Zukunft der Evangelischen Kirche: Im Namen des Events
Der deutsche Protestantismus versucht sich angesichts schwindender Mitgliederzahlen neu zu erfinden. Und dabei alte Traditionen nicht zu vergessen.
I m Rollköfferchen steckt Angelika Gogolins Talar, denn nach der Teambesprechung soll die Pastorin an der Binnenalster ein Paar segnen. Abends steht dann noch eine der Reeperbahn-Hochzeiten an. Kirchlich heiraten „mit einem Astra in der Hand, direkt am Tresen einer original Hamburger Kiezkneipe“? St. Moment macht’s möglich. Sünde und Segen – aufregend nah beieinander.
St. Moment, heiliger Moment also, so heißt die „Ritualagentur“, die in der Apostelkirche in Hamburg-Eimsbüttel ihre Büros hat. Mit individuell gestalteten Lebensfeiern wollen die Pastorinnen hier die Hürden zur evangelischen Kirche abbauen. Den Menschen, ihren persönlichen Wünschen und Orten näher kommen. Dafür packen die Pastoren auch mal den Koffer. „Weihnachten gut machen, die Kasualien gut machen“, sagt Angelika Gogolin. So könne man Kirchenferne erreichen. Kasualien, das ist evangelisch für Übergangsritus: Taufe, Trauung, Beerdigung.
In der bayrischen Landeskirche hat es mit der „Segen.Servicestelle“ angefangen, in Berlin gibt es mittlerweile das „Segens-Büro“. Dort wie hier im Norden geht es darum, mit stimmungsvollen Feiern die Menschen zu halten, vielleicht sogar ein paar neue zu gewinnen. Beides versprechen sich viele Pastoren auch von warmem Licht und weichen Herzen in den Weihnachtsgottesdiensten. Denn die Kirche hat es bitter nötig.
Deutschland ist das Land Martin Luthers und der Reformation, jahrhundertelang war die Elite im Land preußisch-protestantisch geprägt. Als „Kirche der Freiheit“, wie sie sich 2006 in einem Impulspapier nannte, gilt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vielen als die „gute“ der beiden Großkirchen. Frauen können mittlerweile alle Ämter bekleiden, auch mit Queers gehen die meisten der 20 Landeskirchen akzeptierend um. Doch wie ihre katholische Schwester bröckelt auch die EKD.
Feierliche Rituale, keine nüchternen Worte
Mitte November hat sie ihre sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vorgestellt. Das Ergebnis: Die Deutschen erwarten viel von der EKD. Etwa, dass diese konsequent Geflüchtete unterstützt. Doch die Kirchenbindung schwindet schnell. Selbst von den Nochmitgliedern verstehen sich mittlerweile rund ein Drittel als nicht religiös. Zumindest im traditionellen Sinn. Sexualisierte Gewalt spielt bei den evangelischen Kirchenaustritten bislang keine große Rolle. Im Januar aber soll die erste umfassende Missbrauchsstudie vorgelegt werden. Einen Aufschwung an Mitgliedern wird sie definitiv nicht bringen.
Den verspricht sich die Kirche des nüchternen Wortes ausgerechnet vom Feiern stimmungsvoller Rituale. Dabei steht mancherorts die große Tradition im Zentrum, an anderer Stelle wollen sie das Traditionelle gerade hinter sich lassen.
Angelika Gogolin, ihre Kollegen und Bürohund Kasi sitzen nach der Besprechung Anfang Dezember – Donnerstag ist Teamtag – noch bei einem schnellen Kaffee in der Kirchenküche zusammen. 10 Mitarbeitende hat St. Moment, neben den Pastorinnen und Verwaltungsmitarbeitenden auch einen eigenen Musiker. Das Wort „multiprofessionell“ fällt mehrmals im Gespräch.
Die Pastorinnen hier haben Spaß an ihrem Job. „Manchmal vergisst man, dass es Arbeit ist“, sagt Angelika Gogolin. Ihre Kollegen tragen bunte Schals und lustige Handschuhe, an der Tür des Büros steht „Co-Working“. Pastor Fabio Fried, Experte für Taufen, sagt: „Unsere Webseite ist SEO-optimiert, dadurch werden wir bei Google recht hoch geranked.“
Die Kirche ist nur noch ein Anbieter unter vielen
In den Straßen um die Apostelkirche, eine wuchtige Burg aus Backstein, reiht sich Laden an Laden. Auf dem Schaufenster der „Digitalen Tischlerei“ steht: „Always custom made“. Neben dem „Cheesecake Heaven“ kommt der „Brautschuppen“, um die Ecke die „Adam & Eve Beauty Lounge“. Der örtliche Bestatter heißt „Trostwerk“ und verspricht „andere Bestattungen“. Die evangelische Kirche – sie ist heute ein Anbieter unter vielen. Auch bei Babymessen, Hochzeitsmessen, Bestattungsmessen.
Eine Marktanalyse habe ergeben, dass eine Ritualagentur das Richtige sei für Hamburg, sagt Meike Barnahl, Gründerin und Leiterin von St. Moment, am Küchentisch. Die Anfragen, viele davon aus dem Umland und anderen Teilen Deutschlands, geben dem Ritual-Start-up recht. Die „Benchmark“ für das Jahr, die Zielmarke also, sei schon im Mai erreicht worden.
Im Radio hat Tobias Geiseler von den Kneipenhochzeiten gehört, die St. Moment anbietet. Geiseler, der als Koch arbeitet, und seine Freundin Sandra Albrecht hatten „schon lange geplant zu heiraten“. Dann kam Corona. Der Hörfunkbericht im vergangenen Mai ließ ihn direkt bei St. Moment anrufen, Angelika Gogolin stand für eine Trauung am selben Abend bereit. Im Windjammer, einer Kneipe an der Reeperbahn, die mit St. Moment zusammenarbeitet.
„Es war genau das, was zu uns passt. Wir sind spontan, lebenslustig, stoßen gern mal mit einem Bier an“, sagt Geiseler. Mit der Kirche haben er und seine Frau nichts am Hut, auch wenn Albrecht offiziell Katholikin ist. Auch die zwei Kinder der beiden hat Pastorin Gogolin im Windjammer gesegnet. „Ich war wirklich sehr ergriffen und den Tränen nah“, sagt Geiseler. Seit dieser Erfahrung habe er „mehr das Gefühl, dass Gott die Hand über einen hält“.
Nicht alle begrüßen die Innovationen
Ob er als ehrenamtlicher Fußballtrainer und glühender HSV-Fan nicht überlegt habe, im Volksparkstadion zu heiraten? Das bietet der Verein schließlich auch an. „Das kann man sich finanziell gar nicht leisten“, sagt Geiseler. „Bei uns fällt nicht viel ab.“
Meike Barnahl, Mitarbeiterin bei St. Moment
St. Moment bietet ein „Hochzeits-Paket“, ein „Tauf-Paket“, „Bestattungs-Paket“ und das Angebot „Fröhliche Weihnachten für traurige Menschen“ an Heiligabend. Kostenfrei, auch für Nichtmitglieder. „Es bekommt jeder, was er möchte“, sagt Barnahl. Ganz individuell. Nicht bei allen innerhalb der EKD kommt dieses Modell gut an. „Am Anfang gab es erheblichen Gegenwind, einige in der Kirche waren sehr angepikst von uns“, sagt Barnahl. Einige Gemeindepastoren sahen die Agentur als Konkurrenz. „Die dachten, wir nehmen ihnen ihre Schäfchen weg.“ Angelika Gogolin berichtet von der Angst vor zu viel „Halligalli“, vor Trauungen am Gleitschirm, beim Tauchgang. In diese Richtung habe es aber noch keine Anfragen gegeben. Gogolin scheint fast ein bisschen enttäuscht darüber. Dann muss sie los, zur Segnung an der Alster.
Fabio Fried weist auf das hin, was der schicke Instagram-Account von St. Moment nicht zeige: dass mit den Ritualen nicht nur „Halligalli“, sondern auch Seelsorge einhergehe, der Umgang mit Verlusten. „Die Leute bringen ihr Lebensthema mit“, sagt Fried.
„Es gibt keine Innovation, wenn es alle geil finden“, sagt Barnahl zur Kritik. In Hamburg habe sich das Miteinander allerdings verbessert, es gebe sogar Kooperationsanfragen. St. Moment biete schließlich auch den Gemeinden etwas an: Inspiration, Beratung für eigene Messestände, Hilfe bei eigenen Events.
Hier setzen sie auf eine Agentur, dort auf Architektur
Denn auch vor Ort fragen Menschen an, die Rituale wollen, aber keine engere Bindung an die Kirche. Heilige Momente, no strings attached, quasi. Von Pfarrern aus den Nobelvororten Hamburgs und anderer Städte ist zu hören, dass viele Wohlhabende aus steuerlichen Gründen nicht mehr Mitglieder seien, doch im Gegenzug für Rituale spendeten.
FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner etwa und die Welt-Journalistin Franca Lehfeldt. 2022 wurden die beiden auf Sylt von einer Pastorin getraut. Obwohl sie aus der Kirche ausgetreten sind und keine entsprechenden Steuern zahlen. „Man darf aber davon ausgehen, dass der Gemeinde keinerlei wirtschaftlicher Nachteil entstanden ist“, sagte Lindner, nachdem es Kritik an seiner „Gratismentalität“ gegeben hatte. Einer der Kritikpunkte: Selbst wenn Lindner spendet, bleibt das Geld auf Sylt und verteilt sich nicht in ärmere Gebiete der Landeskirche.
Und wo bleibt ohne Kirchensteuer die Sozialarbeit? „Die ist auch über Drittmittel finanziert“, sagen sie hier bei St. Moment. Und haben recht. Diakonie, Obdachlose: Die Kirche hat ihre soziale Arbeit großenteils in Unternehmen organisiert. Und fungiert dabei oft als Dienstleisterin für den Staat.
Wenn bei St. Moment in Hamburg die kirchliche Tradition ganz in den Hintergrund tritt, spielt sie in Lutherstadt Eisleben die zentrale Rolle. Das lässt sich die Kirche Einiges kosten. Die kleine Stadt in Sachsen-Anhalt mit 22.000 Einwohnern ist der Geburtsort des großen Reformators.
Es ist schon dunkel, doch der Weg in die Eisleber Innenstadt funkelt wie die Kieselsteine in Grimms Märchen. „Hier sind Lämpchen in das Pflaster eingelassen“, sagt Heiner Urmoneit. Sie weisen zu den Stätten, wo Luther als Sohn eines Hüttenpächters 1483 geboren und 63 Jahre später gestorben ist. Urmoneit stoppt vor einem Hauseingang, holt einen Schlüssel, und wenig später schließt der Pfarrer St. Petri auf, Luthers Taufkirche, seit 2012 zum „Zentrum Taufe“ erhoben, Urmoneits Arbeitsplatz.
Wenig später geht Urmoneit, elegant, als wär’s eine tägliche Übung, auf die Knie, taucht mit der Hand in das große Becken am Kirchenboden und lädt ein, es ihm gleichzutun. Auf der Innenseite des Beckens ist der Taufbefehl aus dem Matthäusevangelium eingelassen.
Urmoneit lässt die Hand im Wasser kreisen, in die Stille hinein plätschert es, als würde tief unten eine Quelle entspringen. Die Temperatur fühlt sich auch danach an. „Wenn eine Taufe ansteht, wird das Wasser erwärmt“, versichert Urmoneit. Und in den Fußboden ist eine Heizung eingebaut, die die ganze Kirche bei konstant 8 Grad hält.
Nicht nur bei der Heizung ist das „Zentrum Taufe“ bestens bestückt, auch bei der Schwimmbadtechnik, und das hat nicht nur hygienische Gründe. Es geht auch um Theologie. So ruhig, wie das Wasser jetzt wieder steht, ist es selten, sagt Urmoneit. „Taufwasser muss fließen.“ Man kann Säuglinge taufen und Erwachsene, man kann am See taufen, in der Kirche oder am Krankenbett, doch eines ist wichtig: Das Wasser muss fließen. Ob tröpfchenweise oder durch vollständiges Untertauchen, nur fließendes Wasser symbolisiert Leben und Neuanfang, so wie im Jordan, wo Jesus einst von Johannes getauft wurde. Um der Theologie zu entsprechen, ist im Untergrund einiges an Technik montiert. Während der Öffnungszeiten, erzählt Urmoneit, hält eine Pumpe das Wasser in Bewegung, filtert es und tauscht es aus. Einmal pro Woche kontrolliere ein Techniker die Anlage. Kurzum – man kann sich dem Brunnen anvertrauen, mit seinem Körper und mit seinem Geist.
Seit dem Umbau scheint die ganze Kirche von sanften Wellen erfasst. Die Bodenplatte, mit Wellenlinien ziseliert, lenkt den Schritt wie von selbst zum Taufbecken hinunter, aus dem wie aus einem blauschimmernden Auge reines Wasser glänzt, als gäbe es von hier eine wundersame Verbindung zum Baikalsee oder irgendeinem anderen Wunder der Schöpfung. Fünf Architekturbüros haben Entwürfe eingereicht, der aus Berlin hat den Zuschlag erhalten.
Aber wie gelangt man denn nun hinein in das göttliche Nass? Nur an Tauftagen führe eine Treppe in das 70 Zentimeter tiefe Wasser, sagt Urmoneit. Das verhindere, dass jemand – sei es aus Spaß, sei es aus Rührung – in das Becken steigt, um die eigene Taufe zu wiederholen, etwa weil man sie wie Luther als Säugling erfahren hat und keine Erinnerung daran hat. Die Taufe gibt es für jeden nur einmal, macht Urmoneit klar. Und sie bleibt gültig, ganz gleich, wie das Leben auch verläuft. Deswegen sind Wiedertaufen unerwünscht, Feiern allerdings, die an die eigene Taufe erinnern, sogenannte Taufgedächtnisse, sind Teil des Projekts.
Heiner Urmoneit, Pfarrer in Luthers Taufkirche
„Die Taufe in ihrer ganzen Bandbreite anbieten“ – so bekräftigt es Urmoneit an diesem Abend noch mehrfach, sei die Hauptaufgabe seiner Arbeit. Es klingt wie Werbung, doch Urmoneit ist alles andere als ein PR-Agent. Der 56-jährige Pfarrerssohn aus Magdeburg leitet das Taufzentrum seit 2018. Für die „ganze Bandbreite“ ist das neuartige Becken zentral. Es macht „Ganzkörpertaufen“ möglich, ein Ritual, das bisher eher Freikirchen und Orthodoxe praktizierten. Urmoneit holt Bilder hervor, sie zeigen drei Menschen im Becken, in der Mitte der Täufling im feierlichen, aber weltlichem Gewand, zu seiner Seite Pastorin und Pate ganz in Weiß.
Das „Zentrum Taufe“ mit dem zwei Meter zwanzig großen „Gewässer“ inmitten einer spätgotischen Kirche ist einzigartig innerhalb der EKD. Architektonisch scheint der rund 2 Millionen Euro teure Umbau gelungen, der zum großen Teil über Bundesmittel finanziert wurde. Zumindest ist die Kritik an der „Eventkirche“ verstummt.
Als „Badewanne“ hatte sie Friedrich Schorlemmer, der wortmächtige Luther-Apologet und Bürgerrechtler aus Wittenberg, geschmäht und geätzt, warum man die Taufe nicht gleich in einem Whirlpool veranstalte? Urmoneit, der die Lästerei des Kollegen kennt, sagt nüchtern: „Was gut ist für den Körper, ist gut für den Geist.“ Grundsätzlich zeigt sich Urmoneit, der hier regelmäßig mehrstündige Taufworkshops für Konfirmanden und Gemeindegruppen anbietet, offen für Neues.
Ja, Taufe habe auch einen Eventcharakter. War das nicht schon bei Johannes dem Täufer so? Ob er selbst Pop-up-Taufen veranstalten würde, also Spontantaufen wie die von Johannes, ohne vorherige Unterweisung? Wie die, die St. Moment an der Elbe abhält? Er überlegt. „Ich will das nicht ausschließen.“ In die Stille hinein Glockenklang. „Das 18-Uhr-Läuten“, sagt Urmoneit. Unter den Fußsohlen steigt langsam Dezemberkälte hoch.
Ob Whirlpool, Taufbrunnen oder klassisch an Luthers Taufstein, der auch noch in der Petrikirche steht – der Andrang zu dem Sakrament, das die Zugehörigkeit zur Kirche begründet und nach Luther von Tod und Teufel erlöst und „ewige Seligkeit gibt“, hält sich in Grenzen. 143 Taufen stehen nach zehn Jahren in den Kirchenbüchern, davon 84 im Brunnen.
Heiner Urmoneit ist lange genug Pfarrer in der Mitteldeutschen Kirche, die sich über Sachsen-Anhalt und Thüringen erstreckt, als dass ihn diese Zahl erschüttern würden. Die Kirche, an Fläche groß, an Mitgliedern arm, muss sich seit Generationen in einem kirchenfernen, ja kirchenfeindlichen Milieu behaupten, das die Kirchenpolitik der SED überdauert hat. Auch noch weit nach 1990 finden sich Jahre, in denen man die Taufen in der Stadt Luthers an einer Hand abzählen konnte.
Auf die Touristen immerhin ist Verlass. Neben den 300.000 Reformationstouristen, die in zehn Jahren neben Luthers Geburtshaus und Sterbehaus auch in der Taufkirche aufkreuzten, wirken die 143 Taufen dann doch mickrig. Überhaupt scheint es, dass die Kirche das Gottvertrauen verloren hat. Unmittelbar nach dem Jubiläum 2017 lief die Projektstelle aus, und das Taufzentrum, eben noch ein Leuchtturm der Mitteldeutschen Kirche, wurde dem Kirchenkreis Eisleben-Sömmerda überlassen. Ausgerechnet ein schwindsüchtiger Flecken auf der Landkarte des schrumpfenden Glaubens soll die Idee retten. Zählt der Kreis derzeit noch etwa 30.000 Kirchenmitglieder, könnte sich die Zahl bis 2023 mehr als halbiert haben, prognostiziert der Kirchenkreis. Acht Planstellen fielen weg. Der Tag könnte kommen, dass selbst in St. Petri Luthers „gnadenreiches Wasser“ versiegt.
Unter Urmoneit wird es noch fließen. Er kam 2018 in das Amt, seine „Kreispfarrstelle“ allerdings wurde mit weiteren Pflichten beladen. So ist Urmoneit kirchlicherseits auch noch für sämtliche Lutherstätten im Kreis zuständig und für die Konfirmanden- und Jugendarbeit. Vielleicht ist es gut, dass die Zahl der Taufen auch 2024 überschaubar bleiben dürfte. Ein Termin steht – eine Ganzkörpertaufe zur Osternacht.
Und vielleicht gibt es für das Taufzentrum noch ganz andere Perspektiven. Im Dezember 2022 wurde hier erstmals eine Trauerfeier veranstaltet, erzählt Urmoneit. Jens Bullerjahn, Sozialdemokrat aus Eisleben und langjähriger Finanzminister von Sachsen-Anhalt, war mit sechzig Jahren einer schweren Krankheit erlegen. Kurz vor seinem Tod äußerte Bullerjahn, kein Mitglied der Kirche, den Wunsch, seinen Abschied in St. Petri zu feiern. So ein Kirchenbau schenkt Trost.
Seit Generationen keine Kirchensteuer
Am nächsten Morgen steht in Sichtweite des Taufzentrums, wo am Abend der Fußweg funkelte, ein Endfünfziger mit Umhängetasche und Käppi, zieht an einer Kippe und erzählt detailliert, wie aus Kupferschiefer, dem Reichtum der Region, reines Kupfer gewonnen wurde. Was am Abend hier nicht zu erkennen war, ist jetzt in voller Größe zu sehen – ein Denkmal für den Bergbau im Mansfelder Land, bestehend aus einer mannshohen Seilscheibe, wie sie Fördertürme krönten, zwei kleine Loren mit Kupferschiefer und einer Stele. 1990 war mit dem Bergbau Schluss, erzählt Herr Stock, so stellt er sich vor. Und so wurde aus ihm, dem Bergmann, ein Türsteher, ein Rekultivierer und dann ein Verlagskaufmann.
Dass Luthers Eltern im Mansfelder Land ihr Glück suchten, lag einzig am Bergbau. „Arm war der Luther nicht“, fährt Stock fort und betet genauso detailliert wie die Verfahrenschemie Luthers Lebenslauf runter, bis zum Reichstag in Worms 1521. „Der Rest ist bekannt.“ Stock blickt mit grau-blauen Augen in Richtung St. Petri. Woher er das alles weiß? „Als Kind der Region sollte man das wissen“, sagt er trocken. Dann ist er wohl auch ein Kind der Kirche? Stock blickt, als hätte er sich verhört, und hebt dann an: „Mein Ururgroßvater war der Letzte, der Kirchensteuer gezahlt hat!“ Es klingt hörbar stolz. Und nun will er noch etwas loswerden. „Kennen Sie den Brief an den Weihnachtsmann von Erich Kästner?“ Was folgt, ist eine überaus betrübliche Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1930 – die der heutigen bedrückend nahe kommt. Der alte Bergmann rezitiert alle sieben Strophen fließend und schließt: „Komm, erlös uns von der Plage / Weil ein Mensch das gar nicht kann. / Ach, das wären Feiertage! / Lieber, guter Weihnachtsmann …“
Es klingt, ganz ohne Ritualagentur und Taufzentrum, wie ein tiefes Gebet, wie ein Seufzer – wie ein echter St. Moment.
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