Berufsunfähigkeitsversicherung: Unsolidarische Scheiße
Eine Berufsunfähigkeitsversicherung ist unverzichtbar, heißt es. Doch für viele ist es gar nicht so einfach, solch eine abzuschließen.
I ch werde bald 30, und um mich angemessen klischeemäßig zu verhalten, habe ich mir einen Punkt auf meiner To-do-Liste vorgenommen, der dort Monate rumgammelte: „Altersvorsorge“. In vielen Recherchen dazu bin ich dann bei einem weiteren Thema gelandet: der Berufsunfähigkeitsversicherung.
So eine hatte ich bisher auch nicht, aber die Verbraucherzentrale machte mir Panik: „Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist unverzichtbar für alle, die von Ihrem Einkommen leben“, steht auf ihrer Homepage. Da ich weder Immobilien vermiete noch ein Start-up gegründet habe, das ich bald verkaufen könnte, sehe ich keine andere Möglichkeit, als auch in Zukunft von meinem Einkommen zu leben.
Also fuhr ich erst mal zu einem Versicherungsvertreter und ließ mir von ihm BU-Angebote (ich war mittlerweile im Slang) geben. Seltsam wurde es, als er mich fragte: „Haben Sie eigentlich chronische Krankheiten? Oder mal, so, äh, Gesprächsstunden gemacht?“ Er meinte eine Psychotherapie. Ich las dann erst recht sehr viele Artikel und telefonierte mit einem Berater der Verbraucherzentrale, bis ich verstand: Diese Versicherung bekommt man nur, wenn man sehr gesund ist. Weil das Geschäftsmodell einer Versicherung eben darauf beruht, dass viele Leute einzahlen, aber nur wenige Geld bekommen. Und wenn die Leute nicht gesund sind, wenn sie die Versicherung abschließen, dann ist die Wahrscheinlichkeit aus Sicht des Versicherers hoch, dass das am Ende teuer wird.
Wer an einer Depression leidet, hat praktisch keine Chance
In meiner Recherche bin ich dann zu zwei Ergebnissen gekommen. Erstens: Auch wenn das sehr viel kostet, schließe ich so eine Versicherung ab. Zweitens: Was bitte ist das für eine unsolidarische Scheiße? Wer zum Beispiel eine Depression hat, und das wird bei Frauen doppelt so oft diagnostiziert wie bei Männern, der hat praktisch keine Chance, eine solche Versicherung zu bekommen. Das ist nicht das einzige Problem: Hausfrauen und Hausmänner können sich zwar auch vor Berufsunfähigkeit schützen, aber für sie gelten oft viele Einschränkungen.
Und: Wer im Büro sitzt, hat einen weniger gefährlichen Job als etwa ein:e Dachdecker:in und bezahlt deshalb weniger für die Versicherung. Die Beiträge richten sich nicht danach, wieviel wer verdient, sondern wie hoch das Gesundheitsrisiko ist und das ist bei vielen eher schlecht bezahlten Jobs höher.
Es gibt zwar andere Versicherungen, für schwer Erkrankte etwa. Und man kann, wenn man Vorerkrankungen hat, über einen Versicherungsberater eine anonymisierte Anfrage stellen, damit man nicht direkt bei mehreren Versicherungsanbietern rausfliegt, weil die eine gemeinsame „Wagnisdatei“ haben. Aber eine richtige Lösung gibt es nicht. Weshalb ich mittlerweile meinen Versicherungsschein bekommen habe, meine Freund:innen mit Depression aber wohl nie einen solchen haben werden. Früher gab es übrigens eine staatliche Berufsunfähigkeitsrente. Die wurde zum 31.12.2000 unter Rot-Grün abgeschafft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg