Schwedens Coronastrategie: Alle sollen, niemand muss
Seit Pandemiebeginn geht Schweden einen Sonderweg: Statt auf strenge Maßnahmen setzt das Land auf Selbstverantwortung.
Die vierte Coronawelle rollt über Europa, und Schweden fällt deutlich aus dem Rahmen. Mit einer 7-Tage-Inzidenz von 115 pro 100.000 EinwohnerInnen gehört es laut der aktuellen Statistik vom 2. Dezember des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten zu den europäischen Ländern mit der niedrigsten Inzidenz. Man hat auch die niedrigste 7-Tage-Coronatodesrate aller EU-Länder.
Der Impffortschritt kann nicht der Grund für diese relativ entspannte Situation sein. Da liegt man mit derzeit 70,5 Prozent für die Gesamtbevölkerung und 82 Prozent für die über 16-Jährigen im europäischen Mittelfeld – Platz 12 von 37 Ländern – und etwa auf gleichem Niveau wie Deutschland. Auch in Schweden hätte die Gesundheitsbehörde gerne ein paar Prozentpunkte mehr und fährt deshalb derzeit gezielte Impfkampagnen mit lokalen Impfangeboten vor allem in Gegenden mit unterdurchschnittlicher Impfquote. In Stadtteilen Göteborgs mit hohem Migrationsanteil war beispielsweise Ende November noch mehr als über die Hälfte der Bevölkerung ungeimpft.
Eine landesweite Impfpflicht für Gesundheits- und Altenpflegeberufe gibt es nicht. In einigen Regionen haben die Träger einzelner Einrichtungen sie aber aufgrund arbeitsrechtlicher Vorschriften für ihr Personal eingeführt. Eine allgemeine Impfpflicht wird fast gar nicht diskutiert. Auf eine entsprechende Interviewanfrage antwortete der ehemalige Staatsepidemiologie und Berater der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Johan Giesecke vor einigen Tagen: „Man kann die Leute nicht zwingen.“ Schweden habe „das schon mal mit wenig Erfolg versucht“, das sei aber „einhundert Jahre her“.
Es sei wichtig, die demokratischen Werte und Menschenrechte auch während einer Pandemie aufrechtzuerhalten. Deshalb habe Schweden bei „nahezu allen unseren Maßnahmen auf Freiwilligkeit gesetzt, und ich finde, dieser Weg war richtig“, sagt Giesecke. „Wir haben keine Polizisten, die Leute bestrafen, weil sie nicht auf sich aufpassen.“ Schweden verfolgte von Anfang an eine etwas andere Strategie als die meisten europäischen Länder. Die staatliche Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten, auf deren Empfehlungen sich die Politik bei ihren Maßnahmen stützt, geht von einem ganzheitlichen und nicht isoliert auf die bloße Epidemiebekämpfung gerichteten Gesundheitsbegriff aus.
Der Infektion sollte mit gezielten Maßnahmen begegnet werden, von denen man sicher sein konnte, dass sie funktionieren, Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens und der persönlichen Freiheit sollten Ultima Ratio sein.
Staatsepidemiologe Anders Tegnell hatte den Kurs gleich zu Beginn der ersten Welle abgesteckt: Covid-19 werde keine Pandemie sein, die nach wenigen Monaten ausgestanden sein würde. Man könne von den Menschen deshalb nur Maßnahmen verlangen, die diese auch ein, zwei Jahre durchhalten könnten. Und das funktioniere am besten mit dem Prinzip „Freiheit in Selbstverantwortung“.
Man empfahl den SchwedInnen vor allem grundlegende Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten. Das Tragen von Masken wurde als zuwenig effektiv eingeschätzt und gehörte erst gar nicht und dann nur in Ausnahmesituationen, beispielsweise im öffentlichen Nahverkehr während der Rushhour, zum Empfehlungskatalog.
Auf Schulschließungen bis zur neunten Klasse wurde wegen der damit verbundenen Belastungen für SchülerInnen und Familien ebenso verzichtet wie auf generelle Lockdowns. Die bislang höchste 7-Tage-Inzidenz hatte man im Januar 2021 mit 515 verzeichnet. Die höchste Belastung hatten die Intensivstationen im April 2020 mit über 500 CoronapatientInnen. Derzeit sind es im Vergleich dazu weniger als ein Zehntel.
Seit Herbstbeginn ist die Zahl der Neuinfektionen nicht so massiv angestiegen wie in nahezu allen anderen europäischen Ländern. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Gesundheitsbehörde auch nach der ersten Impfwelle allen Geimpften empfohlen hatte, sich prinzipiell weiterhin vorsichtig zu verhalten: Der Impfschutz werde zwar schwere Erkrankungen verhindern, sei voraussichtlich aber weder vollständig noch dauerhaft, mahnte der Staatsepidemiologe.
Nach einem im September veröffentlichten Zwischenbericht einer noch laufenden Studie mehrerer schwedischer Universitäten zur Wirksamkeit von Corona-Impfstoffen halbierte sich das Antikörperniveau bei zweifach mit dem Pfizer-Impfstoff Geimpften binnen drei Monaten und war nach 6 Monaten auf 15 Prozent gesunken.
Der schwindende Impfschutz macht sich auch auf den Intensivstationen bemerkbar. Nach wie vor werden dort zwar relativ zu ihrem Bevölkerungsanteil mehr Ungeimpfte als Geimpfte behandelt. Doch stieg der Anteil Geimpfter unter diesen PatientInnen von 23 Prozent im September auf nun 43 Prozent, in der Altersgruppe der über 60-Jährigen von 42 auf 76 Prozent. Sei Anfang November wird allen über 65-Jährigen eine dritte Impfdosis empfohlen.
Schwedens Gesamtbilanz beim Umgang mit der Pandemie ist durchwachsen. In der ersten Pandemiephase scheiterte das Land massiv beim Schutz der älteren Bevölkerung, konstatierte schon im Dezember 2020 ein von der Regierung bestellter Untersuchungsbericht. Eine in der vergangenen Woche veröffentlichte Studie einer Expertengruppe der Königlichen Wissenschaftsakademie in Stockholm vertieft das. Schweden sei schlecht vorbereitet gewesen, es habe anfänglich schwerwiegende Mängel in der Gesundheits- und Altenvorsorge gegeben, was Personal, Kompetenz, die Versorgung mit Masken,
Schutzkleidung, aber auch Testmöglichkeiten und Laborkapazitäten anging. Ein kaputt gesparter und weitflächig ohne ausreichende öffentliche Kontrolle privatisierter Sektor der Altersvorsorge verschärfte die Lage zusätzlich. Ende Juni 2020 hatte Schweden bereits über 5.300 Coronatote zu beklagen. Das war im Verhältnis zur Bevölkerungszahl das 4,75-Fache Deutschlands mit damals rund 9.000 Coronatoten.
Zieht man jetzt einen entsprechenden Vergleich seit Pandemiebeginn, hat sich dieses Verhältnis auf weniger als das 1,2-Fache reduziert. Das schwedische Gesundheitssystem hat die Pandemie zwischenzeitlich offensichtlich wesentlich besser in den Griff bekommen. Die aktuellen ECDC-Zahlen melden eine „7-Tage-Todesrate“ von 0,4 pro Millionen EinwohnerInnen für Schweden, aber 14 für Deutschland.
Länder, die auf harte Lockdowns gesetzt hätten, seien nicht besser gefahren, das Virus kam immer wieder zurück, sagt Giesecke. Mit dem Verzicht auf harte Lockdowns schaffte es die Wirtschaft des Landes besser durch die erste Phase der Coronakrise als die meisten anderen EU-Länder. Neben Dänemark ist Schweden das einzige EU-Land, das sein Defizit im Staatsbudget mit 2,8 Prozent des Bruttonationalprodukts (BNP) unterhalb der – während der Pandemie suspendierten – 3-Prozent-Grenze halten konnte. Schweden hat die insgesamt fünftniedrigste Schuldenlast in der EU. Während die Schuldenrate gegenüber 2020 in Deutschland 2021 weiter steigt, sinkt sie in Schweden bereits wieder und liegt bei 37,3 Prozent des BNP (Deutschland 71,4).
Die Steigerung der Arbeitslosenrate liegt in Schweden seit Pandemiebeginn unter dem EU-Schnitt. Für eine endgültige Bilanz ist es natürlich zu früh. Aber Umfragen zeigen ein hohes Vertrauen der SchwedInnen und überwiegende Zufriedenheit mit der Handhabung der Coronapandemie durch ihre Regierung. In einer vergleichenden Untersuchung des „YouGov-Cambridge Globalism Project“ in 26 Ländern liegt Schweden mit einer Positivrate von 54 Prozent an der Spitze.
Für Deutschland ist dieser Zufriedenheitswert im Vergleich zu einer entsprechenden Untersuchung vor einem Jahr von 67 auf 44 Prozent gesunken. 19 Prozent der befragten SchwedInnen hielten die Corona-Einschränkungen für zu weitreichend – der niedrigste Wert aller untersuchten Länder. Nach einem im September veröffentlichten Eurobarometer haben SchwedInnen mit 80 Prozent auch das höchste Vertrauen in WissenschaftlerInnen, Deutschland ist dabei mit 46 Prozent das EU-Schlusslicht.
Schwedens Gesundheitsbehörde erwartet den Höhepunkt der jetzigen Infektionswelle für Mitte Dezember. Um die Spitze möglichst flach zu halten, gelten seit dem 1. Dezember neue Kontaktbeschränkungen. Zum Besuch von öffentlichen Veranstaltungen in Innenräumen mit mehr als 100 BesucherInnen können Veranstalter einen Impfnachweis verlangen. Sie können aber auch zu anderen Vorsichtsmaßnahmen wie Abstandsregelungen greifen. Die Ausgestaltung bleibt ihnen überlassen. Schweden versucht auch in der vierten Welle bei seinem Prinzip der „Freiheit in Selbstverantwortung“ zu bleiben.
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