weiteren Polarisierung.

Haben Sie dafür Beispiele?

Vor einiger Zeit gab es einen polemischen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung. Der Autor schrieb mit triefender Ironie darüber, wie viel Energie die „chronisch Erschöpften“ doch aufbringen würden, um als „lautstarke Aktivisten“ in den sozialen Medien aggressiv für eine bessere Versorgung zu streiten. Das ist nicht nur eine hemmungslose Verallgemeinerung – hier profiliert sich ein Journalist auf Kosten einer Gruppe von Kranken. Er wirft Menschen, die in unserem Versorgungssystem vielfältig schlechte Erfahrungen machen, vor, dass sie sich wehren und dabei auch mal gereizt sind. Das finde ich offen gestanden infam: Erst behandeln wir die Menschen schlecht, dann kritisieren wir sie dafür, dass sie sich über die schlechte Behandlung beschweren. Dieser Kommentar sticht besonders hervor, aber er steht für eine ganze Strömung. Auch Ärzte haben in Interviews versucht, Long Covid in die Ecke eines bloßen Medienereignisses zu stellen, als seien postvirale Beschwerden nicht echt. Das reicht bis zu der Behauptung: Würde man nicht mehr darüber berichten, gäbe es bald auch viel weniger Erkrankte.

Nun sind die Krankheitsmechanismen bei Long Covid tatsächlich noch nicht geklärt. Ließen sich solche Beiträge nicht auch als Ausdruck des wissenschaftlichen Streits einstufen?

Wenn sich Ärztinnen oder Ärzte über Long Covid äußern, sollten sie einerseits auf dem Stand der Forschung sein und andererseits das Bewusstsein haben, dass wir vieles eben noch nicht wissen. Die Beschwerden als rein psychisch bedingt einzustufen, nur weil übliche Labortests keine Befunde liefern, ist einfach unsachlich – dafür gibt es viel zu viele gegen­teilige Erkenntnisse. Wir haben in der Wissenschaft praktisch einen Konsens, dass Long Covid keine psychische Erkrankung ist. Wer sich darüber einfach hinwegsetzt, der überschreitet meiner Meinung nach die Grenze zur Stigmatisierung.

Was ist die Motivation dahinter?

Das frage ich mich auch. Eigentlich liegt es im Interesse von uns Ärzten, diesem neuen Krankheitsbild auf die Spur zu kommen und es nicht vorschnell in die „Psycho-Schublade“ zu packen. Vielleicht ist es ein Problem, dass unsere Medizin so stark in Fachrichtungen aufgegliedert ist. Ein Syndrom, das sich hier nicht einfach einsortieren lässt, kommt deshalb wohl bei keiner Disziplin so richtig an. Gängige psychosomatische Konzepte passen hier nicht gut, weil sie eben von einer vornehmlich psychischen Ursache der Beschwerden ausgehen. Und wenn Betroffene dem widersprechen, wird ihnen das als Beleg für ihre Uneinsichtigkeit vorgehalten. Auch wenn wir Beschwerden noch nicht erklären können, ist es im Zweifelsfall doch angemessen, den Patienten einfach zu glauben, die gerade ihre Erfahrungen mit dieser neuen Erkrankung machen müssen.

Welche Auswirkungen hat die Stigmatisierung von Long-Covid-Erkrankten?

Im Ergebnis erhalten viele Betroffene keine angemessene Beratung und nicht die bestmögliche Therapie. Ich sehe deshalb auch die Gefahr, dass sich Menschen von der Medizin abwenden und auf alternative Heiler ausweichen. Die vermitteln zwar den Eindruck, sie ernst zu nehmen, therapeutisch haben sie aber nichts anzubieten. Stigmatisierung geht auch von Ämtern aus, wenn die sich nicht ausreichend mit der Krankheit befasst haben. Wir müssen davon ausgehen, dass Long-Covid-Erkrankten Leistungen vorenthalten werden, weil man ihnen ihre Beschwerden nicht glaubt. Auch am Arbeitsplatz treffen Betroffene auf Unverständnis. Es bräuchte zum Beispiel dringend Handreichungen für Arbeitgeber, wie sie Menschen mit Long Covid wiedereingliedern können, ohne sie zu überfordern.

Politisch wird ebenfalls über Long Covid gestritten, etwa über die richtige Höhe von Geldern für die Forschung und Therapie. Spielen Stigmata auch in dieser Debatte eine Rolle?

Die Gefahr besteht. Long Covid ist eine häufige und zugleich neue Erkrankung, es besteht also die große Chance, dass wir noch vieles herausfinden, was den Menschen helfen kann. Die Forschung zu fördern erscheint mir naheliegend und dringend notwendig. Polemiken helfen da nicht.

Was lässt sich der Stigmatisierung entgegensetzen?

Klassischerweise gibt es drei Strategien: Protest, Edukation und Kontakt. Von psychischen Krankheiten weiß man, dass Kontakt am besten funktioniert: Wer Betroffene kennenlernt, hinterfragt plötzlich seine Vorstellungen von einer Erkrankung. Bei Long Covid sind wahrscheinlich alle drei Strategien nötig. Medien sollten genau hinhören, was Menschen mit dieser Erkrankung erleben. Wir Mediziner müssen darüber aufklären, dass sich zum Beispiel ihre Form der Erschöpfung deutlich von einer landläufigen Erschöpfung unterscheidet. Und dass es durchaus kognitive Tests und einfache Untersuchungen etwa der Handkraft gibt, die spezifisch auf Long Covid hinweisen. Ohne den Protest der Menschen stünde es um die Anerkennung dieses Syndroms wahrscheinlich noch viel schlechter. Es gehört zu den zweischneidigen Erlebnissen, dass das Protestieren von manchen dann wieder gegen die Menschen verwendet wird, nach dem Motto: So erschöpft können die ja nicht sein.

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