Coronavirus in Europa: Schweden lockert trotz Omikron
Das Land hebt fast alle Maßnahmen auf. Covid-19 sei trotz niedriger Impfquote und steigender Inzidenz keine „gesellschaftskritische Krankheit“ mehr.
Stockholm taz | Gute Nachrichten hatte die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson auf einer Pressekonferenz am Donnerstagmorgen zu verkünden: „Wir wissen nun mehr über die Omikronvariante und die Lage im Gesundheitswesen ist stabil: Es wird Zeit, dass Schweden wieder aufmacht.“ Praktisch alle Coronarestriktionen werden ab dem 9. Februar aufgehoben.
Damit ist Schweden nicht allein: Denn Europa überrollt derzeit nicht nur eine Omikronwelle, sondern auch eine Öffnungswelle. So kündigte die Schweiz am Mittwoch an, dass sie ab Mitte Februar alle Coronamaßnahmen aufheben will. Ab Donnerstag besteht keine Quarantänepflicht für Kontaktpersonen mehr. Nur wer selbst infiziert ist, muss sich weiterhin isolieren. Die Homeofficepflicht entfällt. In Tschechien können Ungeimpfte ab dem 9. Februar wieder ins Restaurant und an Veranstaltungen teilnehmen. Auch Finnland kündigte am Donnerstag an, dass es im Februar alle Coronamaßnahmen aufheben will.
In Schweden entfallen mit den Lockerungen Abstandsregeln und Beschränkungen von Öffnungszeiten in der Gastronomie, je nach Größe der Räumlichkeiten begrenzte Zutrittszahlen und die Sitzplatzpflicht im kollektiven Fernverkehr. Dort fällt auch die bisherige Maskenempfehlung weg, eine allgemeine Maskenpflicht hatte Schweden sowieso nie. Veranstalter und Gewerbetreibende dürfen von BesucherInnen und KundInnen auch keinen Impfnachweis mehr verlangen.
Für all diese Restriktionen sei die Geltungsvoraussetzung des Seuchengesetzes entfallen, teilte die Gesundheitsbehörde FHM mit: Covid-19 sei keine „allgemein- und gesellschaftskritische Krankheit“ mehr. Schweden, das sich beim Umgang mit Covid-19 vorwiegend auf Empfehlungen statt auf formale Vorschriften verlassen hatte, hebt nun auch die meisten dieser Empfehlungen auf: beispielsweise größere Zusammenkünfte zu meiden, so weit wie möglich im Homeoffice zu arbeiten oder sich bei Erkältungssymptomen testen zu lassen.
Die Bereitschaft der SchwedInnen, diesen Empfehlungen zu folgen, sei zentral dafür gewesen, dass nun ein Aufheben der Restriktionen möglich sei, „weil die Pandemie zwar nicht vorbei, aber in einer neuen Phase ist“, sagte Andersson. Sie verwies dabei vor allem auf die Impfquote. Die liegt allerdings mit 72,6 Prozent vollständig Geimpfter und mit 38,9 Prozent Drittgeimpfter deutlich unter der Deutschlands. Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell ist dennoch zufrieden: Es sei unrealistisch, die ganze Bevölkerung erreichen zu wollen. Er hebt ebenso wie die Regierungschefin als entscheidend hervor, dass 80 Prozent in der Altergruppe 50+ nun „geboostert“ seien.
Zusammen mit der anhaltenden Welle an Neuinfektionen, bei der die Sieben-Tage-Inzidenz in Schweden mit rund 2.500 derzeit doppelt so hoch ist wie in Deutschland, rechnet die Gesundheitsbehörde mit einer „Herden- oder Bevölkerungsimmunität“ und einem anschließendem Sinken der Infektionszahlen für Mitte bis Ende Februar. Aber warum wartet man weder in Schweden noch in Norwegen, wo die letzten Restriktionen am 17. Februar verschwinden sollen, sicherheitshalber den Gipfel bei den Neuinfektionen ab?
Die Frage beantwortet die staatliche norwegische Gesundheitsbehörde „Folkehelseinstituttet“ in ihrem aktuellen „Risikobericht“: Impfen schütze zwar gut vor einer ernsten Erkrankung, könne die Epidemie aber allein nicht stoppen und kaum bremsen. Breiter und länger vor späterer Infektion und schwerer Erkrankung schütze dagegen „eine Hybridimmunität durch Impfung und spätere Infektion.“
Leser*innenkommentare
tomás zerolo
@TAZTIZ
Das wage ich zu bezweifeln. Eine "Empfehlung" à la Schweden (sie haben ihre Strategie bekanntlich angepasst) verschiebt das Risiko auf die prekären, leicht ersetzbaren Arbeiter*innen.
@MOPSFIDEL
Das ist wohl das zynischte, was ich je gelesen habe: prekäre Jobs (fast food kitchen, Kassierer*in, Fleischindustrie etc.) haben die höchsten Ansteckungsrisiken [1]. Sie haben wohl zu viel Homeoffice gemacht.
@SKIPP39
Bedienen Sie sich doch bei [1].
[1] www.medrxiv.org/co...21.20248475v1.full
Linksman
Schweden lockert.
Finnland lockert.
Dänemark lockert.
Die Niederlande lockern.
Die Schweiz lockert.
Großbritannien lockert.
Spanien hat schon gelockert.
Will Deutschland ein europäisches Land sein?
Bernd Käpplinger
Beginnen nun endlich wieder die schwedenkritischen Artikel? Das Reich der gaaaaanz bösen Corona-Strategie! Wir haben das in Deutschland doch so viel besser gemacht und was waren sich nahezu alle Medien einig, wie schlimm es in Schweden war!
Und nun gegen Ende der Pandemie könnte es sein, dass Tegnell doch Recht hatte mit einer Strategie, die Gegenmaßnahmen ergriffen hat, aber sie abgewogen hat und verhindert hat, dass es viel weniger Kollateralschäden gibt. Und von den Kollateralschäden können u.a. Eltern berichten, die ihr Kind nun in Therapie haben bzw. die "Wartelistentriage" bei Therapeuten erleben. Oder die Inhaber*innen, der nun vielen geschlossenen Lokale. aber es ging uns in Deutschland ja oft nur um das "System Krankenhaus"... Wahnsinnig menschlich...
Reinhardt Gutsche
Schluß mit dem deutschen Sonderweg
Zitat: „Zusammen mit der anhaltenden Welle an Neuinfektionen, bei der die 7-Tage-Inzidenz in Schweden mit rund 2.500 derzeit doppelt so hoch ist wie in Deutschland, rechnet die Gesundheitsbehörde mit einer „Herden- oder Bevölkerungsimmunität“ und einem anschließendem Sinken der Infektionszahlen für Mitte bis Ende Februar... Damit ist Schweden nicht allein: Denn Europa überrollt derzeit nicht nur eine Omikronwelle, sondern auch eine Öffnungswelle.“
Nun erntet Schweden die Früchte seines viel geschmähten „Sonderweges“ mit seiner impliziten, wohlweislich nicht an die große Glocke gehängten Strategie der natürlichen Herdenimmunität. Dort gehörte man seit Anbeginn nicht zu den Wundergläubigen, sanktionsbewehrte NPIs mit Lockdown, Ausgangsperre, Maskenball im Freien, Schulschließungen unterhalb der Sekundarstufe usw. würden irgend etwas am Infektionsgeschehen ändern. Ein Blick auf die langfristigen Verlaufskurven in Schweden sollte für die Erkenntnis genügen, daß all dies im Grunde für die Katz war. Bei allen relevanten Parametern lag Schweden mit seiner Kultur des Gebots und der Selbstverantwortung von Anbeginn im europäischen Mittelfeld und wies schon vor Jahresfrist mit 1,78% gegenüber 2,82% hierzulande sogar einen um 40% geringeren CFR-Wert auf. (Quelle: JHU) Aktuell liegt dieses Verhältnis bei 1,2 % zu 0,8% zugunsten Schwedens.
Eine dauerhaft-stabile und nachhaltige Absenkung aller NPIs auf das Niveau Schwedens und die Abkehr von der Verbots- und Sanktionskultur hätte, wie nun endgültig ersichtlich, mithin keine größeren Risiken in sich geborgen als die in Schweden bilanzierten. Die systemischen und vor allem sozialpsychologischen Nutzen hingegen wären immens gewesen.
Daraus folgt: Schluß mit dem deutschen Sonderweg.
Gerdi Franke
Kein gesellschaftskritische Krankheit mehr? Corona ist und bleibt aber ein Problem für uns! Und da deutsche Bürokratie, deutscher Föderalismus, politische Widersprüche, verordnete Angst und Verbote den Bürgern das anfangs sicher vorhandene Impfinteresse genommen haben, werden jetzt Impfstoff, Impfstrategie und Impfung selbst als nicht zuverlässig eingestuft und stossen auf Ablehnung. Und Zwang wie eine Impfpflicht hilft da absolut nicht weiter. Wir brauchen weiter Überzeugungsarbeit.
tomás zerolo
Mich würde vor allem eins interessieren: wie verändert sich die Todeszahl-Verteilung über das verfügbare Einkommen im "Systemvergleich".
Ich vermute, dass das schwedische System im Vergleich viel härter auf Kosten der Prekären geht als ein vorsichtigerer Ansatz.
Wie es bei den Ärmsten der Armen aussieht haben wir durch ein paar Schlaglichter (Gemüseernte, Thönnies-Fleischfabriken) veranschaulicht bekommen. Und gleich wieder verdrängt.
Kinder, macht Home Office. Und bestellt beim Fast Food [1] um die Ecke. Dann passiert Euch schon nix.
Wenn Ihr es Euch leisten könnt.
[1] www.businessinside...ndemic-2022-1?op=1
TazTiz
@tomás zerolo Eine funktionierende Zivilgesellschaft wie in Schweden ist deutlich besser für die unteren Schichten. In Deutschland dagegen ist derzeit vielen abgestellt und dem Pandemieschutz untergeordnet. Die Schwachen werden schlicht vergessen und nicht gesehen, während die gehobene Mittelschicht im Homeoffice über den Lieferservice klagt. Unser Sozialstaat funktioniert derzeit nur auf dem Papier …
Mopsfidel
@tomás zerolo Ist Ihr Beitrag versteckte Satire? Oder gar Zynismus?
"Todeszahl-Verteilung über das verfügbare Einkommen im 'Systemvergleich'"
Was soll das Einkommen für einen Einfluss auf ein Virus haben? Es geht hier doch nicht über selbst hinzugefügte Krankheiten wie Fettleibigkeit oder Raucherlunge.
Der schwedische Weg geht primär auf die Kosten der Älteren, weil diese früher und heute nicht gesondert geschützt werden. Doch andererseits geht es den Älteren dadurch psychologisch besser. Wenn ich in deutsche Altenheime schaue, sehe ich den einsamen Tod durch die Flure laufen.
"bestellt beim Fast Food um die Ecke"
Und zwei Sätze zuvor noch von prekären Beschäftigungsverhältnissen schwafeln. Wo doch eigentlich bekannt sein sollte, dass selber kochen die günstigste Variante wäre.
skipp39
@tomás zerolo "Mich würde vor allem eins interessieren: wie verändert sich die Todeszahl-Verteilung über das verfügbare Einkommen im "Systemvergleich"."
Dann recherchiere das mal und poste das Ergebnis. Wir werden wahrscheinlich alle überrascht sein, wie gut die Schweden abgeschnitten haben..
TTT
"Ach, Schweden! Ruf ich, Schweden, alter Freund! In dir, da fühle ich mich wohl
Bei Tanz, Gesang und Alkohol - Du bist so gar nicht eingezäunt
Ach, Schweden, komm und gib mir deine Hand, oh du beneidenswertes Land
Wo ich damals den Punk erfand - Du bist so anders, so entspannt."
"Ach, Schweden, alte Hütte, altes Pferd - Warum hast du dich nicht vermehrt?
Auf dass die ganze Welt erfährt: Zwei Schweden wären nicht verkehrt
Kann denn nicht jedes Land wie Schweden sein?"
denkmalmeckermalmensch
@TTT Alter Schwede :-)