Ökonom über soziale Ungleichheit: „Das hat mich schockiert“

Wir verspielen unsere Zukunft, warnt der Ökonom Marcel Fratzscher. Es sei dringend nötig, in Infrastruktur und Bildung zu investieren.

Kinder/Jugendliche sitzen auf einer Steinbank

Gute Bildung und soziale Durchlässigkeit gehören zusammen Foto: bls999/photocase.de

taz: Herr Fratzscher, Sie haben gerade ein viel beachtetes Buch über die wachsende soziale Ungleichheit in Deutschland veröffentlicht. Haben Sie persönliche Erfahrungen damit?

Marcel Fratzscher: Ich selbst hatte viel Glück und bin sehr privilegiert aufgewachsen. Aber ich habe eine Zeit in Indonesien gelebt, wo es den Menschen deutlich schlechter geht. Wahrscheinlich kam der entscheidende Anstoß zu dem Buch aber aus Berlin: Dass hier einer von drei Jugendlichen von Hartz IV lebt, hat mich schockiert.

Ihr Buch heißt „Verteilungskampf“. Ist das eine Warnung an die Privilegierten?

Es ist eine Warnung und eine Realitätsbeschreibung. Viele sagen ja, es gibt gar keinen Verteilungskampf. Wer kämpft denn?, werde ich gefragt. Aber in der Politik ging es in den letzten Jahren eigentlich nur um einen Verteilungskampf.

Zum Beispiel?

Die Rente mit 63, die Mütterrente.

Beides kommt nur einer kleinen Gruppe zugute.

Beides sind Beispiele dafür, dass eine Gruppe Privilegien und Gelder bekommt. Andere müssen dafür zahlen. Meist ist das die jüngere Generation. Es wird umverteilt – von unten in die Mitte oder von unten nach oben. Es ging um Klientelpolitik.

45, leitet seit 2013 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) und ist Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität.

Woran machen Sie zunehmende Ungleichheit fest?

Viele Ökonomen bezweifeln, dass es eine steigende Ungleichheit gibt. Sie sagen: Seit 2005 ist die Ungleichheit beim verfügbaren Einkommen nicht weiter gestiegen. Aber das ist eine selektive Wahrnehmung. Denn bei den Löhnen ist die Schere deutlich auseinandergegangen. Ich habe zwei Kernbotschaften. Erstens: Die Ungleichheit in Deutschland ist ein großes, wirtschaftliches Problem. Sie macht den Wohlstand kleiner. Zweitens: Mehr Umverteilung ist nicht die Lösung.

Sondern?

Weniger umverteilen, mehr Chancengleichheit.

Damit sitzen Sie zwischen allen Stühlen.

Den ersten Teil meiner Kernbotschaften hören Linke sehr gerne. Sie sagen: Das haben wir schon immer gewusst. Sie hören den zweiten Teil nicht so gern, weil sie die Lösung bei noch mehr Umverteilung sehen: Wir müssen oben mehr wegnehmen, damit unten mehr ankommt. Liberale und Konservative hören nur den zweiten Teil gerne. Sie sagen: Wir brauchen einen effizienten Staat, nicht mehr Umverteilung. Dazu würde ich die meisten deutschen Ökonomen zählen.

Warum haben beide unrecht?

Seit den siebziger Jahren ist die Ungleichheit massiv angestiegen, während der Sozialstaat gleichzeitig größer geworden ist. Das Wachstum hat dagegen deutlich abgenommen. Der Staat macht also immer mehr, aber die Ungleichheit steigt trotzdem und das Wirtschaftswachstum schwächt sich ab. Der Schlüssel ist die fehlende Chancengleichheit. Wir haben eine sehr geringe soziale Mobilität. Jemand aus einem bildungsfernen, sozialschwachen Haushalt hat viel schlechtere Chancen als jemand, der Eltern mit hoher Bildung oder hohem Einkommen hat.

Das ist die Lieblingsphrase aller Politiker: Wir müssen mehr in Bildung investieren.

Wieso machen sie es dann nicht? Wir brauchen erstens: den Ausbau der frühkindlichen Bildung. In den ersten sechs Jahren des Lebens werden die Weichen gestellt. Der Ausbau der Kitas ist richtig, die Qualität muss aber deutlich verbessert werden, beim Betreuungsschlüssel etwa. Zweitens: Wir brauchen ein Schulsystem, das viel mehr Wert auf Betreuung legt, viel mehr Ganztagsschulen. Über 80 Prozent der Schulen sind keine wirklichen Ganztagsschulen.

Brauchen wir die Gesamtschule?

Wir brauchen mehr Durchlässigkeit im Schulsystem, damit die Chancen der Kinder, die sich spät entwickeln, nicht beschnitten werden.

Sie sind also für das dreigliedrige Schulsystem?

Da bin ich offen. Wenn ein dreigliedriges Schulsystem durchlässig ist, also ein Kind, das sich spät entwickelt, den Übergang von der Hauptschule auf die Realschule und aufs Gymnasium schaffen kann, dann ist es ok. Aber momentan ist das System nicht durchlässig. Wenn die Eltern entscheiden, das Kind auf die Hauptschule zu schicken, ist es vorbei.

Für den 40-jährigen Paketboten mit Mindestlohn kommt die bessere Bildung zu spät. Muss er in seinem Job bleiben?

Fortbildungen sind für Menschen im wachsenden Alter eine Option. Das ist natürlich in der Realität nicht einfach, weil die wichtigsten Grundlagen in Kindheit und Jugend gelegt werden. 8,50 Euro verdienen heute vor allem Menschen, die keinen Berufsabschluss haben, häufig noch nicht mal einen Schulabschluss.

Wenn Sie dafür plädieren, nicht mehr umzuverteilen, bekommt der Paketbote nur eine Armutsrente.

Sie verstehen mein Argument „weniger umverteilen“ falsch. Wenn Sie mehr Menschen eine Chance geben, für sich selbst zu sorgen und ihre Talente voll zu entwickeln, haben Sie viel weniger Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind. Weniger Umverteilung heißt nicht, Sozialleistungen zu kürzen, sondern mehr Menschen eine Chance zu geben, weniger vom Staat abhängig zu sein. Man kann die Gelder dann dafür nutzen, denen zu helfen, die sie wirklich brauchen. Letztlich brauchen wir eine zielgenauere Umverteilung.

Sie sagen, es wird zu viel umverteilt zugunsten von Leuten, die es nicht nötig haben. Welche Vergünstigungen für Besserverdienende sollten wegfallen?

Zum Beispiel das Ehegattensplitting. Dadurch entgehen dem Staat 20 Milliarden Euro im Jahr. Das Ehegattensplitting ist interessant für Paare, bei denen meist der Mann sehr viel Geld verdient und die Frau zum Schluss kommt, wenn ich auch arbeite, rechnet sich das für mich nicht.

Sie wollen mehr Wohneigentum für die Deutschen. Ist das nicht genau das, was in den USA zur Pleite von Lehman Brothers geführt hat: Man hat breiten Schichten einen Kredit für ein Haus gegeben, den sie in der Krise nicht abzahlen konnten.

Dass in den USA Banken mit Immobilienkrediten Missbrauch betrieben haben, heißt ja nicht, dass die Idee prinzipiell falsch ist. Im Gegenteil: Wir haben ein riesiges Vorsorgeproblem. Ein Eigenheim können Sie über viele Jahre selbst nutzen und es immunisiert gegen Mietpreisschwankungen, das gibt Sicherheit – vor allem im Alter. Darum geht es mir.

Das hört sich nach Riester 2.0 an. Alle, die ein zu geringes Einkommen haben, können sich ein Eigenheim selbst bei staatlichen Zuschüssen nicht leisten, weil die täglichen Ausgaben alles wegfressen.

Es werden sich nie 100 Prozent der Bürger ein Eigenheim leisten können. Aber ich rede hier über die Mittelschicht. Wir haben in Deutschland eine Immobilienquote von nur knapp 40 Prozent.

Die halten Sie für zu niedrig?

In fast allen anderen europäischen Ländern gibt es eine Quote von 70–90 Prozent. Bei uns haben die ärmsten 40 Prozent der Bürger praktisch kein Vermögen. Rund 50 Prozent haben im Schnitt 51.000 Euro Nettovermögen. In Italien sind es 170.000 Euro. Nun kann man sagen: Die anderen Europäer machen das falsch. Oder man kann sagen: Schauen wir mal, wie es woanders läuft und ob wir von unseren Nachbarn nicht auch mal etwas lernen können.

Vor einem Jahr haben Sie über den Ausgang der Griechenlandverhandlungen geschrieben: „Der Bundesregierung, allen voran Angela Merkel und Wolfgang Schäuble, gilt es Respekt zu zollen. Sie haben Größe und Weitsicht bewiesen.“

Die Bundesregierung hat in der europäischen Krise einen kühlen Kopf bewahrt und damit letztlich das Richtige getan. Ich würde den letzten beiden Bundesregierungen ein gutes Zeugnis beim Krisenmanagement in Europa ausstellen. Aber jetzt müssen wir vom Krisenmodus in Europa zu einer Zukunftsvision umschalten: Wie soll Europa in 15, 20 Jahren aussehen? Welche Reformen sind dafür notwendig?

Und – welche sind es?

Wir haben in Deutschland ein paar richtige Ideen. Wolfgang Schäuble will einen europäischen Finanzminister. Wir brauchen mehr Integration. Das sehe ich als den einzigen Weg für Europa.

Brauchen wir innerhalb Europas mehr Umverteilung? Zum Beispiel eine gemeinsame europäische Sozialversicherung?

Ich halte nichts von einer Transfer-Union, in der Deutschland der Zahlmeister Europas wird. Aber ich sehe Europa als eine Versicherungsunion, in der man in schwierigen Zeiten füreinander einsteht. Wovon auch Deutschland profitiert. Vor zehn Jahren war Deutschland der kranke Mann Europas. Dann haben uns die anderen Europäer über die Abnahme deutscher Exporte geholfen, aus unserer Krise herauszukommen.

Was ist mit der Austeritätspolitik?

Ich stehe zwischen der extrem konservativen fiskalischen Position Deutschlands und der vielleicht etwas zu expansiven Position Italiens oder Frankreichs. Das Problem der europäischen Fiskalpolitik war nicht, dass sie zu restriktiv oder nicht restriktiv genug war, sondern dass sie die falschen Prioritäten gesetzt hat.

Welche?

Sie hat die öffentlichen Investitionen zu stark zurückgefahren. Deshalb kommt Europa heute nicht aus der Krise. Ohne Investitionen schaffen Sie keine Beschäftigung. Ohne Beschäftigung schaffen Sie keine Einkommen, damit keine Steuereinnahmen, keine Erträge für Unternehmen wie Banken, die dann ihre faulen Kredite abbauen können. Deutschland hat hier mehr Fehler gemacht als viele andere europäische Länder.

Inwiefern?

Wir haben die öffentlichen Investitionen zurückgefahren und stattdessen Wahlgeschenke verteilt. Jeder sagt: Wir brauchen mehr Investitionen in Infrastruktur und Bildung. Wieso machen wir es nicht?

Warum machen wir es nicht?

Uns geht es zu gut. Wir haben das Gefühl: Jetzt können wir uns mal richtig was gönnen. Die Leute sind in Arbeit, weshalb sollen wir jetzt investieren? Dabei hätten wir gerade heute die Chance, Weichen für die Zukunft zu stellen. Aber wir sind dabei, sie zu verspielen.

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