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Spannungen in ukrainischer FührungSelenskyj bekommt Gegenwind

In der militärischen und politischen Führung der Ukraine rumort es. Währenddessen erfordert die Lage an der Front neue Lösungen.

Präsident Selenskyj will lieber direkt mit dem Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen (r.) reden Foto: Efrem Lukatsky/ap/dpa

Berlin taz | Die Beziehungen zwischen dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und dem Armeechef Waleri Saluschni spitzen sich weiter zu. Gerüchte über Unstimmigkeiten werden seit einem Monat in der ukrainischen und internationalen Presse aktiv diskutiert.

Kürzlich veröffentlichte das Online-Portal Ukrajinska Prawda einen Artikel, in dem anonyme Quellen zitiert wurden, wonach Selenskyj es vorziehe, direkt mit den Kommandeuren der einzelnen Armeeabteilungen zu kommunizieren – um dabei den Oberbefehlshaber Saluschni zu umgehen. Erklärt wird es damit, dass Selenskyj sich einen schnelleren Informationsaustausch mit dem Kommandeur der Landstreitkräfte, Oleksandr Sirski, oder dem Befehlshaber der Luftwaffe, Mikola Oleshchuk, wünscht. Dies würde sowohl die Hierarchie durchbrechen als auch Saluschni behindern, die gesamte Armee zu befehligen.

Nach Angaben von Ukrajinska Prawda habe sich auch General Saluschni geäußert. Während seines letzten Besuchs in Kyjiw Ende November hätte sich Saluschni beim Pentagon-Chef Lloyd Austin beschwert. Dies solle Selenskyj noch mehr verärgert haben, denn er fühlt sich durch die Einmischung von Außenstehenden in seine Kommunikationsstrategie mit den westlichen Verbündeten belästigt.

Obwohl Saluschni nie seine politischen Ambitionen erklärt hat, ist er derzeit der Einzige, der Selenskyj bei den Präsidentschaftswahlen Konkurrenz machen könnte. Laut einer unveröffentlichten Umfrage der renommierten Forschungsgruppe „Rating“ hat Selenskyj derzeit 47,4 Prozent Unterstützung – Saluschni kommt auf 30,7 Prozent. Im Fall einer Stichwahl wäre der Abstand noch geringer: 42 Prozent der Befragten würden für Selenskyj stimmen, 40 Prozent für Saluschni.

Kyjiwer Bürgermeister kritisiert auch Selenskyj

Öl ins Feuer goss in diesem Zusammenhang auch der bekannte Kyjiwer Bürgermeister Witali Klitschko, der seit Langem mit dem ukrainischen Präsidenten im Clinch liegt. In einem Interview mit dem Schweizer Nachrichtenportal 20 Minuten sprach sich Klitschko für Salusch­ni aus und kritisierte Selenskyj scharf.

Meine Einheit startet drei Drohnen pro Tag, der Feind antwortet mit 60

Anton, ukrainischer Soldat

„Ich befürchte, dass dieser interne Streit, bei dem nicht klar ist, worum und gegen wen es genau geht, uns im Krieg an der Hauptfront schwächen wird. Wegen dieser politischen Querelen könnten wir die Unterstützung unserer Verbündeten verlieren“, sagt die 65-jährige Nataliya aus Kyjiw. Auch Militärangehörige beobachten die Entwicklungen im Land mit Fassungslosigkeit: „Das ist das Dümmste, was uns jetzt passieren kann. Wir werden alles selbst zerstören“, kommentiert der 35-jährige Soldat Anton, der jetzt im Donbass an der Front ist. Die militärische und politische Führung der Ukraine müsse jetzt vor allem an die Armee denken, fügt er hinzu.

Sowohl die Militärangehörigen selbst als auch ihre Verwandten sprechen von der Dringlichkeit einer Demobilisierung derjenigen, die länger als ein Jahr ohne Rotation an der Front waren. In den ukrainischen Städten finden vermehrt Aktionen von Angehörigen der Soldaten statt, die eine Demobilisierung fordern. „Die Armee ist keine Sklaverei. Andere sollen nun das Land verteidigen“, ist der häufigste Aufruf.

Ausbildung für ukrainische Soldaten verzögert sich

Anton ist der Ansicht, dass mobilisierte Personen und ihre Angehörigen das Recht haben, die Dauer ihres Dienstes zu erfahren, ebenso wie sie das Recht auf Rotation und Demobilisierung haben. Trotzdem, selbst wenn die Demobilisierung kommt, würde der junge Soldat weiter in seiner Sturmeinheit kämpfen, denn es gibt Personalmangel und hohe Verluste. „In meiner Einheit sollten laut Personalplan 130 Leute sein, jetzt sind es etwa 70, davon würden sechs unter die Demobilisierung fallen“. Für die Durchführung einer Rotation muss eine bestimmte Anzahl von Soldaten ausgebildet werden. Anton zufolge ist der Ausbildungsstand der Mobilisierten in letzter Zeit deutlich gesunken. „Unter den Neuankömmlingen sind oft Männer, die einfach direkt auf der Straße einberufen wurden“, erzählt er.

Trotz Mobilisierungsproblemen führt die ukrainische Armee weiterhin Angriffsoperationen durch. Immer mehr Analysten sehen jedoch Anzeichen für eine allmähliche Verlagerung hin zur strategischen Verteidigung. Darauf deuten auch die jüngsten Äußerungen des ukrainischen Präsidenten hin, der wiederholt auf die Notwendigkeit hinwies, dringend große Verteidigungsanlagen an der Front zu errichten. Dies geschieht in erster Linie, um die derzeit sehr knappen Ressourcen der ukrainischen Armee zu schonen. Gleichzeitig führt die Ukraine immer wieder Angriffe auf Russland durch.

Der Übergang zur strategischen Verteidigung ist ein erzwungener Schritt unter anderem aufgrund der Verzögerung bei der Freigabe des US-amerikanischen Militärhilfepakets. Die ukrainische Armee leidet an der gesamten Frontlinie unter akutem Mangel an Artilleriemunition. „Unsere Einheit spart an jeder Granate“, kommentierte einer der Soldaten die Situation.

Russland ist sich dessen bewusst und versucht mit allen Mitteln, die momentan physisch und moralisch schwache Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, um einen Waffenstillstand zu erreichen, der zur Einfrierung des Konflikts und zu weiteren Gebietsverlusten für die Ukraine führen würde. Gleichzeitig hat Russland an mehreren Frontabschnitten Angriffsoperationen gestartet.

Die ukrainische Armee versucht, den Mangel an Artilleriegranaten teilweise mit Drohnen auszugleichen. Ukrainische Kampfdrohnen kamen erstmals bei der Befreiung der Region Charkiw zum Einsatz. An einigen Frontabschnitten dominieren trotzdem die russischen Drohnen: „Meine Einheit startet drei Drohnen pro Tag, während der Feind mit 60 antwortet“, erzählt Anton. Dem Soldaten zufolge können Drohnen die Artilleriegranaten nicht ersetzen, aber unter den derzeitigen Umständen sind sie eine der effektivsten Alternativen.

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31 Kommentare

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  • Danke für diesen sehr erhellenden Artikel!



    Nachdem wir seit Beginn des Ukrainekriegs in erster Linie mit Durchhalteparolen und der Nation, die " wie ein Mann " hinter dem Präsidenten steht, gefüttert wurden, hören wir hier ganz neue Töne.



    Selensky hat ja mit seiner Flut von Entlassungen in Staat und Militär für viel Wirbel gesorgt, wahrscheinlich aber auch viel Kompetenz und mögliche KritikerInnen freigesetzt.



    Nun zeigt sich ein Kritiker, der scheinbar nicht so leicht zu entfernen ist.



    In diesem Zusammenhang ist auch die Absage Selenskys zu Wahlen näher zu beleuchten.



    Es ist eine Neuigkeit für mich, dass hier eine derart starke Konkurrenz für den jetzigen Präsidenten erwachsen ist.



    Wie " lupenrein" ist also der "Demokrat Selensky"?

    • @Philippo1000:

      "Wie " lupenrein" ist also der "Demokrat Selensky"?"



      Lupenreiner jedenfalls als sein lupenreiner Gegenpart auf der anderen Seite.



      Warum diese implizite Gleichsetzung mit Putin? Der ist diesbezüglich nun wirklich in einer anderen Liga.

  • Wenn Putin sich durchsetzt, dann bricht die Hölle auf Erden los.

    Die Länder der EU müssen die Ukraine endlich vollumfänglich militärisch unterstützen.

    Russland muss aus der Ukraine vertrieben werden, alles andere wird die Welt global in einen dauerhaften Kriegszustand mit unzähligen Kriegen stürzen.

  • Soldaten werden während eines Krieges nur dann demobilisiert, wenn es genügend neues "Menschenmaterial" (ein schreckliches Wort, wenn man drüber nachdenkt, beschreibt es aber am besten) gibt. Das hat die Ukraine aber nicht, folglich wird es auch keine Demobilisierung geben, bestenfalls einen Monat Heimaturlaub für die Soldaten, bevor es wieder an die Front geht.

  • Die Zeit spielt gegen Kiew

    Angesichts des Kriegsverlaufs werde ein Waffenstillstand für die Ukraine immer dringlicher. Doch nur die USA können den Friedensprozess vorantreiben, so der Rußland- und NATO-Experte Prof. Anatol Lieven vom QUINCY INSTITUTE FOR RESPONSIBLE STATECRAFT, Washington, DC.

    Die Stimmen im Westen, die weiterhin einen „absoluten“ ukrainischen Sieg fordern, würden immer verzweifelter, so Lieven. „Wenn die Kämpfe entlang der derzeitigen Frontlinien eingestellt würden, wären immerhin mehr als 80 % der Ukraine völlig unabhängig von Russland und könnten ihr Bestes tun, um in die Europäische Union aufgenommen zu werden.“ Angesichts der ursprünglichen Kriegsziele des Kreml wäre dies keine Niederlage für die Ukraine, sondern ganz im Gegenteil ein Sieg.

    Bei Fortsetzung des Krieges auf unbestimmte Zeit bestünde hingegen „die reale Gefahr, daß der ukrainische Widerstand zusammenbricht“. Ein großer russischer Erfolg, also die Eroberung von noch deutlich mehr ukrainischem Territorium, würde die Regierung Biden vor die Wahl stellen: eine ukrainische Niederlage hinnehmen, eine große Demütigung für USA und NATO, oder mit direkter Intervention drohen und einen Atomkrieg mit Russland riskieren.

    Wenn der Kreml in einer für ihn günstigen Lage an den Verhandlungstisch gebracht werden soll, so wäre dies allerdings nur mit Kompromissen in für Rußland existenziellen Fragen möglich, also „der Neutralität der Ukraine (natürlich einschließlich internationaler Sicherheitsgarantien), gegenseitige Truppenbegrenzungen in Europa, die Aufhebung von Sanktionen und eine Form von umfassender europäischer Sicherheitsarchitektur, um die Gefahr weiterer Kriege in der Zukunft zu verringern.“ (Quelle: IPG, 4.12.2023)

    Sollte so ein Verhandlungsfrieden aussehen, hätte der Westen das allerdings früher haben können - ohne Krieg, Tod und Zerstörungen.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Das Blöde ist, dass so viel Zeit und Menschenleben mit diesen unrealistischen Siegeshoffnungen vertan wurden. Das alles hatte ich doch schon vor fast einem Jahr vorhergesagt. Man hätte immer daran denken müssen, dass man einen Krieg eben auch verlieren kann und dann akzeptieren muss, was der Gegner will. Deswegen muss man den Krieg so schnell wie möglich beenden und alles Weitere diplomatisch verfolgen. Wenn man sich vor oder parallel zu der leidigen Frühjahrsoffensive, als das "Momentum" für die Ukraine noch da war, darauf konzentriert hätte, die Russen an den Verhandlungstisch zu zwingen, statt von der Rückeroberung der "ganzen" Ukraine zu phantasieren und ein Ende des Krieges ohne Rückeroberung kategorisch auszuschließen, wäre (vielleicht) mehr herauszuholen gewesen. Der schlimmste Fehler der Verbündeten war schon damals, die Ukrainer in ihrem Kriegswahn unterstützt und nicht gebremst haben. Jetzt ist es zu spät, weil der Unterstützungswille der befreundeten Länder nach und nach wegbricht und, wenn die USA wie anzunehmen bald aus der Pro-Ukraine-Koalition ausscheiden, sowieso keine Chance mehr besteht, die Russen herauszuwerfen.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Das ist eine zutreffende Darstellung der Lage und Optionen.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Tut mir leid, aber dieser illusorischen, naiven Sicht kann ich absolut nicht zustimmen. Ein Waffenstillstand spielt Russland in die Karten. Daher ist es höhnisch, dass es für die Ukraine ein Sieg ist, wenn sie 20% an wirtschaftlich essentiellen Gebieten an Russland verlieren. Wir haben bereits gesehen, was Frieden bzw. Waffenstillstand mit Russland bedeutet. Bestes Beispiel ist Tschetschenien. Dort ist Russland in den 90ern einmarschiert und gescheitert. Danach hat es aus den Fehlern gelernt, seine Armee teils verbessert und Putin ist dann in den 2000ern Jahren erneut einmarschiert und diesmal mit Erfolg. Tschetschenien gehört heute zu Russland und Tschetschenen müssen für Russland in den Krieg ziehen. Im übrigen droht dem Westen, insbesondere Europa das gleiche, wenn die Ukraine den Krieg verliert. Dann dürfen die Europäer selbst gegen die Ukrainer kämpfen, die von den Russen gezwungen werden, für sie zu kämpfen. Das passiert jetzt bereits mit Ukrainern aus den russisch besetzten Gebieten. Zu guter Letzt bleibt die Frage, wie viel Sicherheitsgarantien die Ukraine noch bekommen kann, für einen Frieden, den Russland faktisch nicht will? Hätten sie Frieden gewollt, hätten sie sich jederzeit aus der Ukraine zurückziehen können (wie Ende der 80er in Afghanistan). 1994 wurde im Budapester Memorandum die Vereinbarung festgehalten, dass die Ukraine alle ihre Atomwaffen an Russland übergibt und im Gegenzug wird der Ukraine ihre Souveränität und Achtung der Grenzen zugesichert. Am Tisch saßen unter anderem Russland und die USA und haben diesen Deal vereinbart. Die Ukraine hatte sich an die Bedingungen gehalten. Russland, wie wir wissen, nicht! 20% der Ukraine ist ein Sieg für Russland. Es zeigt, dass es heute noch möglich ist, anderen Ländern einfach Gebiete mit Gewalt zu entreißen. Das ist ein fatales Zeichen für die gesamte Welt. Die ersten Folgen sehen wir heute bereits (z.B. in Armenien, der aktuelle Aufmarsch Venezuelas an der Grenze zu Guyana etc.).

      • @Michael Lange:

        Zum Glück muss man Ihre Sicht ja auch nicht teilen. Es ist doch wohl völlig illusorisch, dass Russland den Krieg beendet, indem es sich wieder vollkommen aus der Ukraine zurückzieht. Und auch die anderen von Ihnen geschilderten Szenarien finden ja wohl auf ein NATO-Land keine Anwendung.

        • @Anze:

          Russland hatte sich aus Afghanistan, Tschetschenien (in den 90ern) etc. auch zurückgezogen. Es gilt, Russland zu zeigen, dass sich Krieg nicht lohnt. Natürlich wird Russland sich nicht einfach so zurückziehen. Deshalb ist es so wichtig, die Ukraine so gut es geht zu unterstützen, damit sie die russische Armee aus dem Land drängen können. Dafür ist eine Überlegenheit notwendig und die hat der Westen gegenüber Russland ganz klar. Zudem wird die russische Armee auf Dauer auch nicht Putins Spiele mittragen. Wir hatten ja bereits mit Prigoschins Sturm auf Moskau gesehen, dass in Russland innenpolitisch auch nicht alles super läuft. Auf jeden Fall würden wieder mehr Kriege stattfinden, wenn Russland mit Landgewinn davonkommt, auch in Europa. Wenn Russland aus seinen Fehlern lernt, kann es sehr wohl auch NATO-Gebiet angreifen, wie Litauen, Estland oder Lettland. Dort gibt es kaum Schutz. Wenn Russland gestärkt aus dem Ukraine-Krieg hervorgeht und sich entschließt auch andere ehemalige Sowjetgebiete zurückzuholen, glauben Sie doch selbst nicht daran, dass die NATO bzw. die USA einen Atomkrieg nur für das Baltikum riskiert. Die konventionelle Armee der NATO ist an den Flanken im Osten kaum vorhanden. Die wenigen Soldaten würden nicht lange standhalten bei einem Angriff.



          Außerdem sollten Sie mal öfters schauen, wie in Russland, zum Beispiel im Staatsfernsehen, darüber diskutiert wird, auch gegen Deutschland Krieg zu führen. Medwedjew, der russischer Präsident war und nach wie vor in der Regierung ist, träumt von einem Eurasien bis Portugal. Im letzten Jahr hatte ein tschetschenischer General nach der Einnahme von Lyssichansk gesagt "wir marschieren bis Berlin, solange Putin uns nicht aufhält". Auf den Panzern der Russen steht auch oft in weißer Schrift "nach Berlin".

    • @Reinhardt Gutsche:

      Danke für den Hinweis auf die Position Anatol Lievens. Ja, ich fürchte auch, der Ukraine läuft die Zeit davon. Wenn also die Zeit “reif” für Verhandlungen ist - und ich habe immer gesagt, das wird eher in Washington als in Kiew entschieden (und habe dafür auch hier im taz-Forum „Prügel“ bezogen) - wird es für die NATO gut sein, Russland als Ergebnis dieses Krieges militärisch und ökonomisch so geschwächt zu sehen, dass ihm die Lust auf Angriffskriege gegen Nachbarstaaten für möglichst lange Zeit vergangen sein wird. Es ist klar, dass sich der Westen damit nur eine Atempause verschafft, mehr nicht. Aber was wäre die Alternative?



      Und ja, ich fürchte weiter, dass diese Atempause auf Kosten der Ukraine gehen wird - eigentlich verlieren dabei beide Kriegsparteien, auch wenn die Ukraine wahrscheinlich nicht NATO-Mitglied wird und 20% seines Territoriums unwiederbringlich an Russland verliert. Aber auch dann wäre sie überlebensfähig, bei entsprechenden Sicherheitsgarantien.



      Das alles klingt natürlich dermaßen zynisch, dass es kaum auszuhalten ist. Aber wäre denn eine Fortsetzung des Krieges mit noch mehr Toten und Zerstörung bei am Endes des Tages nicht anderem Ergebnis als dem skizzierten eine weniger zynische Vorstellung?

      • @Abdurchdiemitte:

        "bei entsprechenden Sicherheitsgarantien."



        Sicherheitsgarantien? Was soll das sein?



        Russland hat Ukraines Grenzen gegen Abgabe der Atomwaffen seinerzeit garantiert.



        Die NATO hat der Ukraine ausreichende Unterstützung bis zum Erfolg zugesagt (sinngemäß).

        Auf was für Sicherheitsgarantien würden Sie sich da an Stelle der Ukraine guten Gewissens verlassen wollen?

        • @Encantado:

          Also erstens sieht es derzeit nicht danach aus, als ob die NATO der Ukraine ausreichend Unterstützung gewährt (um ihr Territorium erfolgreich zurückgewinnen neu können). Zwischen Zusagen und Auslieferung besteht eine Riesenkluft, wie am Beispiel der Artilleriemunition gut verdeutlicht werden kann. Und in einem Abnutzungskrieg ist Artillerie nun mal ein entscheidender Faktor. Die vereinbarte Kooperation der Ukraine mit US-amerikanischen Rüstungskonzernen wird erst in einigen Jahren greifen. Dann kann es schon zu spät sein.



          Und technologische Überlegenheit bei verschiedenen Waffengattungen und Kriegsgerät kann dann nicht zum Tragen kommen, wenn die Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte damit nur mangelhaft ist oder von westlichen Staaten verschleppt wird. Ich sehe nicht, dass augenblicklich mehr Druck auf die Regierungen aufgebaut wird, daran etwas zu ändern und auch von den eifrigeren Unterstützern der Ukraine ist derzeit wenig zu hören.



          Zweitens Sicherheitsgarantien: ohne Zweifel wäre eine NATO-Mitgliedschaft die beste Sicherheitsgarantie, die die Ukraine bekommen könnte. Aber sehen Sie Anzeichen dafür, dass die NATO selbst das ernsthaft anstrebt, über Lippenbekenntnisse hinausgehend?



          Freilich verfolgt man dort den eigenen Vorteil: die Ukraine so lange kämpfen zu lassen, bis Russland wirtschaftlich und militärisch so weit ausgeblutet ist, um dem Westen für lange Zeit nicht mehr gefährlich werden zu können. Anders kann ich die Hinhaltepolitik bei den Waffenlieferungen schon gar nicht mehr deuten. Oder haben Sie andere Erklärungen?

    • @Reinhardt Gutsche:

      Quatsch. Putin will die ganze Ukraine und noch mehr.

      • @schnarchnase:

        Putin will überleben, wie alle Diktatoren

    • @Reinhardt Gutsche:

      1. Ja und nein -- die Frage ist ja auch immer, ob die Gegenseite sich auf solche Verhandlungen einlassen will. Und zu welchem Zeitpunkt. Sicherlich waren die Russen bis dato dazu nicht wirklich bereit.



      2. Und da sind wir schon beim nächsten Problem -- warum sollten die Russen gerade jetzt verhandlungsbereit sein. Wir erleben gerade eine verdächtig synchrone Blockade in Europa und in den USA, uns gehen langsam die Ressourcen für diesen Krieg aus -- auch weil wir im Gegensatz zu Russland diesem Krieg eben nicht alles unterordnen wollen.

      • @Libuzzi:

        Von alles unterordnen kann ja wohl kaum die Rede sein. Der weste hätte Kapazitäten Russland an konventionell an die Wand zu spielen. Wir wollen aber nicht wahrhaben bzw viel zu naiv. Viele Europäer scheinen zu glauben der Krieg sei weit weg und ginge uns im Grunde nichts an. Auch erkennt niemand die Gefahr einer NATO ohne die USA unter Trump. Gustav gressel geht davon aus dass es einen großen Krieg in Europa in den 2030er Jahren geben wird wenn Russland in der Ukraine gewinnt.

  • "Russland ist sich dessen bewusst und versucht mit allen Mitteln, die momentan physisch und moralisch schwache Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, um einen Waffenstillstand zu erreichen"



    Wo hat die Autorin das denn her? Russland hat zZ noch weniger Lust auf Verhandlungen (außer natürlich über die komplette Kapitulation) als eh schon, vor allem auch gar keinen Grund. Unter gigantischen Menschenopfern walzen sie sich gerade Meter für Meter voran, Krieg als Dauerzustand scheint sich zum neuen putinistisches Gesellschaftsmodell zu entwickeln, bisher sogar ziemlich lukrativ.

    • @dites-mois:

      Russland ist nicht verhandlungsbereit, weil es die Ukraine auch nicht ist. Erklärtes Ziel der Ukraine bleibt ja die Befreiung seines gesamten Territoriums inklusive der Krim. Dass Putin ursprünglich noch ganz anders Kriegsziele in der Ukraine verfolgt hat - nämlich die komplette Einverleibung des ukrainischen Territoriums in sein Imperium - müssen Sie mir nicht erzählen. Damit ist er ja nun krachend gescheitert, die Geschichte dieses Feldzuges ist eine einzige nationale Demütigung für Russland. Das pfeifen die Spatzen selbst von den Kreml-Dächern.



      Und die Ukrainer können zurecht stolz darauf sein, schon in den ersten Wochen Putins Pläne zunichte gemacht zu haben - und zwar ganz alleine, bevor die westliche Hilfe überhaupt ins Rollen kam.



      Für Russland geht es in diesem Winter um Awdikija (als Prestigeprojekt) und vielleicht noch einige Frontbegradigungen aus Vorstößen der ukrainischen Armee im Sommer und Herbst - mehr ist wahrscheinlich nicht drin (was territoriale Gewinne betrifft) und es ist durchaus die Frage, ob es noch jemals mehr sein wird.



      Ob beide Seiten im nächsten Jahr militärisch wieder so auf die Beine kommen, um auf den Schlachtfeldern das Blatt zu wenden, erscheint also mehr als fraglich. Und dann läuft die Zeit mindestens der Ukraine davon.

    • @dites-mois:

      So ist es -- Putins Buddys verdienen sich weiterhin eine goldene Nase, ihre Ehefrauen, Geliebten und Kinder verprassen das Geld weiterhin im dekadenten Westen, während die Popen den Endkampf mit ihm predigen. Eine Opposition gibt es nicht mehr, und das wird auch so bleiben, solange für Russlands Sieg die Söhne und Männer aus den Unterschichten und den ethnischen Minderheiten verrecken.

    • @dites-mois:

      Mit allen Mitteln ist etwas übertrieben, aber im Endeffekt habt ihr Beide Recht. Russland unterbindet den NATO-Beitritt der Ukraine auf die ein oder andere Weise. Krieg, oder Aufgabe dieses Ansinnens seitens Ukraine/Westen und damit der eigenen staatlichen Souveränität. Ob die jetzige dabei "lukrativer" ist, wage ich zu bezweifeln, aber das haben sie dann nicht exklusiv. Und Stand jetzt ja auch gar keine andere Wahl. Man wird Russland nicht von seinen Zielen "abwünschen". Man kann sie leugnen, wie bisher. Oder sich ihnen stellen. Das sähe so aus, dass man sich entweder würde festlegen müssen, demonstrativ, ultimativ, garantiert formal: Ukraine wird NATO-Mitglied, bestenfalls mit Stichtag, noch besser unabhängig von der Situation am Boden. Damit fiele dieser Kriegsgrund für Russland zunächst flach, Reaktion ungewiss.

      Oder aber, wenn dem Westen die Kartoffel dann eben doch zu heiss ist (und Mio. Ukrainer über Jahrzehnte betrogen wurden..), respektive geworden sein sollte, dieses sowohl Moskau als auch dann doch einmal auch tatsächlich Kyiw zu vermitteln und zwar glasklar und am besten genauso förmlich. Aus russ. Sicht würde das einen wenn nicht den Kriegsgrund genauso erübrigen, mit der bitteren, zynischen Möglichkeit dass man Kyiw dann sogar etwas entgegenkommen könnte, wo es um Territorium geht (etwa Teilung von Oblasten). Ganz einfach weil ja dann klar ist und kaum zu verhindern, dass eine von Westen fallengelassene Ukraine absehbar eh wieder ein Satellit Moskaus würde, das heisst sie könnten diese Pläne dann eben auch anders, eleganter finalisieren. So wie's jetzt ist, das muss man einfach ehrlich sagen, scheitert das am sog. Westen und, dem fehlenden Mut aber ich glaube noch mehr seinem verbliebenen, längst komplett vermessenen Stolz, der wohl nicht erst seit dem Debakel Afghanistan schwer angeschlagen ist. So steckt er quasi in ner Schockstarre und produziert damit nur mehr Tote, für nichts. Sollte es erst einen Trump brauchen, das zu durchbrechen? Au-wei.

    • @Cantor:

      Ja, schnarch, solche Meldungen in der Berliner Zeitung begeistern ihre Lesers, die Meldung wurde hier schon dutzendmal verlinkt. Ist aber Quatsch, was Dawyd Arachamija da sagt (nennen wir es milde: Fehleinschätzung) - alle Fakten dazu bekannt, das russische Handeln komplett konträr dazu, der Drops ist längst gelutscht.

      • @dites-mois:

        Warum Fehleinschätzung? So ziemlich diesselbe Aussage hatte auch der israelische Ex-Regierungschef Bennett gemacht.

        • @zio pipo:

          Weil für Russland Verhandlungen und ein Waffenstillstand vor allem zu dem Zeitpunkt nur ein Mittel sind sich auf den nächsten Angriff vorzubereiten. Wie kann man denn immer noch so blind, taub und naiv sein! Putin hat ganz klar gesagt was seine Kriegsziele in der Ukraine und darüber hinaus sind. Wie schon bei Krim, Donbass, Minsk etc. wird der Konflikt nur eingefroren, am köcheln gehalten und halt immer weiter auf den nächsten Krieg vorbereitet. Es geht in Russland immer nur um Aufrüstung und den Kampf mit äußeren Feinden.

  • „Russland ist sich dessen bewusst und versucht mit allen Mitteln, die […] Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, um einen Waffenstillstand zu erreichen, […].“

    Seit wann ist Russland denn bereit zu verhandeln? Das bisherige westliche Narrativ war es doch, Russland will nicht verhandeln! Was ist passiert?

    • @Hannah Remark:

      Schon praktisch, so'n "Narrativ", um Fakten aus dem Wege zu gehen. Klar war Russland - sogar jederzeit! - verhandlungsbereit. Unter der Bedingung, dass die Ukraine verschwindet und alle, die das nicht gut finden, sterben müssen. Weil sie ja Nazis sind

    • @Hannah Remark:

      Was wollen Sie hier bitte schön implizieren? Ist es so schwer zu verstehen, dass sich Situationen ändern können?

      Außerdem sind die Behauptung verhandlungsbereit zu sein und es tatsächlich zu sein zwei unterschiedliche Dinge. Wenn Sie mit einer für die Ukraine nicht hinnehmbaren Maximalforderung ankommen, von dieser nicht abrücken, können Sie noch so sehr behaupten verhandlungsbereit zu sein. Sie sind es schlussendlich nicht.

      Und letztendlich liegt es an der Ukraine und nicht am "Westen", ob sie Verhandlungen zustimmen. Wenn man die Souveränität der Ukraine wirklich anerkennen würde, würde man nicht ständig irgendwelche dummen Forderungen stellen. Es ist nämlich ganz schön arrogant von anderen zu fordern, wozu man selbst nicht bereit wäre, wenn es das eigene Land betreffen würde.

    • @Hannah Remark:

      Ja, das Narrativ war das schon.

    • @Hannah Remark:

      Ich denke eher: Die Russen wollten im März 2022 noch verhandeln. Jetzt haben sie einen hohen Preis gezahlt und wollen dafür auch etwas "nach Hause bringen" (ist leider die Logik von Kriegen, Kriegsziele explodieren mit den Verlusten, siehe 1. Weltkrieg).



      Ich denke eher, sie wollen die Ukraine so lange ausbluten, bis sie kapituliert.

      • @Kartöfellchen:

        Viel unsäglicher ist es, dass der Westen das weiß und die Ukraine solange ebenso ausbluten lässt, bis sie Gebiete an Russland abtritt.