Corona-Infektionen: Schluss mit dem Jugendbashing
Die Rücksichtslosigkeit der Jugend soll für den Anstieg der Infektionen verantwortlich sein. Doch Belege fehlen für diese andauernden Vorwürfe.
Corona könnte längst vorbei sein – wären da nicht diese jungen Leute. So klingt es, wenn man insbesondere in Berlin in den vergangenen Wochen die öffentliche Debatte um den erneuten und mittlerweile massiven Anstieg der Neuinfektionen verfolgt. Im März wurden dieser Altersgruppe die mysteriösen „Corona-Partys“ vorgeworfen, Feiern, bei denen sich Menschen absichtlich mit dem Virus infizieren. Belege dafür gab es kaum, mittlerweile ist es das Verhalten junger Leute ganz allgemein, das für den Anstieg verantwortlich sein soll. Es passt ja auch so schön: Die haben selbst wenig Angst vor Ansteckung, also scheißen sie auf jede Regel und feiern sieben Tage durch – leichtsinnig, rücksichtslos, ignorant. Die Berliner Antwort: Sperrstunde ab 23 Uhr und ein Verbot, sich nachts und draußen mit mehr als fünf Personen zu treffen.
Lassen wir mal außen vor, dass erneut vor allem das Freizeitverhalten in den Blick genommen wird, als würden sich Viren nicht am Arbeitsplatz verbreiten können. Lassen wir ebenfalls außen vor, wie sinnvoll es ist, angesichts des aktuellen Wissensstands über die Übertragung des Coronavirus ausgerechnet Zusammenkünfte unter freiem Himmel zu verbieten. Ganz grundsätzlich gilt: Die Frage, ob es überhaupt stimmt, dass junge Leute sich rücksichtsloser verhalten als ältere Menschen, stellt kaum jemand.
Könnte daran liegen, dass man sich dann von einem liebgewonnenen Sündenbock verabschieden müsste. Denn wissenschaftlich haltbar ist sie nicht. Die vielbeachtete Studie „Life with Corona“ etwa, für die ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Berliner Humboldt-Universität über sechs Monate fast 12.000 Menschen befragte, kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass sich die Altersgruppen in Bezug auf Vorsichtsmaßnahmen – Maske tragen, Menschenansammlungen meiden, Hände waschen und einiges mehr – nur minimal unterscheiden, sowohl weltweit als auch in Deutschland.
Die Studie ergab auch: Gefragt, auf wie viel von ihrem Jahreseinkommen sie verzichten würden, wenn es dadurch möglich wäre, die Pandemie zu stoppen, gaben jüngere Leute einen deutlich höheren Anteil an als Ältere. Klingt gar nicht mehr nach rücksichtslos und ignorant. Auch wenn viele es weiterhin nicht wahrhaben wollen: Was die weltweite Verbreitung des Coronavirus angeht, gibt es eben keine einfachen Schuldigen. Auch nicht junge Leute mit einem Bier in der Hand im Park, nur weil die keine Lobby haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen