Lebensmittelverschwendung bei Erdbeeren: Weggeworfen, weil „zu hässlich“

Viele Erdbeeren verfaulen auf dem Feld. Denn dem Handel sind sie nicht schön genug, und als Zutat für Joghurt sind sie teurer als Ware etwa aus Polen.

Erdbeeren in einer Obstauslage

Haben es schwer, sich zu behaupten: Erdbeeren Foto: Unspalsh/ Emmy Smith

BERLIN taz | Es gibt Jahre, in denen muss Bauer Sepp Keil kiloweise Erdbeeren auf dem Feld verfaulen lassen. „Manchmal werden am Tag 150 statt 15 Kisten reif“, erzählt der Bio-Landwirt aus dem bayerischen Kehlheim an der Donau. „So viele werde ich nicht los.“ Er würde sie gern einfrieren und dann an Joghurt- oder Marmeladenhersteller verkaufen. Genauso wie die Erdbeeren, die zu klein oder schief gewachsen sind. „Aber der Frostmarkt ist zu niedrigpreisig. Da lohnt sich nicht das Pflücken und der Aufwand, das zu frosten. Dann lässt man die Erdbeeren einfach hängen“, sagt Keil. „Die verfaulen dann.“

Nicht nur Keil geht das so. Deutsche Bauern entsorgen aus wirtschaftlichen Gründen jährlich im Schnitt 10 bis 15 Prozent der genießbaren Erdbeeren. Diese bisher unveröffentlichte Schätzung teilt das bundeseigene Thünen-Agrarforschungsinstitut auf Anfrage mit. Nach einer Hochrechnung der taz auf Grundlage der Erntemenge im vergangenen Jahr entspricht der Anteil ungefähr 14.000 bis 21.000 Tonnen. Das sind so viele Erdbeeren, wie 4 bis 6 Millionen Durchschnittsverbraucher in Deutschland jährlich essen. Solche Früchte würden kompostiert oder untergepflügt, sagt Gartenbauingenieurin Sabine Ludwig-Ohm, die für das Institut über Lebensmittelverluste bei Obst und Gemüse geforscht hat.

„Viele dieser Erdbeeren gelten für den Verkauf als Frischware im Lebensmitteleinzelhandel als nicht schön genug“, ergänzt Ludwig-Ohm. Weitere Früchte müssten entsorgt werden, wenn im Sommer mehr Erdbeeren gleichzeitig reif als nachgefragt würden.

Theoretisch könnte das Obst mit optischen Mängeln oder der Überschuss eingefroren und etwa zu Konfitüre verarbeitet werden. „Aber die Preise für Verarbeitungsware liegen vielfach unter den Erntekosten in Deutschland“, erläutert die Wissenschaftlerin. Das Thünen-Institut hat für ein Forschungsprojekt über Lebensmittelverschwendung 25 Firmen befragt, die Erdbeeren anbauen.

4 Prozent des deutschen Ausstoßes an Treibhausgasen

Jährlich werden in Deutschland – je nach Studie – 11 bis 18 Millionen Tonnen Lebensmittel produziert, aber nicht gegessen. Das obere Ende der Spanne entspricht der Umweltorganisation WWF zufolge fast einem Drittel des Nahrungsmittelverbrauchs. Gleichzeitig hungern weltweit 820 Millionen Menschen. Um die nicht verbrauchten Lebensmittel zu erzeugen, werden unnötig Ressourcen wie Boden, Wasser und Energie beansprucht. Die durch Lebensmittelverluste verursachten Treibhausgasemissionen betragen laut Umweltbundesamt circa 4 Prozent des gesamten deutschen Ausstoßes. „Dass gutes Obst und Gemüse wegen irrer Normen und unmoralischem Preisdumping weggeworfen wird, bevor es im Laden landet, ist geschmacklos“, sagt Anton Hofreiter, Ko-Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion.

Ein Grund sind die Vermarktungsnormen der EU. Sie schreiben zum Beispiel vor, dass frische Erdbeeren für den Verkauf durch Händler an Verbraucher mindestens 18 Millimeter groß sein müssen, Früchte der Kategorie „Extra“ sogar 25. „Erdbeeren der Handelsklasse II sind konventionell kaum noch zu vermarkten, es geht fast nur noch I oder Extra“, sagt Forscherin Ludwig-Ohm.

Lidl will oft nur Riesenerdbeeren

Die Supermärkte machen es sogar noch schlimmer: „Die heutigen Standards des Lebensmitteleinzelhandels sind viel höher als die EU-Vermarktungsnorm. Seit einem Jahr verlangt ein Discounter sogar 30 Millimeter große Erdbeeren“, berichtet die Gartenbauingenieurin. Tatsächlich räumt Lidl in einer E-Mail an die taz ein, dass die Kette den Standard auf 30 Millimeter anhebt, „wenn die Saison es zulässt“. Falls die Händler toleranter wären, was etwa Größe, Farbe und Form von Erdbeeren angehe, ließen sich „größere Mengen“ Lebensmittelverluste einsparen, so Luwdig-Ohm.

Aber das kann dauern. Und es wird immer Ausschussware geben, die für Tafelobst zu krumm ist. Doch Bauern in Deutschland kostet es zu viel, diese Erdbeeren beispielsweise für Konfitüren, Fruchtjoghurt oder Speiseeis zu pflücken. „Das können wir nicht mehr. Das kann die Ukrai­ne und die Polen und Spanien. Die dürfen auch Leute beschäftigen, die für viel, viel weniger Geld arbeiten“, sagt Joerg Hilbers, Geschäftsführer der Fachgruppe Obstbau, dem Verband der meisten Erzeuger. Deshalb kämen Erdbeeren für die Verarbeitung „im wesentlichen aus dem Ausland“.

Auch Bio ist betroffen

Tatsächlich würden tiefgekühlte Erdbeeren aus der Türkei beispielsweise für 1,85 Euro pro Kilogramm angeboten, berichtet Peter Rolker. Er ist der Spezialist für Verarbeitungsware bei Rolker Ökofrucht, einem der größten Händler von Obst mit Siegeln der Bioverbände, der immer wieder auch Angebote für konventionelle Ware bekommt. Deutsche Erzeuger müssten mindestens 2 Euro nehmen.

Der Biomarkt akzeptiert laut Thünen-Institut etwas mehr Erdbeeren mit vermeintlichen Makeln, aber auch hier kommt die meiste Verarbeitungsware aus Billiglohnländern. Der Anteil betrage etwa 95 Prozent, sagt Rolker. Deshalb müssen auch Biohöfe immer wieder genießbares Obst entsorgen.

Bio-Joghurts mit Beeren aus Polen

Die Molkerei Söbbeke, einer der größten deutschen Bio-Joghurthersteller, etwa teilte der taz mit: „Wir setzen aktuell Erdbeeren aus Polen in unseren Produkten ein.“ Die Andechser Molkerei Scheitz erklärte, beispielsweise Erdbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren und Kirschen für ihre Joghurte kämen „aus Europa“.

Beide Molkereien nutzen das Siegel des größten Deutschen Ökobauernverbandes, Bioland. Dessen Standard ist strenger als das gesetzliche EU-Bio-Siegel: Bioland erlaubt zum Beispiel weniger potentiell umweltschädlichen Dünger. Außerdem müssen die Zutaten anders als beim EU-Siegel grundsätzlich aus Deutschland oder Südtirol kommen.

Versteckte Herkunft

Dass trotzdem EU-Bio-Erdbeeren aus Polen in Bioland-Joghurten stecken, wird auf den Verpackungen gut versteckt. Prominent ist dagegen das Bioland-Logo zu sehen.

Söbbeke und Andechser sind keine Einzelfälle. Laut Milchindustrie-Verband wird den meisten Fruchtjoghurts das Obst in Form von „Fruchtzubereitungen“ beigemischt. Auf dem Bioland-Merkblatt „Fruchtzubereitungen, -muse, -konfitüren“ etwa für Molkereien mit dem Siegel des Verbands heißt es aber, dass „aktuell das Angebot an Bioland-Fruchtzubereitungen kaum vorhanden ist“.

Bioland-Erdbeerjoghurte ohne Bioland-Beeren

Die Bioland-Pressestelle räumte auf taz-Anfrage ein: „Bioland-Erzeuger produzieren Erdbeeren überwiegend für den Frischmarkt.“ Deshalb werde „ein großer Teil der Erdbeer-Joghurts mit Früchten der anderen Verbände und/oder EU-Bio-Erdbeeren hergestellt“. In Wirklichkeit sind es sogar die meisten, denn es gibt eben laut dem Bioland-Merkblatt kaum Fruchtzubereitungen mit dem Siegel der Organisation. Bioland dementiert das auch auf Nachfrage nicht.

Die Richtlinien der Organisation erlauben Ausnahmegenehmigungen für solche „Fremdzutaten“, wenn Bioland-Ware nicht „in ausreichender Menge und/oder Qualität verfügbar“ ist. Das bedeutet: Ein Erdbeer-Joghurt kann sogar dann als Bioland-Produkt verkauft werden, wenn er keine einzige Bioland-Erdbeere enthält.

Händler fordert Quote für deutsche Zutaten

Aber sind wirklich zu wenig Bioland-Erdbeeren für Marmeladen und Joghurte auf dem Markt? Händler Peter Rolker antwortet „Natürlich gäbe es genügend Bioland-Ware, wenn die Preise kostendeckend wären.“ Die nötige Menge und Qualität könne sich gar nicht entwickeln, weil Bioland mit seinen Ausnahmegenehmigungen für die Billigimporte die Preise kaputtmache. Bei anderen Beeren sowie Kirschen und Pflaumen ist die Lage Rolker zufolge ähnlich. Der Markt für Verarbeitungsäpfel drohe gerade zu kippen.

Rolker fordert deshalb, dass Bioland den Obstverarbeitern eine Mindestquote für Ware von Erzeugern des Verbands vorschreibt. Bioland teilte der taz mit, dass es in der Organisation „Überlegungen zu Quotenregelungen“ gebe. Nur erlassen werden sie seit Jahren eben nicht. Bioland bestritt sogar, dass seine Bauern „genießbare Erdbeeren“ entsorgen müssten. Doch das Beispiel von Bauer Keil aus Kehlheim straft diese Behauptung Lügen: Er ist selbst Bioland-Mitglied.

Bauernverband findet es richtig, Beeren unterzupflügen

Von Bioland können die deutschen Bauern also kaum Hilfe erwarten. Das gilt auch für die Erzeugerlobby Fachgruppe Obstbau. Geschäftsführer Hilbers sagt der taz: „Wenn in Deutschland ein Erdbeeracker umgepflügt wird, weil es überall zu heiß wird, dann ist das nichts Schlimmes“. Wenn Lidl es schaffe, „den Erdbeerkonsum in schwierigen Zeiten anzukurbeln und einen Qualitätsstandard setzt, dann ist das gut und dann müssen wir Sorten machen, die 30-Millimeter-Erdbeeren halten. Und dann ist das ethisch völlig in Ordnung.“ Es sei richtig, zum Beispiel zu kleine Erdbeeren unterzupflügen.

Wirklich weh tue den Bauern dagegen, „die richtig schönen Erdbeeren“ zu vernichten, weil „da ein Bus voll Rumänen zugesagt hat, dass er kommt und die kommen nicht und dann wird es heiß und die kommen immer noch nicht und dann hört man: Der Bus ist nach Stuttgart gefahren zu einem Bauunternehmer, der hat den Vermittler bestochen, die kriegen das doppelte“. Es sei nicht sinnvoll, die Qualitätsansprüche des Verbrauchers zu verändern. „Wir sehen nicht den Weg darin, schlechtere Früchte vermarktungsfähig zu machen.“

Grünen-Fraktionschef Hofreiter dagegen fordert: „Schönheitsideal-Anforderungen der Supermarktketten und EU-Handelsnormen müssen dringend überarbeitet werden“. Große Supermärkte sollten auch verpflichtet werden, essbare Lebensmittel-Reste kostenlos zur Verfügung zu stellen. „Die Erfahrungen aus Frankreich zeigen, dass dies möglich ist“, so Hofreiter. Zudem verlangt der Grüne, per Gesetz Branchen vorzuschreiben, um wie viel sie den Lebensmittelabfall reduzieren müssen.

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