Forscherin über Klimaschutz im Bausektor: „Fehler der Gegenwart korrigieren“

Lamia Messari-Becker ist Expertin für nachhaltiges Bauen. Sie erklärt, worauf es dabei ankommt und wie sich das mit bezahlbarem Wohnen vereinen lässt.

Die Bauingenieurin Lamia Messari-Becker im Porträt

Lamia Messari-Becker hat die Bundesregierung zum Thema umweltschonendes Bauen beraten Foto: Felix Schmitt

wochentaz: Frau Messari-Becker, wenn Sie ein Gebäude der Zukunft planen würden, wie sähe das aus?

Lamia Messari-Becker: Technisch betrachtet müsste es mehrere Elemente vereinen: möglichst keinen Abfall und keinen CO2-Ausstoß in der Herstellung oder im Betrieb verursachen und möglichst energieautark sein – nicht unbedingt für sich, sondern eingebettet im Quartier. Eine Ansammlung nachhaltig geplanter Gebäude macht noch kein nachhaltiges Stadtquartier aus.

Darf es auch schön sein?

Absolut. Das sollte es sein. Menschen identifizieren sich mit ihrem Gebäude und ihrem Quartier, wenn diese nachhaltig und schön sind. Bauen stiftet Identität. Sozial nachhaltig ist ein Gebäude auch, wenn es gerne und lange genutzt wird, etwa indem flexible Grundrisse Umnutzungen erlauben.

Der Bausektor steht weltweit für 30 Prozent der gesamten CO2-Emissionen, für 40 Prozent Energieverbrauch, für 50 Prozent Ressourcenverbrauch, für 60 Prozent Ab­fall­aufkommen und für 70 Prozent Flächenversiegelung. Das sind niederschmetternde Zahlen.

Und ich ergänze: Der Bausektor liefert 100 Prozent unseres sozialen Lebensraums. Keine andere Branche greift so stark in Ihren und meinen sozialen Lebensraum. Es gibt daher keine Transformation ohne Bausektor, ohne Architektur, ohne Baukultur.

Wo setzen Sie an?

Ganzheitlichkeit ist die Antwort. Rohstoffe sind knapp und endlich, wir müssen sie so sparsam wie möglich einsetzen und im Kreislauf halten. Also Bauprodukte so konzipieren, dass man sie wiederverwenden kann. Im Moment bauen wir Rohstoffe ab und hinterlassen der Natur eher Abfall. Abfall sollte es nicht mehr geben, Abfall ist eine Ressource. Wir müssen die Verfahren so durchdenken, dass eine ressourcenbewusste Kreislaufwirtschaft im Bau etabliert wird. Das ist keine einfache Aufgabe.

Das ist eine Revolution.

Es ist ein Bauen, das die Fehler der Gegenwart korrigieren kann. Wir denken: Indem wir immer mehr dämmen, immer mehr Technik einbauen, bauen wir nachhaltiger. Das verbessert vielleicht den Betrieb der Gebäude, siehe energieeffiziente Neubauten. Aber nimmt man den Lebenszyklusgedanken ernst, wird klar, dass man die Umwelteffekte nur verschiebt: vom Betrieb in die Herstellung der Gebäude.

Jahrgang 1973, ist Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik in Siegen. Sie ist Mitglied im Club of Rome und saß bis 2020 im Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen.

Weil sie in der Herstellung viele Materialien verbrauchen?

Eben. Alles, was Sie einbauen, um im Betrieb effizient zu sein, kostet mehr Material, mehr Technik und damit wieder mehr Rohstoffe. Und deshalb dürfen wir uns nicht länger nur auf die Heizung im Betrieb konzentrieren, sondern müssen auch die Herstellungsphase bedenken. Stichwort: CO2-Footprint und graue Energie – in diesen Zeiten eigentlich goldene Energie. Ein Ressourcenausweis setzt hier an. Er erfasst die Aufwände im Zyklus eines Gebäudes.

Bauwirtschaft ist Privatwirtschaft. Rohstoffe werden teurer, es gibt Material- und Personalengpässe. Es geht um Geld. Daneben gibt es unzählige staatliche Vorgaben. In jedem Bundesland, jeder Kommune gilt etwas anderes. Beide Bereiche bewegen sich starr, schwerfällig nebeneinanderher. Wie bekomme ich mehr Synergieeffekte?

Die Immobilienbranche ist immobil, im wahrsten Sinne des Wortes. Ein mächtiger, aber langsamer Dampfer. Wir brauchen mehr als einen Schlepper, um die Richtung zu verändern.

Könnte die öffentliche Hand eine solche Rolle spielen?

Ja. Der Bausektor ist mit über 620 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung in einem Jahr, öffentliche Investitionen nicht eingerechnet, stärker als die Autoindustrie. Die öffentliche Hand ist bei Infrastruktur, Schul- und Wohnungsbau sehr einflussreich. Hier muss die Vergabe nach Nachhaltigkeitskriterien erfolgen. Müssen Kommunen Aufträge an den billigsten Anbieter vergeben? Das ist nicht mehr zeitgemäß.

Der Autor Daniel Fuhrhop fordert, man dürfe überhaupt nicht mehr bauen. Abriss sei zu teuer, verbrauche zu viel graue Energie. Wir müssten umbauen, verdichten, aufstocken. Stimmen Sie zu?

Den Bestand zukunftsfest zu machen ist architektonisch wie bautechnisch spannend und spart uns die in den Gebäuden gebundene graue Energie. Wir brauchen nicht nur ein Baurecht, sondern auch ein Umbaurecht. Und eine Umbaukultur, die Wiederverwenden genauso wertschätzt wie das, was völlig neu ist. Dennoch haben Umbau und Nachverdichtung Grenzen, etwa mit Blick auf Freiraum und Stadtklima. Ich sage grundsätzlich: Innen- vor Außenentwicklung – und Leerstand ist Leergut.

Wie meinen Sie das?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die Zukunft liegt im Bestand, die Priorität bei der Innenentwicklung, Umnutzung, Nachverdichtung. Natürlich wird man, wenn es nicht reicht, auch neu bauen. Ein Beispiel: Wären Stahl und Beton ein Land, stünden sie als CO2-Emittenten an dritter Stelle. Und trotzdem brauche ich für eine Windkraftanlage fast 2.000 Tonnen Stahlbeton für das Fundament. Klar muss die CO2-Bilanz solcher Baustoffe besser werden, aber wir brauchen sie weiter, gerade für die Transformation. Damit sind wir beim zweiten Schlepper: Forschung und Innovation. Es gibt vielversprechende Ideen, den Materialeinsatz auch beim Neubau zu minimieren und kreislauffähig zu bauen, selbst beim Beton.

Will man Roh- und Baustoffe wiederverwerten, dürfen keine Schadstoffe enthalten sein oder Kleber. Beim Holzbau ist das teilweise der Fall. Wie gelingt Recycling schadstofffrei?

Man muss recyclinggerecht konstruieren, Bauschichten reversibel verbinden, um sie später sortenrein trennen zu können. Also lieber verschrauben als verkleben. Der Grundsatz ist: Reversibilität im Bau sichert die Rohstoffe der Zukunft.

Heißt nachhaltig bauen mehr mit Naturmaterialien bauen?

Nicht ausschließlich. Jedes Material hat Vor- und Nachteile. Lehm speichert Hitze und Feuchte und kann je nach Belastung auch die Tragfunktion übernehmen. Holz ist ein wunderbares Material, und wir sollten mehr damit bauen, etwa bei Aufstockungen. Seine Vorteile liegen in der guten Ökobilanz, der Dämmwirkung und dem Naturbezug. Aber um Bauholz nachhaltig zu nutzen, muss ein Baum auch 50 Jahre wachsen dürfen. Sonst wird das Kreislaufgleichgewicht gestört; die CO2-Bilanz ist hin. Und Holzhäuser bedürfen oft einer Kühlenergie, das kennen wir von Dachgeschossen. Man muss abwägen.

Es gleicht sich am Ende aus?

Wenn man Pech hat, ja. Um ein Grad zu kühlen ist bis zu vierfach energieaufwendiger, als um ein Grad zu erwärmen. Auch Stahlbeton hat nicht nur Nachteile wie die CO2-intensive Produktion, die besser werden muss. Sondern auch Vorteile, etwa seine thermische Speicherfähigkeit, hohe Belastbarkeit und Dauerhaftigkeit. Wir werden also Staudämme aus Stahlbeton bauen und weit gespannte Brücken kaum komplett in Holz ausführen.

Die Bundesregierung will 400.000 neue Wohnungen pro Jahr bauen lassen. Wie erreicht man das, wenn man zugleich Ressourcen schonen will?

Man sollte am Ziel festhalten, Wohnraum so zu schaffen, dass jeder nicht nur eine Wohnung finden, sondern auch bezahlen kann. Aber es ist nicht gesagt, dass die Wohnungen alle im Neubau entstehen.

Also den Bestand und den Leerstand aktivieren. Reicht das?

Eine Option wäre, kommunale brachliegende Flächen zu nutzen, deren Sanierung als zu teuer gilt, oder Umnutzungen im Bestand zu vereinfachen. Der Widerspruch zwischen 400.000 Wohnungen und Ressourcenschonung bestünde nur dann, wenn man die Nachhaltigkeitsziele nicht verfolgt. Ansonsten halte ich dieses Ziel für ökologisch machbar. Ich erlebe allerdings, dass ökologisches Wohnen zunehmend ein Elitenprojekt ist. Deshalb begrüße ich, dass ein Viertel des Volumens mit sozialen Kriterien verbunden wird. Es wird ein Qualitätssiegel geben, das Nachhaltigkeitsaspekte bewertet.

Wie nimmt man die Bauwirtschaft mehr in die Pflicht?

Die Bauwirtschaft ist eine der ökonomisch stärksten Branchen. Förderprogramme werden gut angenommen. Aber es braucht mehr, unter anderem Reformen, um den Bestand besser und schneller weiterzuentwickeln, oder einheitliche Bauordnungen, um mehr Wis­sens­trans­fer zwischen München und Frankfurt zu ermöglichen. Stand heute: Jeder erfindet das Rad neu und weiß es besser. Und es braucht mehr Konkurrenz, Angebote und Strukturen, etwa kommunales Bauen, um Wohnraum direkter an die Menschen zu bringen.

Förderungen waren bislang zinsgünstige Kredite. Brauchen wir ein anderes Fördersystem?

Wir sollten mehr auf Zuschüsse setzen, etwa pro eingesparte CO2-Tonne einen Bonus gewähren. Warum hat die Industrie lange CO2-Zertifikate geschenkt bekommen, und warum kriegen das nicht auch private Bürger? Dann hätten sie einen Anreiz. Eine CO2-orientierte Förderung der Kreditanstalt für Wiederaufbau wäre wirksamer. Nötig sind auch Programme, die eine Umbaukultur, das Sanieren mit Freude, Flächeneffizienz, eine urbane Wärmewende, Kreislaufwirtschaft und Quartierslösungen fördern.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Ich bin Ingenieurin und will Lösungen umsetzen. Wenn es uns gelingt, eine Politik des zielgerichteten Ermöglichens zu etablieren, bin ich optimistisch. Momentan sind viele Vorschritten leider nur gut gemeint.

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