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Längste Haftstrafe in Deutschland beendetNach 53 Jahren aus Haft entlassen

Wegen eines Doppelmords saß Klaus Bräunig über 50 Jahre im Gefängnis. Nun ist er frei, will den Prozess neu aufrollen und für einen Freispruch kämpfen.

Klaus Bräuning wird nach 53 Jahren aus der JVA Diez entlassen Foto: Olaf Döring/imago

Mainz taz | Anfang September fiel die Entscheidung des Landgerichts Koblenz, jetzt ist sie rechtskräftig: Der wegen eines Doppelmordes verurteilte Klaus Bräunig ist ein freier Mann. Der 79-jährige sitzt seit mehr als 53 Jahren im Gefängnis, im rheinland-pfälzischen Diez hat er eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt. Die Strafe wurde nun zur Bewährung ausgesetzt.

Klaus Bräunig wurde 1970 in Mainz als Spanner verhaftet, er stand unter Verdacht eine Kinderärztin und ihre Tochter ermordet zu haben. Nach tagelangen Verhören ohne anwaltlichen Beistand gestand der Hilfsarbeiter dreimal, die Morde begangen zu haben. Die Geständnisse widerrief er, er begründete sie damit, dass er dem Druck der Polizei nicht habe standhalten können. Spuren am Tatort ließen sich nicht finden, die Tatwaffe blieb verschwunden, es gab keine Zeugen, keine Beweise.

Dennoch verurteilte ihn das Landgericht Mainz im Juli 1972 in einem umstrittenen Indizienprozess zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Bis heute beharrt Bräunig darauf, den Doppelmord an Mutter und Tochter nicht begangen zu haben. Seit den siebziger Jahren bemühen sich Anwälte vergeblich um eine Wiederaufnahme in diesem Fall. Auch sämtliche Versuche, wenigstens eine vorzeitige Entlassung zu erreichen, scheiterten. Die Koblenzer Richter sahen eine Rückfallgefahr, weil Klaus Bräunig nicht bereit war, sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen, sondern diese konsequent leugnete.

Gutachten: Keine Gefahr von Bräunig

2019 und 2021 legte Bräunigs Rechtsanwältin, die Münchner Strafverteidigerin Carolin Arnemann, gegen die lange Haftzeit Verfassungsbeschwerden ein. Im März 2023 entschied schließlich das Bundesverfassungsgericht: Es folgte der Argumentation der Anwältin, dass nach so langer Haft auch das Alter bei der Beurteilung des Inhaftierten berücksichtigt werden müsse und hob die Entscheidungen des Landgerichts Koblenz auf. Das musste sich nun erneut mit der Frage beschäftigen, ob Klaus Bräunig zur Bewährung entlassen werden kann. Dafür wurde eine psychiatrische Begutachtung des 79-jährigen beauftragt. Die verlief für Bräunig positiv: Der Gutachter konnte keinerlei Anhaltspunkte dafür erkennen, dass von Bräunig eine Gefahr ausgehen könnte.

Klaus Bräunig will nun weiter für einen Freispruch kämpfen. Sein Antrag, den Mordprozess neu aufzurollen, liegt den Justizbehörden in Rheinland-Pfalz seit fünf Monaten vor. Die Hürden für Wiederaufnahmen sind hoch, doch Bräunigs Anwältin ist optimistisch. Sie sieht Chancen, dass es tatsächlich zu einer neuen Verhandlung kommen könnte: „Dem Gericht liegen jetzt neue Erkenntnisse vor, es gibt Hinweise, die Zweifel an der Täterschaft von Klaus Bräunig begründen.“

Ihr Antrag werde derzeit durch das Landgericht Bad Kreuznach geprüft. In diesem Zusammenhang würden auch Ermittlungen geführt, des weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Mainz in einem anderen Mordfall abgewartet. Die ARD strahlte im Juni eine Doku zu den neuen Hinweisen aus. Sollte es tatsächlich zu einer Wiederaufnahme und womöglich zu einem Freispruch von Klaus Bräunig kommen, wäre das, so die Anwältin, einer der größten Justizskandale Deutschlands: „Mir ist kein Fall in Deutschland bekannt, wo ein Mensch 53 Jahre unschuldig im Gefängnis verbracht hat.“

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24 Kommentare

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  • In diesem Fall gibt es ganz klar ein Problem bei mindestens 2 Generationen von Juristen, die mit dem Fall befasst waren.



    Wenn sie sich so sicher waren, dass er der Täter war: was hatten sie bei einer Wieder-Aufnahme zu befürchten? Es gibt eine Vielzahl von neuen Ermittlungs- und Beweistechniken (DNA....) die 1970 nicht zur Verfügung standen. (Dazu dürfte man natürlich die Asservate nicht wegschmeißen ;-))



    Diese juristische Bockigkeit ist offensichtlich nicht (nur) ein individuelles Problem, sondern ein strukturelles, das Generationen überdauert.



    Es gibt sie noch, die berühmten deutschen furchtbaren Juristen...

  • Ich war mal bei einem Freispruch Zuhörer, wo die zwei Geschworenen gegen den Richter gestimmt hatten. Jeglicher Logik nach war der Freispruch auch gerechtfertigt. Es war bereits die zweite Instanz. Der Richter war sichtlich sauer, dass er überstimmt wurde und sagte bei seiner sehr kurzen Urteilsbegündung abschließend, dass nun auch die Staatskasse die gesamten Prozesskosten tragen müsse. Es war ihm deutlich anzumerken, dass im das gegen den Strich ging. Jetzt überlege man sich, was eine Haftentschädigung für viele Jahre kostet. Ich könnte mir da Zusammenhänge zur Unwilligkeit der Justiz, Verfahren neu aufzurollen, vorstellen. Der Rechtsstaat besteht eben einmal auf Papier und einmal in der Praxis.

    • @Uwe Beyer:

      Wo war denn die 2. Instanz. Mindestens beim Landgericht. Und dort gibt es in Strafsachen 3 Richter und 2 Schöffen. Nur bei Zivilprozeßen gibt es dort Einzelrichter, aber keine Geschworenen.

      • @Martin Sauer:

        Bitte etwas besser recherchieren, bevor Leute zu Unrecht "korrigiert" werden. Die kleinen Strafkammern beim Landgericht (Berufungen gegen Strafrichtersachen vom AG) sind mit einem Berufsrichter und zwei Schöffen besetzt.

  • Warum eine solch lange Haftzeit entstanden ist, ist schwerlich nachvollziehbar, zweifache lebenslange Haftstrafe ist im deutschen Strafrecht nicht möglich. Die erwünschte Beschäftigung mit der Tat ist natürlich nicht zu erbringen, wenn der Verurteilte wirklich nicht der Täter ist.



    Was die Wiederaufnahme angeht, sind hier sehr hohe Hürden gesetzt, zumal wenn ein Geständnis vorliegt. Begründet werden diese hohen Hürden mit dem Rechtsfrieden.



    Ein Geständnis zu erzielen ist das Hauptziel der Ermittlungsbehörden, da hier mit einer nahezu sicheren Verurteilung zu rechnen ist. Da werden natürlich auch unzulässige Methoden genutzt um zu einem Geständnis zu kommen.

    • @Ijon Tichy:

      Als der Prozess im Jahr 1970 stattfand, gabe es noch die Möglichkeit, mehrere lebenslange Haftsstrafen zu verhängen. Das Gesetz wurde erst 1986 dahingehend geändert, dass auch bei mehreren jeweils mit lebenslanger Haft bedrohnten Straftaten eine Gesamtfreiheitsstrafe on maximal lebenslanger Haft gebildet wird. Früher ergangene Urteile haben jedoch ihre Wirkung im Urteilstenor behalten und werden seither analog einem Urteil lebenslang mit besonderer Schwere der Schuld behandelt.

  • In Deutschland passieren Tag täglich gewaltige Justizskandale. Oft fließt jede Menge Vitamin B oder die Richter/in sind einem bestimmten Anwalt hörig... Das Amtsgericht Oschatz ist hier das beste Beispiel! Leider fehlt es auch an fähigen Anwälten welche sich gegen diesen Justizwahnsinn stellen. Eine Krähe hackt bekanntlich der anderen kein Auge aus.

    • @Enrico Böhm:

      Das Justizirrtümer bis hin zu Fehlurteilen zu häufig in Deutschland vorkommen, da bin ich bei ihnen. Der Rest ist mir dann doch etwas zu verschwörungstheoretisch.

  • Was meint denn wohl unser Hausjurist, Herr Lowando dazu? Ich weiß, du machst kein Strafrecht, machtest...



    Aber ne Meinung kannste doch haben, oder?

  • Es ist schwierig nachvollziehbar, dass eine jahrzehntelange Leugnung der Tat nach einem offenbar Indizienprozess ausreichte, um seine weiter vorhandene Gefährlichkeit über Jahrzehnte festzustellen. Das Ganze wirft sehr viele Fragen auf, die in einem Artikel schwerlich zu beantworten sind, so denke ich. Ich drücke die Daumen.

  • Sehr schwierig. Es gilt immer noch, wer gesteht, ist verloren. Wenn jemand ohne Folter gesteht, ist ihm nicht zu helfen, es sei denn, die Persönlichkeit ist erkennbar labil. Hier offenbar keine sonstigen Beweise außer dem Geständnis.

    • @Ante:

      Ich hatte eigentlich angenommen, dass es übliche Praxis wäre Geständnisse auch danach zu bewerten ob sie einfach nur erklären 'ich wars' oder äterwissen offenlegen, dass sie nicht haben könnten ohne wirklich an der Tat beteiligt gewesen zu sein.

      • @Ingo Bernable:

        Ihre Annahme ist aus rechtlicher Sicht durchaus zutreffend, denn auch ein Geständnis ist im Strafprozess nur ein Indiz, das nicht automatisch zur Verurteilung führen darf. Das Gericht ist im Strafprozess an ein Geständnis nicht gebunden; vielmehr ist auch bei einem Geständnis eine Beweiswürdigung durchzuführen und zu bewerten, ob das Geständnis glaubhaft ist, wobei das Offenbaren von Täterwissen eine wichtige Rolle spielt. Wie sorgfältig das Geständnis im vorliegenden Fall geprüft wurde, ist eine andere Frage. Aus dem Artikel geht leider nicht hervor, ob Bräunig bei seinen Geständnissen Täterwissen offenbart hatte oder ob er einfach nur gesagt hatte, dass er der Täter sei.

  • Als Laie: Natürlich gibt es Justizirrtum. Die Richter und alle Beteiligten sind Menschen. Aber 53 Jahre - oh je. Keine der folgenden Richter-Generationen (schätze mal es sind mind. zwei) konnte sich für ein Wiederaufnahmeverfahren bzw. Begrenzung auf 2 x lebenslänglich, was ja immer noch 30 Standart-Lebenslänglich-Jahre wären, bewegen lassen.



    Ich denke da an zwei Krähen.



    Oder Standes-Dünkel?

    • @LeKikerikrit:

      Die Geiselnehmer und Mörder von Gladbeck haben jeweils "ein Mal lebenslänglich" erhalten. Einer kam nach 30 Jahren frei und der andere ist nach 32 Jahren immer noch Strafgefangener.

    • @LeKikerikrit:

      Lebenslänglich bedeutet nicht, dass man nach 15 Jahren entlassen wird. Wenn man lebenslänglich bekommt, hat man in der Regel lediglich nach 15 Jahren die Möglichkeit auf eine Prüfung, eine sogenannte Sozialprognose. Ist sie positiv wird derjenige entlassen, ist sie negativ erfolgt eine neue Prüfung nach ca. 1-2 Jahren. So setzt sich das dann immer fort. In der Regel werden die Leute meines Wissens aber auch erst frühestens nach ca. 17 Jahren entlassen.

      • @LP92:

        Trotzdem: den befassten Juristen muss klar gewesen sein, dass das Urteil aus 1970 heutigen Ansprüchen kaum genügen kann: es gab wohl nichts anderes als die unter Druck zustande gekommenen Geständnisse, kombiniert mit dem unbedingten Willen, einen Schuldigen zu verurteilen. Offenbar auch aus Mangel an alternativen Verdächtigen.



        Auf diesen Geständnissen und schwacher Beweislage ein halbes Jahrhundert lang eine "Auseinandersetzung mit der Tat" zu fordern und die Haft fortzusetzen ist abenteuerliche juristische Arroganz - und dass von verschiedenen Juristen über Jahrzehnte. Es ist nachvollziehbar, dass Bräunig das nicht leisten wollte, weil er davon ausgehen musste, dass dies ein weiteres mal gegen ihn und als Geständnis verwendet werden würde.



        Und ganz am Rande: Es könnte ein Doppelmörder 53 Jahre lang - und das heißt vielleicht : bis zu seinem eigenen Tod- auf freiem Fuß und ungestraft geblieben sein....

      • @LP92:

        Im Durchschitt werden Lenbensläönglich nach ca. 17 Jahren entlassen.

      • @LP92:

        Wie oben gesagt, ich bin allein auf Hoher See. Und ich möchte nicht in der Lage von Angehörigen sein, deren Angehörige Opfer von niederträchtiger Gewalt wurden.



        Trotzdem: es muss ein Ende von Strafe geben.

        • @LeKikerikrit:

          In der Regel bleiben Strafgefangene nicht unendlich in Haft. Aber Zb. ein Mörder der nicht einsichtig ist, in der Haft gewalttätig gegen Mitarbeiter oder Gefangene ist bleibt ggf. bis zu seinem Lebensende in Haft.

          Ich kenne nur einen Fall wo in Siegburg ein Gefangener nach 43 Jahren in Haft an einem Herzinfakt verstorben ist.

  • Die Wiedereinsetzungsgründe sind sehr eng gefasst, damit nicht jedes Verfahren ständig von vorne los geht, bis das Ergebnis gefällt.

    Welches neue Beweismittel ist denn aufgetaucht (oder was meint die Anwältin mit neuen Erkenntnissen). Dass man ihn jetzt nicht mehr für gefährich hält, sagt ja wohl wenig aus und ob es nach 52 Jahren noch Zeugen gibt?

    • @Dr. McSchreck:

      „oder was meint die Anwältin mit neuen Erkenntnissen„



      1) Zum einen hat sie ein aussagepsychologisches Gutachten anfertigen lassen. Herr K. hat nicht ein, sondern hintereinander drei Geständnisse (mit widersprüchlichen und falschen Details) abgelegt und danach widerrufen. Ein solches Gutachten wurde damals nicht erstellt, weil es so was in der Form noch gar nicht gab, und ist insofern ein neues Beweismittel. Außer den widersprüchlichen Selbstbezichtigungen gab es damals keine Beweise.



      2) Die Anwältin hat einen möglichen Zusammenhang mit zwei weiteren Tötungsdelikten herausgefunden. Bei einem bis heute ungeklärten Doppelmord 1984 wurden ein Schulfreund der 1970 getöteten jungen Frau zusammen mit seiner Mutter im gemeinsamen Haus erschossen. Und 2003 erschoss ein Mann, der ebenfalls 1970 zu dieser Clique gehörte (und damals im Haus der später Ermordeten ein- und ausging), seine Frau und danach sich selbst. In seinem Besitz fand sich eine Pistole von dem Typ, wie sie bei dem Mord 1984 verwendet wurde, und: Genau so eine Pistole wurde in der Mordnacht 1970 aus einem Schreibtisch entwendet ( es war das Einzige im Haus, was gestohlen wurde). Der Freundeskreis der Tochter wurde 1970 auch überprüft, so auch diese Person, aber wohl nur oberflächlich, das waren ja alles Teenager. Als mögliches Motiv dieser Person wird Rache wegen Zurückweisung genannt (Die Zurückweisung ist belegt durch Zeugenaussagen von damals und Tagebucheinträge des ermordeten Mädchens). Die Anwältin hat diesen Verdacht der Staatsanwaltschaft gemeldet, die (schon allein wegen des unaufgeklärten Mordes von 1984) nun ermitteln muss.



      Auch wenn diese (ziemlich wild klingende) Geschichte sich nicht erhärtet, ist Herr K. IMO ein Justizopfer. Die Ermittler haben es sich einfach gemacht und einen lernbehinderten Hilfsarbeiter weichgekocht, um einen Täter zu haben.



      Quelle: ARD Crime, vier Folgen, sehenswert.

    • @Dr. McSchreck:

      Neue Sachbeweismöglichkeiten durch DNA-Spuren?

    • @Dr. McSchreck:

      Dass man ihn nicht mehr für gefährlich hälst sagt sogar eine ganze Menge aus. Die Anwältin wird schon wissen was sie tut und welche neuen Erkenntnise vorliegen. Diese kann man außerdem in der Doku welche im Text erwähnt wird ja Informationen zu den neuen Erkenntnissen erfahren.

      Es ist richtig und wichtig dass dies aufgeklärt wird, dafür braucht es auch nicht zwingend neue Zeugen. Die Begründung des Gerichtes, er sei nur deswegen weiter in Haft zu belassen weil er sich nicht mit der Tat auseinandersetzen wollte ist hier der eigentliche Skandal. Warum sollte er sich mit einer Tat auseinandersetzen wenn er sie nicht begangen hat?!



      Ihr Kommentar hingegen ist sehr unreflektiert und extrem zu kurz gedacht.