Der 1. Mai wird wieder ein Kampftag

Linke Proteste mit so viel Zulauf wie lange nicht mehr, die Umverteilung des Reichtums ist der rote Faden. Für Eskalation sorgt die harte Polizeitaktik

Helm auf, wer einen hat: Szene von der 18-Uhr-Demo in Neukölln. Die Polizei stoppte den Zug auf der Sonnenallee Foto: M. Golejewski/AdoraPress

Von Erik Peter

Die Karawane der Grunewald-Fahraddemo rollte auf ihrem Rückweg aus dem Villenviertel bereits eine halbe Stunde über die Autobahn, als das Ende der Demo am Hohenzollerndamm erst die A 100 erreichte. Die Spitze, die einem Truck mit lauter Technomusik hinterherfuhr, war da bereits fünf Kilometer weiter in Schöneberg. Es war eine Massenbewegung von, nach Veranstalterangaben, bis zu 20.000 Demonstrant*innen, die am 1. Mai die Tour in den Problembezirk auf sich genommen hatte – weitaus mehr als in den ersten beiden Jahren der he­donistischen Großdemonstration.

Nicht anders dann das Bild am Abend am Hermannplatz. Die Revolutionäre 1.-Mai-Demo brauchte eine gute Dreiviertelstunde, um sich vollständig in Bewegung zu setzen. Auch hier dürfte die Teil­neh­me­r*in­nen­zahl an das Rekordjahr 2014 heranreichen, als bis zu 25.000 Menschen auf der Straße waren. Mindestens 1.000 Menschen – und damit weit mehr als erwartet – hatten bereits am Vormittag an einer klassenkämpferischen Gewerkschafts- und Arbeiter*innen-Demo teilgenommen. Die Beteiligung an den linken und linksradikalen Aufzügen zum Tag der Arbeit in Berlin war zusammengenommen so groß wie nie in der jüngeren Vergangenheit.

Das lag nicht zuletzt daran, dass es etwa der Migrantifa gelungen ist, eine junge Generation auf die 18-Uhr-Demo in Neukölln zu holen, die vielfach erst mit den Black-Live-Matters-Protesten ihre politische Sozialisation erfahren hat. Zwar war die Revolutionäre Demo nie so weiß-deutsch wie andere Proteste der radikalen Linken, aber so international war sie auch noch nie. Dem Migrantifa-Frontblock mit seinem „Yallah Klassenkampf“-Transpi folgten ein halbes Dutzend weiterer Blöcke migrantischer Organisationen. Dass für einige Be­ob­ach­te­r*in­nen nun eine überschaubare Gruppe Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen im Fokus steht, die sich mit Intifada-Sprüchen und ihrem Hass auf Israel zu Recht dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt sieht, ist schade für die Demo. Verantwortlich ist das Organisationsbündnis, das diese Gruppen einband.

In der großen Überzahl allerdings waren die vielfach unorganisierten Jugendlichen – denen die Erinnerung an Hanau deutlich wichtiger ist als die Aussicht auf ein bisschen Krawall. Dass es zu diesem dann doch kam, obwohl die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen auf einen friedlichen Verlauf gedrängt hatten, darf man getrost der Taktik der Polizei zuschreiben, die, anders als sehr viele Jahre lang, ihre Deeskalationsstrategie im Spind gelassen hatte. Stattdessen hieß es Helme auf und rauf. Überrascht musste man nicht sein. Das „konsequente Einschreiten“ war angekündigt, schließlich ist auch der SPD-Innensenator im Wahlkampfjahr.

Der Angriff der Polizei, der die Demo am Rathaus Neukölln teilte und schließlich beendete, war gut vorbereitet. Etwa eine Viertelstunde zuvor formierten sich mehrere Züge von Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten am Ende einer straßenverengenden Baustelle, um dann in die Demo zu stürmen und den hinteren Teil einzukesseln.

Die vorzeitige Außerkraftsetzung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit erfolgte nicht etwa, weil die anarchistischen und klassischen linksradikalen Blöcke zuvor Gewalt ausgeübt hätten, sondern weil sie, angeblich, gegen die Hygieneauflagen verstießen. Deutlich war: zu enge Abstände, die gab es, besonders am Hermannplatz und in Straßenengpässen. Eine Maske hatte dagegen nahezu jeder auf, ganz gleich in welchem Teil der Demo.

Polizei agiert aggressiv

Die Polizei demonstrierte, anders als bei unzähligen Coronaleugnerprotesten, Stärke und eine gehörige Portion Aggressivität. In mehreren Situationen nahm sie schwere Verletzungen in Kauf. 354 Menschen wurden festgenommen. 93 Be­am­t*in­nen wurden verletzt gemeldet. Sie zeugen davon, dass sich nach dem Angriff auf die Demo eine Wut, mitunter auch der Drang nach Eskalation entlud. Einige massive Stein- und Flaschenwürfe und mindestens drei brennende Barrikaden sind das Ergebnis, das Autonome vom „größten Krawall seit zehn Jahren“ schwärmen lässt – der aber rechtzeitig vor Beginn der Ausgangssperre sein Ende fand. Aber auch die Polizei und ihre politische Führung wird mit der Bilanz gut leben können: Erstere ist konsequent eingeschritten, Letztere kann auf die Gewalt verweisen, statt sich mit der politischen Kritik zu beschäftigen.

Durch die Proteste – und auch das bleibt zentral für die Bilanz des Tages – zog sich ein deutlich wahrnehmbarer inhaltlicher roter Faden mit der Forderung nach Umverteilung. Keine Demo, kaum eine Rede, die nicht auf die 45 reichsten Deutschen einging, die so viel Vermögen besitzen wie die untere Hälfte der Bevölkerung. Es ging um die Krisengewinner*innen, die ihren Wohlstand trotz Pandemie vermehren konnten, um gerettete Konzerne wie die Lufthansa, die zum Dank ihre Mit­ar­bei­te­r*in­nen auf die Straße setzen oder sich um ihre Steuern drücken. Und natürlich ging es in den Redebeiträgen auch um die Immobilienbranche, die von der wirtschaftlichen Bedrohung durch Corona noch nicht einmal gehört hat.

Mindestens zwei Faktoren dürften für diese inhaltliche Fokussierung ausschlaggebend sein: Die Pandemie, die für sehr viele Menschen wirtschaftliche Nöte bedeutet, lässt die Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen jenen, die um ihre Existenz bangen, und jenen, die immer profitieren, noch einmal deutlicher zu Tage treten. Die Klassengesellschaft wird wieder erkennbarer.

Zweitens hat das Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co. enteignen den Möglichkeitshorizont erweitert: Wer vor zwei Jahren Enteignung sagte, galt als hängen gebliebener linksradikaler, womöglich stalinistischer Phantast. Nun scheint die Vergesellschaftung greifbar. Und wer sich umhörte auf den Demos, weiß auch: Längst wird über Immobilienkonzerne hinaus gedacht, an private Krankenhausunternehmen oder Energieversorger. Bis zum nächsten 1. Mai bleibt wie immer viel zu tun.

meinung + diskussion