piwik no script img

documenta in Kassel und BDS-BewegungEine Selbstverständlichkeit

Ulrich Gutmair
Kommentar von Ulrich Gutmair

Steinmeier kritisiert die documenta. Klar herrscht Kunstfreiheit – aber Kritik daran, wer nicht eingeladen wird, sollte möglich sein.

Steinmeier mahnte wieder, diesmal auf der documenta Foto: Swen Pförtner / dpa

D ie Lage im Nahen Osten ist kompliziert. Da gibt es nationalreli­giö­se Siedler, die ihren palästinensischen Nachbarn das Leben zur Hölle machen, und israelische Kampfpiloten, deren Muttersprache Arabisch ist. Da gibt es eine staatliche Besatzungspolitik und einen Richter muslimischen Glaubens am Obersten Gericht Israels. Da gibt es palästinensische Terroristen, die Passanten mit Küchenmessern ermorden, und einen wegen Korruption angeklagten israelischen Ex-Premier, der die Islamisten in seine Koalition holen wollte. Monty Pythons Satire „Das Leben des Brian“ war nicht übertrieben.

Die Lage im Nahen Osten ist kompliziert, aber das ficht all jene nicht an, die eine Meinung haben. Seit Jahren agitiert eine Allianz von Kulturbürokraten, Akademikerinnen und Aktivisten gegen den BDS-Beschluss des Bundestags. Dieser besagt, dass keine Organisationen finanziell gefördert werden sollen, die das Existenzrecht Israels infrage stellen. Rechtlich verbindlich ist der Beschluss nicht, aber für viele Menschen mit historischem Bewusstsein und emanzipatorischer Gesinnung stellt er eine Selbstverständlichkeit dar.

Frank-Walter Steinmeier hat anlässlich der Eröffnung der documenta fifteen an diese Selbstverständlichkeit erinnert: „Wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.“ Und es falle auf, „wenn auf dieser bedeutenden Ausstellung wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind“.

Der Wunsch der BDS-Bewegung, die einen Boykott israelischer Künstler und Wissenschaftler fordert, ist in Kassel womöglich in Erfüllung gegangen. Dagegen ist formal nichts einzuwenden. Es herrscht Kunstfreiheit in Deutschland. Kuratoren dürfen selber entscheiden, wen sie einladen. Aber sagen, dass es einem auffällt, das sollte doch möglich sein? Nein, nun wird der Bundespräsident geschmäht: Ein „Skandal“ seien seine Worte.

„Das Leben des Brian“ ist zwar nicht so irre wie die deutsche Nahostdebatten-Posse, aber amüsanter.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Ulrich Gutmair
Kulturredakteur
Kulturredakteur der taz. Hat Geschichte und Publizistik studiert. Aktuelles Buch: "'Wir sind die Türken von morgen'. Neue Welle, neues Deutschland". (Tropen/Klett-Cotta 2023).
Mehr zum Thema

33 Kommentare

 / 
  • Paula , Moderatorin

    Wir haben die Kommentarfunktion zu diesem Artikel geschlossen. Vielen Dank für die zahlreichen Beiträge.

     

  • Was ist Kultur? Kultur spiegelt das wieder womit sich eine Gesellschaft zentral beschäftigt.



    Die Gesamtheit der schöpferischen, künstlerischen, gestaltenden Leidenschaften einer Gemeinschaft. Eine Ausstellung darüber zieht natürlich das an, was eine Gesellschaft zentral beschäftigt.



    Genau das ist es. Die Documenta, mitten in Deutschland, spiegelt, wie so oft, in unserer heutigen Zeit das wieder, was am lautesten, am aggressivsten den menschlichen Verstand, niederbrüllt und niederbrennt, diese Documenta ist der Wiedergänger der Untote 9. November 1938 nichts weiter.

  • Die Documenta ist jetzt seit 2 Tagen offen.

    Mitten in einer deutschen Großstadt wird ein Transparent des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi aufgestellt, das Juden mit blutunterlaufenen Augen, spitzen Raffzähnen, krummer Nase, samt Kippot, Hut und Pejes. Auf dem Hut prangt eine „SS“ Rune, die „den Juden“ als Nazi und somit als das personifizierte Böse charakterisiert.

    Das muss diese "Israelkritik," von der auch hier im Forum immer wieder geschrieben wird... manche würden es als knallharten Antisemitismus bezeichnen.

    www.hna.de/kultur/...padi-91619901.html

    • @Sven Günther:

      Es war wohl nur eine Frage kurzer Zeit, bis es losgeht.

      Und jetzt beginnt die quälende Debatte, ob das Werk antisemitisch ist oder nicht.

      Für diejenigen, für die Antisemitismus erst in Auschwitz beginnt, wohl eher nicht.

      • @Jim Hawkins:

        Wenn das nicht antisemitisch ist, weiß ich nicht mehr weiter. Aber vielleicht bin ich auch nur nicht intellektuell genug, den Kontext zu erkennen, der es nicht antisemitisch macht.

        • @Nansen:

          Ich bin ganz bei Ihnen, es ist antisemitisch.

          Nur habe ich es selten erlebt, dass es bei Fällen wie diesem oder ähnlich gelagerten sich niemand bemüßigt fühlt, eben das in Abrede zu stellen.

          • @Jim Hawkins:

            Na die "Lösung" ist ja schon gefunden, das Werk soll in Teilen verdeckt werden. www.spiegel.de/kul...-9814-cbb941b7f04b

            Das ist zwar schon mehr als man von der 'Judensau' sagen kann, ist aber im Ansatz doch verfehlt. Im Ergebnis kann man sich als Küntler*in dann rantasten, wieviel Antisemitismus gerade noch geht, das Bild bleibt hängen, nur in Teilen eben verdeckt. Damit mag man sogar noch kokettieren: "Es war ja von Anfang an geplant, dass ein Teil verdeckt wird, damit wolle die kunstschaffende Person Art. 5 GG transzendieren und eine Debatte anstoßen".

            • @BluesBrothers:

              Und so wird aus der ganzen Geschichte eine Art Schnitzeljagd.

              Die Künstler weben den Antisemitismus auf eine Art in ihre Kunst ein, dass man ihn nicht sofort erkennt.

              Findet es einer heraus, dann hängen wir eben was darüber.

  • 6G
    655170 (Profil gelöscht)

    Setzten, Sechs.



    Thema verfehlt.



    Kann man zu diesem Kommentar nur sagen.



    1. Was hat die Documenta mit dem BDS-Beschluss bzw. der Kritik an ihm zu tun?



    2. Ganz abgesehen davon, dass man doch wohl auch diesen Beschluss kritisieren und ihn demokratisch bekämpfen darf, ohne hier diffamiert zu werden ("Seit Jahren agitiert eine Allianz von Kulturbürokraten, Akademikerinnen und Aktivisten gegen den BDS-Beschluss des Bundestags.").



    3. Nirgends auf der Documenta und von niemandem wurde und wird das Existenzrecht Israels infrage gestellt.



    4. Es ist keineswegs explizit Programm(punkt) der Documenta, irgendwelche Künstler wegen ihrer Staatsangehörigkeit auszuschließen - auch keine israelischen.



    5. Steinmeier (und leider auch manche Journalisten und Kulturredakteure) gehen in einer sehr zweifelhaften Allianz mit sehr zweifelhaften Presseorganen unreflektiert auf die Documenta-Macher los.



    6. Natürlich darf und soll man die Documenta, ihr Konzept und die Organisatoren kritisieren. Aber nicht auf so simple, reflexhafte, unzutreffende Weise und mit Platitüden wie Steinmeier und der Kommentar hier („Wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.“ - ja was denn sonst? Hat nur keiner getan!)



    7. Zur Lektüre seien die Beiträge der (jüdischen) Philosophin Susan Neiman empfohlen. Die sind erhellender zum Thema als Steinmeier, BILD und (leider auch) der hier. Einfach googlen.

    • @655170 (Profil gelöscht):

      Ja Susan Neiman und die Holocaust-Tagung »Hijacking Memory« ist wirklich "erhellend", da reicht schon das "EDIT: Der erste Absatz des Texts wurde gegenüber der ursprünglich veröffentlichten Fassung präzisiert. Die Veranstalterinnen haben darauf hingewiesen, dass nicht der Holocaust zum »jüdischen Psychodrama« erklärt wurde, sondern die jüdische Debatte darüber. Auch sei der Begriff »Kindermörder« nicht wörtlich gefallen, Tareq Baconis Aussagen liefen bloß darauf hinaus. Na dann."

      www.mena-watch.com...nstrumentalisiert/

      btw: "Setzten (sic), Sechs" das hat zumindest Unterhaltungswert.

  • Der unter "Skandal" verlinkte Kommentar von Elke Buhr erklärt den Standpunkt der Documenta eigentlich gut, es geht mitnichten darum Antisemitismus zu verbreiten. Daß Kunstfreiheit für Aktivisten oft munter aufgefaßt wird, könnte um einen Passus "Didaktik der Aufklärung" eventuell nachgerüstet werden. Mit dem Geschrei, jede Argumentation falle unter das grob gesagt perfide Gesetz des Antisemitismus, tun wir der Sache nichts gutes. Warum zu wenig israelische Aktivisten eingeladen wurden ist banal, es gibt schlicht keine.

  • Sollte möglich sein... War es auch. Shit Storm ist Meinungsäußerung. Dass das in einer Demokratie auch alle Vollidioten dürfen, sollte bekannt sein.

  • "aber Kritik daran, wer nicht eingeladen wird, sollte möglich sein."

    Das "sollte möglich sein" in der Überschrift ist völlig falsch! Es "muss möglich sein". Das ist eine der Grundlagen unserer Demokratie.

  • Eine Selbstverständlichkeit, die in Deutschland keine ist.

    Die Kulturfunktionäre vertreten die Position, dass ohne BDS, also ohne organisierten Antisemitismus eine Produktion von Kunst nicht möglich ist.

    So lassen sie auf der documenta die antizionistischen jungen Wilden des "Südens" auf die Pauke hauen und lassen sie sagen, was sie sich selbst nie erlauben könnten.

    Alles in allem, eine deutsche Schmierenkomödie.

    • @Jim Hawkins:

      Sie sind also mit ‚Bild’ der Auffassung es handelt sich um ein „Kunstmesse der Schande“ obwohl - und da halte ich mich doch an die in Kulturfragen kompetentere FAZ :



      „Steinmeiers Rede lässt denken, dass zahlreiche antiisraelische Po­sitionen in Kassel zu finden seien. Dabei gibt es auf der gesamten Documenta, an der über tausend Künstler teilnehmen, kein einziges Werk, das Israels Existenzrecht infrage stellt, und nach bisheriger Durchsicht nur eins, dessen Israel-Darstellung man em­pörend finden kann, Mohammed Al Hawajris „Guernica Gaza“.“ Soviel zu „auf die Pauke hauen“



      Es gibt viele Ausstellungen, bei denen israelische Kunst nicht vertreten ist jetzt zu konstatieren, dass das diesmal antisemitisch sei ist eine unverschämt Instrumentalisierung, es geht bei der Diskreditierung offenbar am Ende doch nur um die bekannt arroganten kolonialen Redeverbote. Das das ganze von den Enkeln persilgewaschener Täter kommt ist empörend.



      Jede Wette, dass sie, Herr H., noch nicht auf der Documenta waren, diesmal nicht und sonst wohl auch nicht…

      • @guzman:

        Und übrigens, ich war auf der documenta, allerdings nur, um eine schöne junge Frau mit meiner Weltläufigkeit zu beeindrucken.

        Hat geklappt.

        • @Jim Hawkins:

          Chapeau - Weltläufigkeit in Kassel - ? 🏴‍☠️



          Dat mußte erstmal hinkriegen! Gelle.



          &



          Seminarjungspund Steini vande Bellevue la deuxième is eh schon alllang nicht mehr zitierfähig •

          • @Lowandorder:

            Hey, wenn man von Marburg nach Kassel fährt, dann ist das schon was.

            Vor allem, wenn sie das Motorrad steuert und ich sie von hinten umklammern darf,ja sogar muss.

      • @guzman:

        Es ist zwar ein bisschen schlicht, mir BILD-Nähe unterzumogeln, aber wenn Sie es anders nicht hinbekommen, von mir aus.

        Wer Guernica mit Gaza gleichsetzt, der hat wohl mehr als ein Problem mit Israel.

        Das ist nichts anderes als der künstlerische gepimpte antisemitische Müll, der da sagt, dass die Juden den Palästinensern das antun, was ihnen von den Deutschen angetan wurde.

        Wer es sehen will, der sieht es, wer es nicht sehen will, der drückt die Augen zu und freut sich im Stillen, dass andere für ihn das sagen.

        jungle.world/blog/...guernica-nach-gaza

        • 1G
          164 (Profil gelöscht)
          @Jim Hawkins:

          Nun ist natürlich das "was [den Juden] von den Deutschen angetan wurde" nicht Gegenstand von "Guernica" von Pablo Picasso. Das Bild von 1937 ist eine Reaktion auf das Bombardement von Zivilisten in der Stadt Guernica durch die Legion Condor. Ja, das waren deutsche Flieger (und Verbrecher), keine Frage. Trotzdem ist die Aussage des Bildes schon ein bisschen allgemeiner. Deswegen finde ich die Assoziation "Bombardierung von Zivilisten" und "Guernica" ist grundsätzlich eine legitime.

          • @164 (Profil gelöscht):

            Israelische "Bombardierung von Zivilisten" ist eine Reaktion auf palästinensische Bombardierung von Zivilisten. Gab es da auch "Guernica Tel aviv"?

          • @164 (Profil gelöscht):

            Irgendwie kriegt man den Dreh dann schon hin.

            Ist wie mit dem Apartheid-Vowurf. Hanebüchen und falsch. Egal, er ist in der Welt man kriegt ihn nicht mehr raus.

            Merke: Kein Vorwurf ist grotesk genug, als dass man ihn nicht gegen Israel erheben könnte.

            • 1G
              164 (Profil gelöscht)
              @Jim Hawkins:

              In Gaza werden immer wieder Zivilisten Opfer israelischer Bombardements. Man kann das konstatieren ohne sich zum Antisemiten erklären lassen zu müssen.

              • @164 (Profil gelöscht):

                Allerdings haben die Nazis in Spanien nicht auf Raketenangriffe reagiert, oder?

                • 1G
                  164 (Profil gelöscht)
                  @Dr. McSchreck:

                  Nicht dass ich wüßte. Würdest Du Dich beschweren wenn man das Bombardement mit Hamas-Raketen mit Guernica vergliche? Zivilisten werden aus der Luft mit Sprengstoff beworfen. Da kann einem Guernica in den Sinn kommen. Nichts daran ist antisemitisch oder im Falle der Hamas anti-muslimisch. Guernica ist einfach die passende Ikone dafür.

              • @164 (Profil gelöscht):

                Hat ja auch keiner gesagt. Aber der Guernica-Vergleich ist unappetitlich und monströs.

                Wie gesagt, es gibt nichts, was zu perfide wäre, um es Israel nicht unterjubeln könnte.

                Es geht eben gegen den "Juden unter den Staaten" (Poliakov)

        • @Jim Hawkins:

          So von einem Ex-Tübinger zum anderen: danke!

          • @YeahYeah:

            Yeah!

      • @guzman:

        Danke für deine zwei treffenden, guten Kommentare hier unter diesen Artikel. Ich kann mich diesen nur anschließen!

  • Apropos „Kunstfreiheit“ —



    „Das ukrainische Parlament hat die Musik von Künstlern mit russischer Staatsbürgerschaft in der Öffentlichkeit verboten. Die Oberste Rada stimmte am Sonntag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für den Gesetzentwurf.



    In der Begründung des Gesetzes hieß es, dass das „musikalische Produkt des Aggressorstaats (Russland) auf separatistische Stimmungen in der Bevölkerung einwirken“ könne. Russische Musik würde die Annahme einer russischen Identität attraktiver machen und ziele auf eine Schwächung des ukrainischen Staates.



    Auch Import und Verbreitung von Büchern und anderen Printprodukten aus Russland, Belarus und den russisch besetzten Gebieten wurden nun komplett verboten. Seit 2016 unterlagen Bücher aus Russland bereits einer Zensur.“ (aus FAZ)

    • @guzman:

      Apropos Kriegszustand...

    • @guzman:

      1 prima EU-Beitrittskandidat…